
«Grundschullehrer müssen heute drei bis vier differenzierte Materialien anbieten, so viele unterschiedliche Niveaus gibt es inzwischen in einer Klasse», berichtete Uehlein. Der Stadtstaat Hamburg (der bei der jüngsten IQB-Studie relativ gute Ergebnisse vorzuweisen hatte) engagiere sich in vorbildlicher Weise für das Lesenlernen. So seien dort unter anderem Sprachstanderhebungen schon mit 4,5 Jahren vorgeschrieben und danach verbindliche Fördermaßnahmen.
Leseförderung könne in Grundschulen dann etwa über Tandem-Lesen mit anderen Mitschülerinnen und Mitschülern, Stilllesezeiten oder Wortschatzübungen erfolgen und auch in unterschiedlichen Fächern praktiziert werden. Wichtig sei aber, dass es an jedem Tag einen Moment oder eine Phase im Unterricht gibt, wo Lesen eine Rolle spielt, erklärte Uehlein. Es sollte eine Art von Verbindlichkeit und Verlässlichkeit für die Kinder geben. Ideal wäre, wenn diese Übungen auch noch mit den Betreuungsangeboten am Nachmittag und mit dem Angebot in Ganztagsschulen verknüpft werden.
Wichtig sei in jedem Fall, das Interesse am Lesen zu wecken. «Lesekompetenz und Lesemotivation sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn die Leseflüssigkeit und -geschwindigkeit nicht reicht, wird auch kein sinnentnehmendes Lesen möglich», beschreibt Uehlein die Folgen.
«Rund 6,2 Millionen der 18- bis 64-jährigen Deutsch sprechenden Erwachsenen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben»
Genau daran hapert es aber allzu oft. «Vier von zehn Kindern im Alter von ein bis acht Jahren wird zu Hause selten oder nie vorgelesen», sagt Uehlein. «Rund 6,2 Millionen der 18- bis 64-jährigen Deutsch sprechenden Erwachsenen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.»
Dazu kämen viele andere Gründe: Unsicherheit oder Mangel an Vorbildern etwa. «Viele Eltern fühlen sich vom Vorlesen überfordert.» Andere hätten auch keine Zeit, keinen Raum oder keinen Spaß am Vorlesen. Andere wiederum seien der Meinung, ihre Kinder läsen nicht gerne oder sähen das als Aufgabe der Kitas und Schulen – oder ihnen fehle Material in ihrer Herkunftssprache. Auffällig sei, so Uehlein: «Insbesondere die männliche Perspektive fehlt.» Die Väter engagierten sich zu selten. Und diese Defizite haben durchaus Konsequenzen: «Was in den ersten sechs Jahren an Wortschatz und Spracherfassung nicht gelernt wurde, ist nur extrem schwer zu korrigieren.»
Nach Einschätzung der Fachleute ist es ein guter Weg, wenn Kindern jeden Tag 10 bis 15 Minuten vorgelesen wird. «Wir müssten den Kindern das Versprechen geben: “Wenn Du die Grundschule verlässt, kannst Du lesen”», sagt Uehlein. Vier von zehn Kindern verließen die Grundschule aber mit Schwierigkeiten beim Lesen – in der Pandemie habe sich dies weiter verschlechtert.
«Wir haben uns als Gesellschaft noch nicht klar gemacht, wie viele Kinder in Familien mit anderen Sprachen aufwachsen»
Deshalb würden nun in Kooperation mit sechs Kinderbuchverlagen neun beliebte Bilderbücher übersetzt und seien ab Herbst auch auf Arabisch, Farsi, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Türkisch und Ukrainisch zu haben. «Wir haben uns als Gesellschaft noch nicht klar gemacht, wie viele Kinder in Familien mit anderen Sprachen aufwachsen», sagte Uehlein. «Würde es das Buch nur auf Deutsch geben, würden diese Eltern gar nicht vorlesen», beschreibt sie die Zielgruppe. «Wir lassen zu viel Potenzial liegen, wenn wir sagen, für Dich gibt es nichts.»
Der Lesebegriff müsse zudem «aufgebrochen und vom Sockel geholt werden». «Es geht nicht um das gute Buch. Für jedes Kind und jeden Menschen gibt es die Geschichte, die passt», so Uehlein. «Es muss auch nicht immer ein Buch sein.» Auch mit digitalen Geschichten und in Media-Labs werde Lesen gefördert. «Bei Kleinkindern reicht es auch zu erzählen, was auf Bildern zu sehen ist – das ist auch Vorlesen.»
Nicht nur Eltern können vorlesen. Um mehr Lesepaten aller Altersstufen zu gewinnen, will die Stiftung Lesen am liebsten in allen Bibliotheken und Büchereien einen Hub einrichten, bei dem Leserinnen und Leser direkt angesprochen werden und nach einer kurzen Schulung eine Institution suchen könnten, um Kindern vorzulesen. News4teachers / mit Material der dpa