DÜSSELDORF. Ein Lehrer schickt sich an, Nachfolger von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) zu werden: Jochen Ott, Fraktionschef der SPD im Düsseldorfer Landtag – und damit Oppositionsführer –, will die Sozialdemokraten in ihrem früheren Stammland wieder zu alter Größe führen. Einen Vorteil hat er gegenüber dem Juristen Wüst: Kompetenz in der Schulpolitik. Wir sprachen mit Ott über die Herausforderungen, vor denen NRW und Deutschland dabei stehen, und über mögliche Lösungen. Teil eins des Interviews, das News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek führte.
News4teachers: In Ihrer Vita auf der Seite der SPD-Fraktion heißt es: „Der Vater von drei Töchtern unterrichtete an der Gesamtschule in Brühl Geschichte, Sozialwissenschaften und katholische Religion. Den Traumberuf an der Schule hat er seitdem ruhen lassen.“ Herr Ott, wenn Sie die aktuelle Situation an Schulen betrachten, sind Sie da nicht doch froh, dass Sie derzeit ein Büro im Landtag haben?
Ott: Ich bin total gerne Fraktionsvorsitzender der SPD in Nordrhein-Westfalen. Das ist eine spannende Aufgabe, mit der ich Verantwortung übernehme – und etwas für meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen sowie für die Schülerinnen und Schüler bewirken kann. Trotzdem war Lehrer immer mein Traumberuf. Nirgendwo gibt es eine so unmittelbare, ehrliche Feedbacksituation wie in der Schule. Du kommst rein, hast einen Pickel auf der Stirn – und du bekommst den ersten Spruch. Wenn du morgens nicht ganz frisch wirkst, sagen die Schülerinnen und Schüler in der fünften Klasse dir: „Du hast schlecht geschlafen.“ Oder: „Deine Haare stehen zu Berge.“ Die Kinder fühlen sofort mit dir. Und wenn du menschlich mit ihnen umgehst und ihre Würde wertschätzt, geben sie viel zurück. Das hat mich all die Jahre in der Schule getragen. Es gab zwar auch schwierige Situationen, Stress und nicht so schöne Dinge, aber im Großen und Ganzen war es für mich ein wirklich toller Beruf.
News4teachers: Kürzlich fand ein großer SPD-Parteitag statt. Ich nehme an, Sie waren dabei. Zur Bildungspolitik wurde ein umfangreicher Beschluss zur Bildungspolitik gefasst. Darin heißt es unter anderem: „Wir wollen ein Bildungssystem, das im gemeinsamen Lernen jede und jeden individuell fördert.“ Wollen Sie die Strukturdebatte wieder aufnehmen?
Ott: Also, die schulpolitische Lage in ganz Deutschland ist zunächst einmal sehr unterschiedlich, weshalb ein Antrag auf Bundesebene immer programmatisch ist. Jedes Bundesland hat seine eigenen Bedingungen. In Nordrhein-Westfalen ist die Situation jedoch besonders komplex – wir haben hier praktisch kein klares Schulsystem mehr. Ein Schulsystem sollte eigentlich etwas Nachvollziehbares und Klares sein, das jeder verstehen kann. Doch in Nordrhein-Westfalen können die meisten Menschen nicht einmal alle existierenden Schulformen aufzählen, einschließlich der Schulministerin. Untersuchungen zeigen, dass es 39 verschiedene Kombinationen von Schulformen in NRW gibt. Das bedeutet, dass, wenn Sie innerhalb des Bundeslandes umziehen möchten, es sein kann, dass die gewünschte Schulform an Ihrem neuen Wohnort gar nicht existiert. Dies erschwert nicht nur Umzüge innerhalb von NRW, sondern auch deutschlandweit. Im Gegensatz dazu haben Länder wie Hamburg eine klare Struktur mit einem Zweisäulenmodell.
