Am Tag danach rollen Tränen über die Gesichter der Menschen in dieser kleinen Seitenstraße in der Gemeinde Illerkirchberg. Sie schluchzen, klagen, halten sich in den Armen – und können die Tat immer noch nicht fassen, die sich genau hier zu Wochenbeginn abgespielt hat. Vor ihnen leuchtet ein Meer aus roten Kerzen, auch Blumen und Grußbotschaften stehen an der niedrigen Mauer. Ein kleiner Teddybär sitzt zwischen den Kerzen, etwas weiter links steht eine Engelsfigur. «Hoffentlich bekommt der Mörder seine gerechte Strafe», steht auf einem handbeschriebenen Zettel. Auf einem Schild prangt die Frage: «Wann wird endlich reagiert?».
Unter dem Meer aus Kerzen und Mitgefühl ist noch die grelle Sprühfarbe der Polizei zu sehen. Damit wurden am Tag zuvor Spuren gesichert und Blutspritzer gekennzeichnet. Direkt gegenüber ist das heruntergekommene Flüchtlingsheim, in das der mutmaßliche Täter unmittelbar nach der brutalen Messerattacke auf zwei Mädchen flüchtete. Eine 14-Jährige ist im Krankenhaus gestorben, ihre 13 Jahre alte Freundin wurde schwer verletzt.
Deutschland lasse Flüchtlinge hier alleine, ohne Arbeit, ohne Zukunft, so die Meinung hier. Ihr tue deshalb auch der Täter leid, sagt sie
So frisch wie das Verbrechen ist auch der Schmerz in der 5000-Einwohner-Gemeinde südlich von Ulm. «Man kann nicht beschreiben, was hier passiert ist», sagt eine Frau, die diesen Schulweg auch immer mit ihrer Enkelin entlangläuft. «Wir wollen, dass unsere Kinder und Enkel hier friedlich leben.» Die Behörden hätten etwas tun können, Probleme rund um das Flüchtlingsheim seien im Ort bekannt gewesen, sagt die 59-Jährige, die türkische Wurzeln hat. «Wir sind aufgebracht und traurig.» Deutschland lasse Flüchtlinge hier alleine, ohne Arbeit, ohne Zukunft, so die Meinung hier. Ihr tue deshalb auch der Täter leid, sagt sie.
Die Tat von Illerkirchberg ist nicht nur ein schreckliches Gewaltverbrechen, sondern hat auch eine politische Dimension. Der Täter, ein 27 Jahre alter Mann, ist Asylbewerber aus Eritrea. Gegen ihn ist mittlerweile Haftbefehl wegen Mordes und versuchten Mordes ergangen, er ist verletzt in einem Justizvollzugskrankenhaus. Das Opfer wiederum hatte die deutsche Staatsangehörigkeit, aber auch einen türkischen Migrationshintergrund.
Die AfD nutzt den Vorfall unmittelbar für Stimmungsmache gegen Flüchtlinge. Von einem weiteren Messermord ist da die Rede und von einer fehlgeleiteten Migrationspolitik. Anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik kann man bisher keine Aussage dazu treffen, welche Rolle Flüchtlinge bei tödlichen Messerangriffen spielen. Bundestagsfraktionschefin Alice Weidel wirft der Regierung Heuchelei vor und fordert konsequentere Abschiebungen. Die Südwest-AfD plant bereits eine Protestkundgebung.
Dabei sind die Hintergründe der Tat noch vollkommen unklar. Der Verdächtige schweigt bislang zu den Vorwürfen, beruft sich auf sein Aussageverweigerungsrecht. Die zwei Männer, die neben ihm in dem Flüchtlingsheim festgenommen wurden, sind zwischenzeitlich wieder auf freiem Fuß, weil sie nicht länger unter Verdacht stehen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann appelliert am Dienstag, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Teils geschürte Stimmungen nehme die Landesregierung ernst, sagte der Grünen-Politiker. Die Polizei warnt vor einem Generalverdacht gegen Fremde oder Asylbewerber. Auch nach Innenminister Thomas Strobls Überzeugung darf die Tat nicht zu Hass und Hetze führen. Es gebe keine Hinweise auf eine politische oder religiöse Motivation des Täters, so der CDU-Politiker.
