Tödlicher Unfall auf einer Klassenfahrt: Gericht beendet Prozess ohne Urteil

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VERDEN. Eine fünfte Klasse fährt für einige Tage weg. Doch der Schulausflug endet abrupt – ein Junge stirbt. Vor Gericht wird schnell klar: Auch ein Urteil kann den Schmerz nicht nehmen.

Das Gericht hat entschieden – aber nicht geurteilt. Foto: Shutterstock

it einer Hand umklammert sie ein graues Stofftier, dann schildert sie ihre Gefühle im Prozess um den tödlichen Unfall ihres Sohnes auf einer Klassenfahrt. «Wenn dein Kind stirbt, dann bekommst du lebenslänglich. Lebenslänglich, ohne jemals etwas verbrochen zu haben», sagt die Nebenklägerin mit tränenunterdrückter Stimme zu Prozessbeginn am Mittwoch. Vor mehr als vier Jahren kam ihr zehnjähriger Sohn auf dem Gelände eines Waldpädagogikzentrums in Schwaförden südlich von Bremen ums Leben. Diesen Schmerz kann auch ein Urteil nicht nehmen – das Landgericht Verden stellte das Verfahren unter Auflage vorläufig ein. (Aktenzeichen 4 Kls 6/23)

Nach Beschluss des Gerichts muss die Angeklagte eine Geldstrafe in Höhe von 4000 Euro an den Verein Kinder- und Jugendschutz Wolfsburg zahlen. Dafür habe sie vier Monate Zeit. «Wir halten es für angemessen, diesen Fall nicht mit einem Urteil zu beenden», sagt der Vorsitzende Richter. Die Staatsanwaltschaft hatte der Mitarbeiterin eines Waldpädagogikzentrums fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorgeworfen.

Das Unglück ereignete sich laut Anklage im Juli 2019 bei einem Schulausflug einer fünften Klasse aus Wolfsburg. Nach einer Frühstückspause im Freien tobten demnach zehn Kinder auf einer Lore auf dem Gelände des Waldpädagogikzentrums herum. Sie kletterten darauf herum, spielten auf den Schienen. Dabei soll der Zehnjährige hingefallen und von dem 400 Kilogramm schwere Wagen auf Brusthöhe überrollt worden sein. Er starb noch an der Unfallstelle.

Die fahrbereite Lore entsprach nicht den Sicherheitsvorschriften, wie die Staatsanwaltschaft kritisiert. Sie sei nicht als Spielgerät zugelassen. Als die Mitarbeiterin des Waldpädagogikzentrums die 28 Kinder und ihre 2 Lehrkräfte nach der Ankunft das Gelände gezeigt habe, habe sie die Lore mit keinem Wort erwähnt. «Die Angeklagte hätte das Spielen verbieten beziehungsweise auf die Gefahren hinweisen müssen», sagt die Staatsanwaltschaft.

Die Angeklagte zeigt vor Gericht Bedauern. «Ich habe mit einem solch tragischen Ereignis nicht gerechnet und es schlicht nicht für möglich gehalten», lässt die Försterin über ihren Verteidiger verlesen und kann dabei selbst die Tränen nicht zurückhalten. Die Lore werde schon seit vielen Jahren als Sitzgelegenheit genutzt, lange bevor sie dort überhaupt angefangen habe zu arbeiten.

Die 35-Jährige habe gerade mit ihrem Team Pause gemacht, als die Lehrkräfte und einige Schüler um Hilfe riefen, heißt es in der Erklärung der Angeklagten weiter. Sie habe sofort zwei Notrufe abgesetzt, einen Erste-Hilfe-Koffer geholt und sei zur Unglücksstelle gerannt. Mit einem Kollegen habe sie noch abwechselnd versucht, den Jungen zu reanimieren. «Leider waren unsere Bemühungen vergeblich.» Die Klassenfahrt wurde abgebrochen.

Dann begannen nach Angaben des Gerichts aufwendige Ermittlungen: Die Gerichtsmedizin untersuchte die Leiche des Jungen, die Polizei befragte Klassenkameraden. Doch wer trägt die Verantwortung für den Unfall? «Grundsätzlich kommen fünf Personen in Betracht», sagt der Vorsitzende Richter bei der Verhandlung: die beiden Lehrkräfte, der Leiter des Forstamtes und zwei Mitarbeiter des Waldpädagogikzentrums. Die Staatsanwaltschaft verfasste mehrere Anklagen, am Ende blieb das Verfahren gegen die 35-Jährige als Leiterin der Mehrtagesbetriebs am Waldpädagogikzentrum übrig.

