Geschwister 2.0: Wie sich Familiengrößen in der modernen Welt wandeln

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BERLIN. Familien mit vielen Kindern sind in Deutschland heutzutage mittlerweile die Ausnahme – und sie werden wohl noch seltener werden. Die Geburtenrate bricht jedenfalls aktuell ein. Eine wachsende Geschwisterarmut dürfte Folgen haben.

Ein mittlerweile sehr seltendes Bild: die Großfamilie (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Ob Rivalität, Eifersucht oder ewige Freundschaft – Verbindungen zwischen Geschwistern sind so vielfältig wie das Leben selbst. Es gibt kaum jemanden, der so egoistisch und ehrlich zugleich sein kann wie sie. Experten zufolge ist die Verbindung sogar eine der bedeutsamsten sozialen Beziehungen überhaupt.

Und so wichtig dieser Bund auch ist, geht das im Alltag oft unter. Die US-Amerikanerin Claudia Evart wollte das ändern – und führte zum 10. April den Welttag der Geschwister ein. Die Idee dazu hat leider einen traurigen Hintergrund: Evart verlor ihre älteren Geschwister Lisette und Alan durch tragische Autounfälle. Als Datum wählte Evart den Geburtstag ihrer verunglückten Schwester Lisette.

Emmanuel Gottschalk ist mit sechs leiblichen Geschwistern aufgewachsen. Einem Bruder und fünf Schwestern, sie sind nun zwischen 16 und 30 Jahre alt. Schaut man sich die Größen heutzutage an, sind Familien mit mehr als zwei oder drei Kindern schon etwas Besonderes.

Ein volles Haus war für den 26-Jährigen schon damals Alltag gewesen. Verstanden hat er sich trotz der vielen Familienmitglieder mit allen «sehr, sehr gut» – Rivalitäten gab es da eher weniger. «Klar, so kleinere Streitereien kamen immer mal vor», erinnert sich der Berliner Student. Das Verhältnis könne auch mal durch Meinungsverschiedenheiten getrübt werden. «Aber da habe ich jetzt auch keine starken Erinnerungen dran, dass die jetzt irgendwie sehr präsent ausgetragen wurden.»

Beziehungen zwischen Brüdern und Schwestern sind individuell

Nach Einschätzung der Soziologin Anja Steinbach von der Universität Duisburg-Essen sind Geschwister in Bezug auf die individuelle Entwicklung, emotionale Bindung und gegenseitige Unterstützung in ganz besondere Weise relevant. Die Mehrheit der Menschen habe Geschwister und mache die Erfahrung dieser ganz besonderen Familienbeziehung, die in der Regel die längste des Lebens darstelle, schreibt sie gemeinsam mit Karsten Hank von der Uni Köln in einem Fachartikel im Handbuch Familiensoziologie. Sie spiele nicht nur an sich eine ganz besondere Rolle im Lebensverlauf, sondern sei darüber hinaus eingebettet in ein Geflecht aus Verbindungen des weiteren Familiensystems – insbesondere in die Eltern-Kind-Beziehungen.

Doch wie erleben junge Menschen heutzutage das Aufwachsen mit vielen Kids im Haus? Warum die Familie Gottschalk so groß geworden ist, hat letztlich einen einfachen Grund: «Aufgrund des religiösen Hintergrunds meiner Eltern haben sie jedes Kind als ein Geschenk Gottes gesehen, da gab es dann keine Verhütung und dementsprechend ist das halt so passiert», sagte Emmanuel Gottschalk.

Ein stark religiöser Haushalt teilte die Gottschalk-Geschwister manchmal in zwei Lager. «Einige gehen diesen Weg mit und andere nicht. Dadurch hat man sich mit einigen manchmal mehr verbunden gefühlt oder gemeinsam über Themen gesprochen, als mit anderen», sagte der Drittälteste der Rasselbande.

Am Ende wurde es für den Berliner aber letztlich zu eng im Haus und er beschloss mit 19 Jahren, aus dem Elternhaus auszuziehen, «um diesem Trubel dann doch zu entfliehen und etwas mehr Space für sich zu haben. Der Wohnraum war dann natürlich auch begrenzt.» Doch letztlich sei seine Kindheit von sehr starken, positiven Erinnerungen geprägt gewesen.