Der türkische Botschafter fliegt am Dienstag spontan aus Berlin in die schwäbische Provinz, um mit den Angehörigen des Mädchens zu sprechen, sein Beileid zu bekunden. Ahmet Basar Sen fordert eine lückenlose Aufklärung des Angriffs von den deutschen Behörden. Die türkische Gemeinschaft sei stark verunsichert, erzählt er beim Ortsbesuch. Strobl sichert restlose Aufklärung zu.
«Die Eltern haben Angst, die Großeltern, die Geschwister – alle haben Angst»
Beide, Botschafter und Innenminister, halten am Tatort für eine Gedenkminute inne. Viele Journalisten und Polizisten sind deshalb vor Ort. Zwei Kinder mit bunten Schulranzen bahnen sich einen Weg durch die wartende Menge, sie müssen hier vorbei, um zum Bus zu gelangen – so wie die beiden Mädchen am Tag zuvor. «Die Eltern haben Angst, die Großeltern, die Geschwister – alle haben Angst», sagt eine Anwohnerin.
Am Nachmittag lädt die Alevitische Gemeinde in Ulm, zu der die Familie des getöteten Mädchens gehört, zu einer Kondolenzstunde. Mehr als hundert Menschen sind gekommen. Sie stehen vor dem Gebäude Schlange, um der Familie im Gebäude ihr Beileid auszusprechen. Auch der türkische Botschafter ist gekommen.
Eine 41-jährige Frau steht vor der Tür und wirkt aufgewühlt. Sie kennt die Familie seit ihrer Kindheit, erzählt sie. «Jeder hier kannte sie.» Die Familie sei bereits in den 70er Jahren nach Deutschland gekommen und gut integriert gewesen. Die Frau spricht von einem strukturellen Problem. «Die Flüchtlinge werden irgendwo reingesteckt und allein gelassen.» Die Behörden dürften Asylbewerber nicht aus dem Blick verlieren. «Das ist nicht das erste Mal», sagt sie. «Diesmal hat es uns getroffen.» Von Nico Pointner, dpa
Nach dem Angriff auf zwei Schülerinnen in Illerkirchberg bei Ulm, bei dem eines der Mädchen tödlich und eines schwer verletzt wurde, ist Haftbefehl gegen den Verdächtigen erlassen worden. Dem 27-Jährigen wird nach Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft Mord sowie versuchter Mord vorgeworfen.
Wie die Ermittler am Dienstag mitteilten, äußerte sich der Mann bei der Vorführung in der Klinik, in der er sich wegen eigener Verletzungen befindet, nicht zu den Vorwürfen. Der 27-Jährige aus Eritrea sei nun in einem Justizvollzugskrankenhaus.
Der Verdächtige war mit erheblichen Verletzungen ins Krankenhaus gekommen und wurde stundenlang operiert. Bei der Vorführung in der Klinik machte der Mann gegenüber der Richterin keine Angaben. Das Motiv des Mannes ist daher weiter unklar. Erkenntnisse zu einer psychischen Beeinträchtigung des Verdächtigen lägen ihm bislang nicht vor, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft am Vormittag. Der Mann sei den Behörden bislang nie durch Gewaltdelikte aufgefallen – er sei lediglich einmal als Schwarzfahrer erwischt worden und sonst nicht polizeibekannt.
Der schwer verletzten 13-Jährigen gehe es auch psychisch nicht gut, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Das Mädchen habe zwischenzeitlich erfahren, dass seine Freundin getötet wurde. Auch für sie werde die Tat Folgen haben, betonte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU). Das grün-schwarze Kabinett im Südwesten widmete den Opfern der Gewalttat eine Gedenkminute. dpa
Zwei Mädchen auf dem Schulweg angegriffen, eins ist tot: Verdächtiger festgenommen