Und auch in dem Prozess wird es nie ein Urteil geben. «Das ist ein Schlag ins Gesicht», sagt der Vater des Zehnjährigen, der mit seiner Frau als Nebenkläger auftritt. Er schüttelt den Kopf, dann stürmt er aus dem Gerichtssaal und schlägt die Tür hinter sich zu. Der Beschluss ist nicht anfechtbar. Von Mirjam Uhrich, dpa

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TaMu
4 Monate zuvor

Immer wieder werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Gericht gestellt, die in einer Einrichtung mit Kindern arbeiten, die ihnen nicht gehört, sondern bei der sie angestellt sind. Sie werden im Schadens- oder Todesfall eines Kindes für Mängel am bereit gestellten Inventar verantwortlich gemacht.
Wenn ich im Hof einer Autowerkstatt vom dort aufgestellten Christbaum erschlagen werde, geht dann der angestellte Mechaniker, der gerade mein Auto checkt, vor Gericht? Oder die Mitarbeiterin in der Buchhaltung? Sicherlich nicht.
Von solchen Hexenjagden höre ich ausschließlich im Zusammenhang mit Kinderbetreuungen. Das ist so emotional, da muss jemand schuldig gesprochen werden bei so viel Leid der Eltern. Irgend jemand muss als Gegengewicht ebenfalls durch die Hölle gehen.
Ich habe noch nie gehört, dass Mitarbeiter jeden Tag vor dem Öffnen des Geschäfts alle Möglichkeiten eines Unfalles aktiv ausschließen müssen. Die Mitarbeiterin des Waldpädagogikzentrums aber hätte wohl eigenhändig die seit einer Ewigkeit genutzte Lore prüfen müssen, von der bis zu dem furchtbaren Unfall noch nie eine Gefahr ausgegangen war?
Auch in diesem Fall wurde das schwächste Glied in der Kette geopfert. Dass sie nicht verurteilt wurde, ist gut, hat die Zerstörung ihrer psychischen Gesundheit aber vermutlich nicht verhindert.
Es entsetzt mich auch, dass durch einen solchen Unfall verwaiste Eltern immer öfter eine Verurteilung der Betreuungskraft wegen fahrlässiger Tötung fordern. Wäre das Kind zu Hause durch einen Unfall gestorben, würden sie dann auch den Partner, die Oma oder den großen Bruder im Gefängnis sehen wollen?
Ich kann dazu eigentlich nur sagen, lass die Hände von den Kindern anderer Leute. Mach beruflich etwas ohne Kinder. Du hast Todfeinde, wenn etwas passiert, auch wenn du keine Schuld hast. Und deine Arbeitsstelle schickt dich erbarmungslos in diesen jahrelangen Marathon. Wenn die Geräte deines Arbeitgebers einem Kind schaden, versteckt er sich gnadenlos hinter dir. Du gehst kaputt, weil dir der Unfall als nicht endender Alptraum zum Begleiter wird. Du machst dir selbst Vorwürfe.
Warum solltest du bei immer größeren Gruppen eine solche Verantwortung übernehmen wollen?
Du stehst allein, wenn etwas passiert und es gibt Menschen, die deine Verurteilung für ihren Schmerz brauchen.

Ich_bin_neu_hier
4 Monate zuvor
Antwortet  TaMu

Ich wünschte, ich könnte jedem Erwachsenen in Deutschland diesen Beitrag als Flugblatt in die Hand geben und ihn/sie zwingen, das Flugblatt auch zu lesen. Mehrfach.

TaMu
4 Monate zuvor
Antwortet  Ich_bin_neu_hier

Danke! Das wäre eine gute Idee. Dabei ist es so schade, denn die Arbeit mit Kindern war einmal schön, lohnend, erfüllend und positiv für die Kinder.

Angelika Mauel
4 Monate zuvor
Antwortet  TaMu

Die Arbeit mit Kindern ist immer noch schön, sinnvoll und erfüllend! Im Interesse des Kindeswohls und auch des eigenen müssen wir allerdungs vorausschauend denken und auch etwas in Frage stellen können, was schon jahrelang gut gegangen ist, funktionierr hat und was alle anderen okay finden.

Angelika Mauel
4 Monate zuvor
Antwortet  Ich_bin_neu_hier

Der Gedanke daran, andere „zwingen“ zu wollen, einen sehr emotionalen Text mehrfach zu lesen, zeigt, wie schwer es ist, rational über Unfälle nachzudenken.