Die zentrale Frage, um die es am Ende geht, ist, ob wir auf Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse einen Weg finden können, um Schulstreits zu überwinden und das Bildungssystem vernünftig weiterzuentwickeln. Daher hat die SPD-Landtagsfraktion eine Enquetekommission beantragt, die im September begonnen hat. Ihre Aufgabe ist es, die Schnittstelle zwischen Kita, Grundschule, weiterführender Schule und beruflicher/akademischer Bildung zu beleuchten. Diese Kommission wird sich etwa zwei Jahre lang mit vielen relevanten Themen befassen, wobei das erste Jahr sicherlich der Wissensaufnahme gewidmet ist und im zweiten Jahr Vorschläge erarbeitet werden. Die SPD hat Professorin Bellenberg als Sachverständige benannt, die Grünen Professor El-Mafaalani. CDU und FDP müssen ihre Vertreter noch bestimmen.
Enquetekommissionen sind immer darauf ausgerichtet, Einvernehmen zu erzielen und gemeinsam an der Entwicklung der Zukunft zu arbeiten. Dieser Weg ist aus unserer Sicht daher der richtige. Für die Eltern spielt die konkrete Schulform heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist die Frage nach dem sozialen Umfeld der Schule, den Kontakten der Kinder und den Chancen, die das jeweilige Umfeld für die Zukunft ihres Kindes bietet. In einigen Teilen des Landes bevorzugen Eltern Gesamtschulen, während in anderen Teilen Gymnasien oder Sekundarschulen gewählt werden. Die Vorstellung von einem Schulformkampf ist längst überholt. Eltern berücksichtigen auch die unterschiedlichen Qualitäten in den Kollegien, wenn sie ihre Kinder anmelden. Angesichts der Ernsthaftigkeit der Lage sollten wir keine Gräben mehr aufreißen.
News4teachers: Bedeutet das, dass Sie den bisherigen Schulkonsens, der ja in Nordrhein-Westfalen zwischen allen staatstragenden Parteien geschlossen wurde und der den alten Streit um die Schulstruktur beendet hat, aufkündigen wollen?
Ott: Aufgekündigt haben ihn die CDU und Grüne. Der Schulkonsens gilt bis 2023, also bis Ende dieses Jahres. Aktuell läuft er quasi aus. Ich habe im Januar, im März, nach der Sommerpause und zuletzt gestern mehrmals angeboten, einen Schulkonsens 2.0 weiterzuverhandeln. Aus meiner Sicht sollte dieser vor allem die Schulfinanzierung betreffen. Hier haben wir einen New Deal vorgeschlagen, um zu klären, wer in den kommenden Jahren welche Kosten übernimmt, insbesondere in Bezug auf Ganztagsbetreuung.
Meiner Meinung nach sollte ein neuer Schulkonsens auch festlegen, dass alle Kinder mit viereinhalb Jahren im Rahmen eines Screenings getestet werden, wie es in Hamburg gemacht wird. Danach sollten sie bedarfsgerecht gefördert werden, damit sie überhaupt schulfähig werden können. Grundschullehrer*innen können nicht weiterhin damit belastet werden, Kinder in den Schulen zu haben, denen die Grundlagen für die Schulen fehlen.
News4teachers: Wer soll denn die Förderung übernehmen? Die Kitas leiden ebenfalls unter Fachkräftemangel.
Ott: In Hamburg hat man sich diese Frage auch gestellt und Bildungssenator Ties Rabe rät, dabei nicht ideologisch vorzugehen. Es geht darum zu prüfen, an welchem Ort, also in welcher Kommune, die Kita oder die Schule besser geeignet sind. Manchmal geht es einfach nur um den verfügbaren Platz. Die Hamburger haben geraten: „Legt es nicht ideologisch fest. Die Vorschule muss nicht immer an der Schule oder immer in der Kita sein.“ Stattdessen sollte eine Qualitätsnorm formuliert werden. Wir wissen jetzt, dass es wichtig ist, förderbedürftigen Kindern im Jahr vor der Einschulung – wir möchten von einem Chancenjahr sprechen –, motorische Fähigkeiten und Sprachkompetenz zu vermitteln, damit sie mit sechs Jahren am Unterricht teilnehmen können.
