Frühpädagogin Viernickel zur Situation in Kitas: Die Schere ist weiter aufgegangen

16

LEIPZIG. Ausgrenzung und Mobbing in Kita, Schule oder den sozialen Medien, Spannungen oder gar Gewalt in der Familie, überfordertes pädagogisches Personal – schon kleine Kinder sind in unserer Gesellschaft mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Diese stellen eine Gefahr für ihr gesundes Aufwachsen dar. Die Kindheitspädagogin Prof. Susanne Viernickel von der Universität Leipzig, über die noch immer spürbaren Auswirkungen der Pandemie, den Fachkräftemangel in den Kitas und den großen Einfluss der Elternhäuser auf die kindliche Entwicklung.

Die vermeintliche Idylle täuscht: Die Situation in den Kitas hat sich drastisch verschärft. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Frau Viernickel, was bedroht ein gesundes Aufwachsen unserer Kinder derzeit am meisten?

Susanne Viernickel: Das ist eine Frage, die man je nach Fokus unterschiedlich beantworten kann. Da ist zum einen der Klimawandel, eine sehr ernste und umfassende Bedrohung, von der wir noch nicht wissen, was sie für die heutigen Kinder bedeutet. Spürbar ist aber auch der Anstieg psychischer Belastungen bei Kindern durch die Corona-Pandemie und ihre Folgen. Da gibt es Verunsicherung, Überforderung und Spannungen in den Familien sowie eine gestiegene Zahl von Kindeswohlgefährdungen. Kitas mussten schließen oder boten monatelang nur Notbetreuung an. Dadurch fehlen vielen Kindern die Bildungsangebote der Einrichtungen.

Mit der Pandemie wurde die Schere zwischen Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und Kindern aus nicht benachteiligten Familien noch größer. Wir sorgen uns, weil dadurch auch der Anteil der Kinder steigt, die schon beim Eintritt in die Grundschule abgehängt werden.

Und es gibt auch noch das Problem mit dem Kita-System selbst. Die Beschäftigten dort sind am Limit, das System selber auch wegen des Fachkräftemangels und der Unterfinanzierung. Zudem ist das Kita-Personal teilweise schlecht qualifiziert. Die Fachkräftekataloge werden immer weiter aufgeweicht. Es werden beispielsweise sogenannte Alltagshelferinnen und -helfer in den Kitas angestellt, die gar nicht die entsprechende Ausbildung haben.

Hat sich die Bedrohungslage für die Kinder in den vergangenen Jahren gewandelt? Wenn ja, inwiefern?

„Das Wohlbefinden von Kindern hat in unserer Gesellschaft und auf der politischen Agenda nicht die höchste Priorität“

Susanne Viernickel: Die Lage hat sich zugespitzt. Wir wissen, dass in der frühen Kindheit die Weichen für eine gelungene Bildungsbiografie gestellt werden. Aber die Ressourcen in den Familien sind sehr unterschiedlich. Zum Ausgleich und für Bildungsgerechtigkeit brauchen wir gute Kitas und Unterstützungsangebote für die Familien. Allerdings tut sich da angesichts der krisenhaften Entwicklung der vergangenen Jahre mit den Einflüssen verstärkter Flucht- und Migrationsbewegungen und verfestigter Kinderarmut noch zu wenig. Das Wohlbefinden von Kindern hat in unserer Gesellschaft und auf der politischen Agenda nicht die höchste Priorität. Ich denke da nur an die Kita- und Schulschließungen während der Pandemie sowie die Diskussion um die Kindergrundsicherung in der jüngsten Vergangenheit.

Wo liegen konkret die Gefahren für Kinder im Elternhaus und in der Kita oder Schule?

Susanne Viernickel: Das Elternhaus hat im Positiven und im Negativen den größten Einfluss auf die kindliche Entwicklung, mehr als die Einflüsse außerhalb der Familie. Wenn es in den Familien schlecht läuft, die Kinder vernachlässigt oder gar häuslicher Gewalt ausgesetzt werden, wirkt sich das am schlimmsten aus.