Mir reicht einmaliges Lesen um zu wissen, dass ich den meisten der gelobten Aussagen nicht zustimmen kann. Ein Mechaniker beispielsweise hat keine „Aufsichtspflicht“ über die Kunden. Hätte er den Baum selbst jedoch schlampig aufgestellt, wäre selbstverständlich auch gegen ihn juristisch vorgegangen worden.
Von einer „Hexenjagd“ gegen Pädagogen kann angesichts vieler Einstellungen und zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen wirklich keine Rede sein. Wir haben kein Genuugtuungsstrafrecht wie es gerade der vorliegende Fall zeigt. Des Gericht hat eine Geldstrafe verhängt und das Verfahren ist nun beendet. Juristisch ist es nicht irrelevant, dass die Lore neben einem Spielplatz stand und nicht als Spielgerät zugelassen war. Ein Verfahren gegen den Vorgesetzten der Försterin wurde eingestellt, da das Gericht davon ausging, dass die Verantwortung auf die Hausleitung übertragen worden war.
Es ist wirklich tragisch. Dass „alle“ einer jungen Frau, die noch nicht so lange auf der Stelle ist, gröbste Fahrlässigkeit unterstellen, kann ich mir nicht vorstellen. Aber so tun, als sei es unbedeutsam, dass eine nicht den Sicherheitsanforderungen entsprechende Lore als Spielgerät genutzt wurde, wäre auch keine gute Lösung gewesen, oder?

JustGod
3 Monate zuvor
Antwortet  TaMu

Der Beitrag und der Vergleich mit dem Automechaniker sind lächerlich. Also hier geht es um Kinder und einen Ausflug mit erwachsenen Menschen die sich Pädagogen nennen. Da sollte man erwarten dürfen, dass einer von den Lehrkräften oder Angestellten zuständig ist. Es besteht eine Aufsichtspflicht. Ein bisschen mehr Mitgefühl für die Eltern bitte. Wenn es ihr Kind,Enkelkind oder sonstiges wäre, wären Sie da auch so drauf?Ich finde den Beitrag einseitig und unmöglich. Dass zumindest eine Absperrung eines 400kg schweren alten Lore in Frage gestellt werden sollte ist doch klar. Sich jetzt über die Eltern aufzuregen und sich als Lehrkraft oder Pädagoge als Opfer des Systems zu sehen, ist unmöglich! Hallo! Hier haben Eltern ihr Kind verloren weil Erwachsene, egal wer nun, nicht aufgepasst haben. Die Eltern waren nicht da, sonst hätte man diese zur Verantwortung gezogen. Wenn die Verantwortung nicht übernommen werden kann oder möchte, sollte man sich wirklich einen anderen Beruf aussuchen.
Denn die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen die die Aufsichtspflicht haben. Eine 400 kg schwere Lore ist kein Spielzeug. Mitarbeiter sollten so etwas prüfen und darüber informieren. Ich habe schon öfter gehört, dass so etwas gemacht wird, daher verstehe ich nicht warum sowas hier in Frage gestellt wird. Der Beitrag ist sehr kaltherzig den Eltern gegenüber.

Angelika Mauel
4 Monate zuvor

Wozu ich Fachkräften, die mit Kindern an einen Ausflugsort fahren möchten, dringendst raten möchte: Vor der Anmeldung schriftlich anzufragen, ob Sie etwas wissen müssten, was sie in Ausübung der Aufsichtspflicht berücksichtigen müssen. Sinnvoll – und früher nicht unüblich war, dass Fachkäfte sich den Ausflufsort sogar vorher angesehen haben! Das ist immer noch etwas anderes, als ein möglicher online-Rundgang. Grundsätzlich konkret fragen, ob Stellen, die von den Kindern nicht genutzt werden dürfen, erkennbar abgesperrt sind! Wo dürfen die Kinder spielen, wo nicht? Schon Kindergartenkinder (die natürlich trotzdem beaufsichtigt werden müssen) verstehen, dass sie an dem mit Flatterband abgetrennten Spielfgerät bis zur Freigabe nach einer Reparatur nicht spielen dürfen. Indem wir im Alltag ab und an ein paar Regeln festlegen, die die Kinder respektieren sollen, lernen wir sie ein Stück weit besser kennen. Wer hält sich dran, wer nicht? Auch können wir – je nach dem Alter der Kinder – vorab schon einiges erklären. Und entscheiden, ob wir mehr Kräfte für die Aufsicht brauchen.

Es kann und muss wirklich nicht in jedem Fall ein „Schuldiger“ ermittelt werden. Droht eine Verurteilung, würden unter Umständen sehr unbequeme Fragen zum Verhalten der Kinder gestellt werden. Warum ist der Junge hingefallen? Wurde er gejagt oder sogar geschubst?
Dass die fahrbereite Lore nicht den Sicherheitsvorschriften entsprach und nicht als Spielgerät zugelassen war, hätte den Betreibern des Waldpädagogikzentrums wirklich auffallen können, wenn es denn üblich gewesen wäre, dass Fachkräfte gezielt Fragen gestellt hätten.

Bitte legt einfach wieder mehr Wert auf Eigenverantwortung und geht bloß nicht davon aus, dass überall alle Vorschriften eingehalten würden. Nicht alle tragischen Ereignisse sind unvermeidbar, aber viele eben doch.