Das sind meiner Meinung nach Dinge, die in einen neuen Schulkonsens einfließen sollten. Die Frage der Schulstruktur, die im ersten Schulkonsens maßgeblich war, sehen wir nun in der Enquete gut aufgehoben. Die Enquete bietet Politikerinnen und Politikern die Möglichkeit, hinter verschlossenen Türen über Fakten zu diskutieren, und nicht nur Schlagworte auszutauschen, die sie schon seit 50 Jahren immer wieder gehört haben. Daher schlagen wir vor, dass die Enquete die nächsten zwei Jahre in Ruhe arbeitet, und dann schauen wir, was dabei herauskommt. Mit Blick auf die Ressourcen könnten Systeme, die unser im Grunde systemloses System ersetzen, möglicherweise kostengünstiger sein und dennoch bessere Ergebnisse erzielen.
News4teachers: Anfang Dezember ist die PISA-Studie erschienen. Waren für Sie überraschende Erkenntnisse dabei?
Ott: Nein. Ich wurde im letzten Sommer oft beschimpft, weil ich die Bildungskatastrophe offen angesprochen habe. Es hieß, es gebe keine Katastrophe, wir würden schwarzmalen. Wenn jedoch 20 Prozent eines Jahrgangs mit 15, 16 Jahren nicht ausbildungsreif sind, also ein Fünftel, und diese Zahl laut PISA in manchen Milieus auf 40 Prozent ansteigt, im Schnitt auf 25 Prozent, dann kann das schon aufgrund des Fachkräftemangels nicht akzeptiert werden. Das muss ein Alarmsignal sein. Wie sollen wir die Transformation der Gesellschaft und den klimaneutralen Umbau bewältigen, wenn wir keine intellektuell und handwerklich qualifizierten Frauen und Männer haben? Wenn 30 Prozent eines Jahrgangs nicht lesen, rechnen und schreiben können, wo führt das hin? Die Ministerin (NRW-Schulministerin Dorothee Feller, CDU, die Red.) sagte beim Städtetag: Die Studien werden nächstes Jahr noch schlechter ausfallen und wahrscheinlich auch in zwei Jahren nicht besser werden – weil wir noch eine Strecke gehen müssen, es dauere eben. Ich sage: Wenn das Haus brennt, musst du es löschen. Du kannst nicht sagen, dass vielleicht morgen auch noch der Giebel abbrennt und dann schauen wir weiter. Wir müssen jetzt handeln.
Die einzige kurzfristig realistische Chance besteht meiner Meinung nach darin, bestehende Angebote in den Kommunen stärker zu bündeln. Kommunen könnten beauftragt werden, sich in Absprache um alles zu kümmern, was mit Gesundheit, Sozialem, Kinder- und Jugendhilfe zu tun hat. So könnten Lehrer entlastet werden, um sich auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren. Ein Beispiel dafür ist das Familiengrundschulzentrum in Köln-Ostheim, das seit letztem Schuljahr eine Krankenschwester als Gesundheitshelferin hat. Die Schulleiterin sagte, dies sei die größte Entlastung für das Kollegium seit 20 Jahren, obwohl die Krankenschwester nur eine halbe Stelle hat. Ihre Aufgabe besteht darin, bei Problemen im Umgang mit Kindern und Eltern, insbesondere in psychologischen und gesundheitlichen Situationen, die Vernetzung mit der kommunalen Verwaltung sicherzustellen. Diese Arbeit nimmt den Lehrkräften so viel Druck ab, dass sie sich entlastet fühlen. Mit wenig Aufwand könnte man also viel erreichen. In einem neuen Bündnis mit den Kommunen könnte man sagen: „Ihr kümmert euch darum, wir kümmern uns um das, und das vereinbaren wir in einem Staatsvertrag.“ Das könnte uns einen Schritt weiterbringen.
News4teachers: Also die multiprofessionelle Schule als Antwort auf die PISA-Herausforderung?
Hier geht es zu Teil zwei des Interviews.