In den Institutionen ist diese Gefahr insgesamt geringer. Da ist die formale Kontrolle viel stärker. Und da ist auch die emotionale Verstrickung weniger stark als in der Familie. Aber auch in den Institutionen gibt es Fehlverhalten von Pädagoginnen und Pädagogen, wenn Kinder beispielsweise zum Essen gezwungen werden. Das wurde lange Zeit tabuisiert. Seit einigen Jahren gibt es darüber aber mehr Diskussionen und Maßnahmen dagegen. Wir Forscherinnen und Forscher wollen, dass dieses Thema an die Öffentlichkeit kommt, wollen dafür sensibilisieren und die Träger der Kitas dabei unterstützen, Schutzkonzepte einzuführen. Ausgrenzung und Mobbing erfahren Kinder weniger zu Hause, sondern eher in der Kita oder in der Schule.

Sollten Eltern versuchen, möglichst viele unangenehme äußere Einflüsse von ihren Kindern fernzuhalten oder ist eine Konfrontation der Jüngsten damit sogar förderlich für deren Entwicklung?

Susanne Viernickel: Der Slogan „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ trifft nicht auf das frühe Kindesalter zu. Es wäre fahrlässig zu denken, die Kinder müssen schlimme Erfahrungen machen, um gestärkt zu werden für die Zukunft. Besonders junge Kinder kommen damit nicht zurecht. Allerdings können Eltern ihre Kinder im Alltag nicht vor allen negativen Emotionen schützen und ihnen alle Steine aus dem Weg räumen. Sie sollten ihren Kindern etwas zutrauen, sie eigenständig handeln lassen und ihnen nicht alles abnehmen. Sonst lernt das Kind: Ich schaffe es nicht allein.

Besser ist es, wenn Eltern ihr Kind ermutigen, vielleicht einen kleinen Hinweis geben, dass es die Aufgabe allein schafft. Dann überwindet es die Frustration, versucht es noch einmal und hat ein Erfolgserlebnis. Anders ist das beispielsweise bei Kriegsbildern im Fernsehen. Die sollten Kinder nicht ungefiltert ansehen – auch nicht in Anwesenheit der Eltern, denn die können die Bilder nicht steuern. Es gibt kindgerechte Materialien über Flucht, Krieg oder Trauer, die sich besser eignen, um mit Kindern über diese Themen ins Gespräch zu kommen, die nun mal leider zur Lebensrealität gehören.

Welchen Einfluss hat das Verhältnis von Kindern untereinander auf ein gesundes Aufwachsen?

Susanne Viernickel: Andere Kinder haben einen enormen Einfluss auf das gesunde Aufwachsen von Kindern. Meist sorgen sie für eine positive Entwicklung. Schon ab einem Jahr zeigen Kinder Interesse aneinander, tauschen Spielzeug aus. Später sind es Rollen- und Regelspiele, die für sprachlich-kognitive Prozesse wichtig sind, aber auch für die soziale und emotionale Bildung. Mit zunehmendem Alter werden Freundschaften immer wichtiger, dieser besondere Mensch, der auch das Gegengewicht zum Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern ist. Kinder sind füreinander eine ganz große Entwicklungsressource. Das wird häufig von den Erzieherinnen und Erziehern in den Kitas unterschätzt.

Natürlich gibt es auch Konflikte zwischen den Kindern. Sie lernen dabei, wie man sich behauptet oder dass man mal zurückstecken muss. So entwickeln sie soziale Kompetenz. Ausgrenzung und Aggression kommen in der frühen Kindheit eher selten vor. Dann sind Erwachsene wie die Eltern oder das Kita-Personal gefragt, die das im Blick haben und regulieren sollten. (Interview: Susann Huster)

Kita-Förderung: Kinder aus sozial schwächeren Familien bleiben öfter außen vor

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

16 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Trinkflasche
1 Jahr zuvor

Die erste Frage hätte sich auch ganz einfach beantworten lassen: Die Kinder- und Sozialfeindliche Finanzpolitik der FDP, insbesondere des Christian Lindner.

Welche Partei behindert und blockiert denn im politischen Prozess im Moment sozialpolitische Projekte, weil sie nun „Profil“ bei vier verlorenen Landtagswahlen zeigen will?

Kritischer Dad*NRW
1 Jahr zuvor
Antwortet  Trinkflasche

Nur an einer Partei zu fixieren?
Lese ich Bedrohungslage für das Wohlbefinden von Kindern hat keine Priorität weiß ich dies nicht klar zu deuten. Letztlich denke ich kann man aber alles auf eine jahrzehntelange Misere (Not, Kummer oder Leid) – fehlendes Geld – als Ursache ausmachen.