Zahl der Geburten geht zurück – Familien werden kleiner

Die Geburtenrate lag 1965 in Deutschland nach Auskunft des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) noch bei 2,5 Babys pro Frau. Von 2015 bis 2021 waren es nur noch rund 1,5 bis 1,6. Die Geburtenrate eines Jahres gibt an, wie viele Babys im Durchschnitt eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn die Verhältnisse dieses Jahres unverändert blieben. Und sie sinkt weiter: Die Geburtenrate in Deutschland ist laut BiB aktuell auf den tiefsten Stand seit 2009 gefallen. Demnach betrug das sogenannte Fertilitätsniveau im Herbst 2023 nach vorläufigen Berechnungen nur noch 1,36 Kinder pro Frau. Die jüngste Entwicklung sei ungewöhnlich, hieß es. Früher hätten sich Phasen sinkender Geburtenraten deutlich langsamer vollzogen.

Der Trend geht nach Expertenangaben zu kleineren Familiengrößen mit ein oder zwei Kindern. Aber die Fachleute betonen auch, dass die offiziellen Statistiken die tatsächliche Anzahl von Angehörigen oft nur unzureichend abbilden können.

So gibt es neben leiblichen Kindern, die im selben Haushalt aufwachsen, zunehmend auch Halb- oder Stiefgeschwister, deren Beziehungen sich ganz unterschiedlich gestalten können, wie Susanne Witte vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) hervorhebt. Diese werden in den Daten kaum erfasst. «Kinder haben oft komplexe Geschwisterkonstellationen, die sich jenseits des Lebens in einem gemeinsamen Haushalt ergeben. Zum Beispiel dadurch, dass Eltern sich trennen oder Kinder aus früheren Beziehungen haben», sagt die Diplompsychologin.

Taylan Güngör ist zu fünft aufgewachsen – Trubel und Stress waren da keine Seltenheit. Gemeinsam mit seinen Brüdern führt der 28-Jährige ein Restaurant in Hamburg. Er sieht vor allem einen großen Vorteil in der großen Konstellation: «Ich meine, wenn du schon so viele um dich herum hast und dich mit denen verstehst, dann hast du ja quasi automatisch einen Freundeskreis, ein soziales Umfeld, das dadurch ein wenig größer ist. Und das kann sich auf jeden Fall positiv darauf auswirken.»

Geschwisterkinder können sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringen. So lernen Kinder früh, Rücksicht zu nehmen, zu teilen und Konflikte zu lösen, wie Witte erklärt. Sie könnten füreinander da sein, sich gegenseitig trösten. Bei Rivalität und Eifersucht konkurriere man oft um die Aufmerksamkeit der Eltern. Diese müssten ihre Zeit und Ressourcen auf mehrere Kinder aufteilen – und mehr Kinder bedeuten auch höhere finanzielle Belastungen für die Familie.

Die Älteren könnten die Jüngeren aber in ihrer Entwicklung anregen und fördern. «Was wir sehen, ist, dass so große Gruppen auch oft sehr gut miteinander funktionieren können», sagt Witte. Eine gute Beziehung zwischen den Kindern sei wichtig, weil diese dann voneinander profitieren könnten und die Eltern ja meist weniger Zeit hätten.

«Bei uns gab es schon so ein klassisches Machtgefälle aufgrund des Alters», sagt Gottschalk. Der Berliner glaubt, dass es anders auch nicht funktioniert hätte. «So, dass die Größeren auf die Kleineren aufpassen. Ich glaube, man hätte es auch nicht geschafft, wenn die Älteren da nicht mit angepackt oder geholfen hätten.»

Heißt wohl: Sozialkompetenz wird über das Familienleben vermittelt. Schade, wenn das wegfiele. News4teachers / mit Material der dpa

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Unfassbar
24 Tage zuvor

Sollen wir die geringe Anzahl Kinder gut oder schlecht finden?