447
1 Jahr zuvor

Ob Kita oder Gymnasium:
Die Lage ist im Kern so einfach, dass man sie mittlerweile populistisch zutreffend beschreiben kann:

Grund 1: Nicht das Personal ist „überfordert“, sondern aus schlichtem Geiz ist so wenig davon angestellt worden, dass selbst grundlegende Aufgaben nur gerade so weit erfüllt werden, dass
a) Eltern nicht in großer Zahl
b) offen
dagegen rebellieren.

So ein knapp kalkuliertes Kartenhaus fällt bei einem externen Impuls (z.B. massive Krankheitswelle mit und nach Corona) natürlich zusammen.

Grund 2: Aus Gefälligkeit gegenüber dem Zeitgeist wurde Schule zur „Serviceanstalt“ umgebaut. Lehrkräft haben faktisch im Alltag KEINE rechtssichere Möglichkeit, Mobber und Co. zu bändigen, da ihnen alle Werkzeuge dazu von der Politik und der im Gleichklang arbeitenden Rechtsprechung aus der Hand geschlagen wurden und weiter werden.

Gerade sensible und schutzbedürftige Kinder sind so zusätzlich zu allgemeinen Risiken dem Schulhofmob (der nur eine kleine Minderheit darstellt und eigentlich leicht unter Kontrolle zu halten wäre) hilflos ausgeliefert.

Petra
1 Jahr zuvor
Antwortet  447

Und wieder mal sage ich: Geld ist nicht alles.
In den vergangenen Jahren wurde der Wert häuslicher Erziehung massiv in Frage gestellt und sogar die staatliche Krippenbetreuung von Babys und Kleinstkindern als grandiose frühkindliche Bildungserrungenschaft verkauft.
Mütter, die ihre Kinder in den ersten Lebensjahren noch selbst betreuen wollten, galten als bildungsferne Rabenmütter, die nur ihrem egoistischen Gluckentrieb folgten und damit den Kindern professionelle Bildung verweigerten.

Dieses kinderfeindliche Lügenmärchen stieß auf wenig Widerstand und wer ihn als Frau und Mutter wagte, wurde verhöhnt, u.a. mit NS-Vergleichen. Man sei wohl scharf auf einen Mutterorden wie zu Hitlers Zeiten, hieß es dann.

Wie die Wirklichkeit aussieht, sehen wir jetzt, und bei ihr spielt Geld tatsächlich eine erhebliche Rolle, um wenigstens nachhaltige Schäden in Grenzen zu halten.
Die dahinter stehende Ideologie existiert aber munter weiter, sehr zum Leidwesen unserer Kleinsten!

Ephraims Tochter
1 Jahr zuvor
Antwortet  Petra

Volle Zustimmung.

Ron
1 Jahr zuvor
Antwortet  Trinkflasche

Ich habe die FDP gewählt und bin mit ihrem bisherigen Regierungshandeln eher unzufrieden. Dass die FDP nun aber endlich klare Kante zeigt, ist ein Fortschritt und stoppt hoffentlich endlich die ideologischen Transformierer, die mir das Recht auf Haus, Heizung und Auto nehmen wollen, die Inflation anheizen und zunehmend Kinder und Bildung für ihre Ziele zu instrumentalisieren suchen. Wie sagte gerade eine Ergrünte: „Arbeit ist rechts“. Dem ist einfach nichts mehr hinzuzufügen.

Ron
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

„Länger arbeiten? Lieber die Reichen enteignen! Laut Grünen-Politikerin ist Arbeit „rechts““

Zu finden in der heutigen Welt-Online.

So ist das
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Hier die Hintergründe für “ Arbeit ist rechts “ ohne weltAufmacher

https://gruene-fraktion-nrw.de/presse/schaeffer-bund-muss-verantwortung-in-der-arbeit-gegen-rechts-wahrnehmen/

Es ist immer wieder interessant, wie restringiert argumentiert wird – um z.B. wie hier Parteipolitik zu rechtfertigen und pushen.

Das Ganze ist auch alles andere als Neu/land; hierzu

https://www.arbeitundleben.de/medien/publikationen/item/was-daran-rechts-ist

Carla
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Vielen Dank, Ron, für das Zitat. Es sagt alles.

Kennen Sie auch den über 20 Jahre alten Spruch von Oskar Lafontaine, in dem er im ideologischen Streit mit Helmut Schmidt die sogenannten Sekundärtugenden wie Ehrlichkeit und Fleiß in die Nazi-Ecke rückt?

„Mit Sekundärtugenden kann man auch ein Konzentrationslager betreiben.“

Der nur kurze Artikel in der WELT von damals ist ausgesprochen lesenswert, auch was Helmut Schmidts Ansichten zur „tatsächlichen Erziehung“ betrifft.

https://www.welt.de/print-welt/article450429/Fehlende-Tugenden.html

Ron
1 Jahr zuvor

„Da ist zum einen der Klimawandel, eine sehr ernste und umfassende Bedrohung, von der wir noch nicht wissen, was sie für die heutigen Kinder bedeutet.“

Ich hatte in der letzten Saison einen mehrtägigen Ausfall der Heiztherme bei 8 Grad Außentemperatur. Bei täglich sinkenden Innentemperaturen kam allen hier Wohnenden – auch den ökologisch Bewegten – die Erkenntnis, dass nicht der Klimawandel die unmittelbare Bedrohung ist, sondern die Kälte und die Tatsache, dass manche Entscheider davon träumen, das Frieren zum Dauerwunschprojekt zu machen. Vielleicht kommen unsere wirklichen Bedrohungen – auch die unserer Kinder – ganz woanders her.

Walter
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Heizungsausfall bei 8° C und die Kälte ist die wahre Bedrohung. Glücklicherweise platzen Rohre erst wenn es deutlich kälter wird.

So ist das
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

So ein Blödsinn.
Eine Heizung kann immer mal ausfallen. ( wer kann und schlau ist arbeitet mit Alternativen, Holzherd etc.)

Was hat der Klimawandel mit Ihrer maroden Heizung zu tun?
Vlt. haben Sie ja genauso wenig vorgesorgt wie der Mensch bezüglich Klima. Klar, Wartung, Hinschaun macht Mühe, ist aber nötig, wichtig – lästig?

Den Klimawandel gibt’s also nicht –
„dass nicht der Klimawandel die unmittelbare Bedrohung ist“ –

wird ja immer querer hier.

Ron
1 Jahr zuvor
Antwortet  So ist das

Es geht nicht um meine Heizung, sondern darum, dass sie nur ein paar Tage mal richtig frieren müssen, um zu erkennen, dass ganz andere Sachen als der Klimawandel ihr Leben bedroht. In der Ukraine können Sie sehen, wie man aus einem relativ guten Leben urplötzlich ins lebensbedrohliche Nichts von Kälte, Hunger und Stromlosigkeit abstürzen kann. Schon ein mittellanger Blackout würde auch bei uns Heizung, Banken, Lebensmittelversorgung, Energie und Treibstoffversorgung komplett zusammenbrechen lassen. Wie lange halten Sie – wie lange hält das unsere Wohlstandsgesellschaft wohl aus? Eine Woche bis Chaos ausbricht? Und mit Digitalradio plus angedachter digitaler Währung wird alles in den kommenden Jahren noch viel schlimmer. Da wird dann der Klimawandel unser geringstes Problem sein.

So ist das
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Wenn Sie den warmen Hintern des einzelnen immer weniger wissenden/ gebildeten Wohlstandsbürgers als vorrangiges Ziel sehen 😉
So sollten Sie ganz schnell einen Pakt mit der Natur/Umwelt schließen 🙂

Nur, diese erscheint zunehmend mehr nicht verhandlungsbereit zu sein, die macht einfach weiter, verhält sich nicht jahreszeitlich korrekt, zu heiß, zu trocken, bringt Viren hervor
und lässt sich von der Degenerierung des Normalwohlstandlers, einem „Blackout“oder „Digitaler Währung“ nicht beeindrucken, sowas aber auch.

Lieber Ron, Ihre Denkweise ist mir zu eng ( ich habe mich königlich über Bekannte amüsiert, die auf den großen Blackout warteten, der dann nicht kam. Unsere Primärversorgung hatten wir in wenigen Stunden alternativ gesichert, so what )

Sie können Natur und Umwelt schon als untergeordneten Faktor sehen, zu viele tun das.
„Wenn ich Sonne wäre, würde ich denen nichts mehr geben
( Solarenergie), Wasser kriegt ihr auch nicht mehr “ – sagte mein 9jähriges Nachbarskind. – als Impuls für Sie.

Lieber Ron, ich bleibe auf meinem Planeten und Sie auf Ihrem, wäre mein Vorschlag.