Modellversuch: Wie das Screening aller Kinder vor der Einschulung praktisch läuft

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HAGEN. Die Stadt Hagen hat ein bundesweit einmaliges Modellprojekt gestartet, um die Frühförderung zu verbessern – mit dem Diagnoseverfahren „eduLOG“, das den Entwicklungsstand (und damit den individuellen Förderbedarf) von Kindern vor der Einschulung systematisch erfassen soll. Das Screening des westfälischen Unternehmens LOGmedia ist in einzelnen Grundschulen der Stadt schon seit Längerem im Einsatz, darunter der Astrid-Lindgren-Grundschule, wo Schulleiterin Daniela Scheuermann das Projekt mit Engagement vorantreibt. Die Bildungsforscherin Prof. Monika Kil von der Universität für Weiterbildung Krems begutachtet diese Praxis. Wir sprachen mit den beiden.

Das Screening nimmt die individuellen Lernvoraussetzungen wie die Sprachentwicklung in den Blick. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

News4teachers: Ihre Schule ist Vorreiter beim Screening von Kindern zur Einschulung, Frau Scheuermann. Wie läuft’s?

Scheuermann: Wir sind gerade dabei, den neuen Einschulungsjahrgang 2024 zu testen. Das ist dann der vierte Jahrgang, den wir mithilfe von eduLOG begutachten. Im Laufe der Zeit haben wir mit dem Screening-Verfahren den gesamten Einschulungsprozess deutlich optimiert. In jedem Durchgang sind neue Elemente hinzugekommen, weil wir unseren Schulentwicklungsprozess kontinuierlich evaluieren und Verbesserungsmöglichkeiten erkennen. Ein Ergebnis dieser Evaluation war, dass nun – statt einzelner Kolleginnen und Kollegen – das gesamte Kollegium einbezogen wird. Die zukünftigen Klassenleitungen werden also ebenfalls in den Prozess einbezogen, was sich als sinnvoll erwiesen hat. Sie haben selbst eduLOG mit den Kindern durchgeführt und fanden dies überaus hilfreich für die spätere Arbeit mit den Kindern. In Grundschulen, die im Vergleich zu weiterführenden Schulen kleinere Systeme sind, sind die Lehrkräfte ja oft in allen Klassen tätig und haben daher auch klassenübergreifend die Aufgabe der individuellen Förderung zu erfüllen. Daher macht es Sinn, dass alle Kolleginnen und Kollegen mit dem Programm vertraut sind, insbesondere wenn Ergebnisse vorliegen, die in der Anschlussförderung berücksichtigt werden müssen.

„Die Lehrkräfte haben nicht nur gelernt, das Programm anzuwenden, sondern es besteht ein tiefes Verständnis für weitere pädagogische und/oder diagnostische Schritte“

News4teachers: Sie, Frau Professorin Kil, begleiten die Entwicklung wissenschaftlich – auch in Frau Scheuermanns Schule…

Kil: Für mich war es das erste Mal, Frau Scheuermann persönlich in ihrer Schule zu besuchen, wir haben ja zusammen mit der Kollegin Ilka Koppel aus der PH Weingarten und den anderen Expertinnen und Experten ressourcenschonend ausschließlich via Internet face to face zusammengearbeitet. Jetzt kann ich einmal vor Ort sehen, dass die bislang dokumentierten Erfolge beim Screening mit eduLOG auch dauerhaft sind und letztlich für alle Grundschulen modellhaft funktionieren und flächendeckend eingesetzt werden können. Das dritte Schuljahr durfte ich besuchen und habe mich mit den Schülerinnen und Schülern noch über ihre Erinnerungen an eduLOG lebhaft ausgetauscht. Ich konnte mich persönlich überzeugen, dass „unser“ erster eduLOG-Jahrgang hier in Hagen lernfit für die nächste Bildungsphase ist. Eltern und Kinder stehen ja wieder vor der Situation, dass Bildung in neue Bahnen gelenkt wird und sich möglicherweise Benachteiligungsfaktoren weiter zuspitzen. Es war jetzt sehr schön und berührend zu sehen, wie die Kinder sich entwickelt haben und wie munter sie mit mir über ihre Lernvoraussetzungen und Lernfortschritte nach drei Jahren sprechen konnten, das hätte ich selbst nicht gedacht und freue mich, dass ich das erleben durfte. Es zeigt auch eindrucksvoll, wie positiv präsent den Kindern eine Einschulung mit eduLOG ist – auch sogar prägend positiv nachwirkt.

News4teachers: Sind denn nach Ihrer Beobachtung alle Lehrkräfte der Schule damit vertraut?

„Klarheit über die Basiskompetenzen“: (v. l.): Prof. Monika Kil, Schulleiterin Daniela Scheuermann und die Sozialpädagogische Fachkraft Frauke Rösler. Foto: privat

Kil: Ja, das ist ein großer Verdienst der Schulleitung. Frau Scheuermann hat es geschafft, weg davon zu kommen, dass ausschließlich Spezialistinnen und Spezialisten über die Basiskompetenzen Klarheit haben. Der gesamte Lehrkörper ist kompetent zu grundlegenden Lernvoraussetzungen. Die Lehrkräfte haben nicht nur gelernt, das Programm anzuwenden, sondern es besteht ein tiefes Verständnis für weitere pädagogische und/oder diagnostische Schritte. Die Schule kann zum Beispiel Sprachfördertrainings gezielter anschließen, aber auch Kinder individuell begleiten. So ist die Innovation nachhaltig implementiert, und es wurden Veränderungen erreicht, die bereits Wirkungen zeigen. Das Screening hat sogar einen Prozess der Schulentwicklung angestoßen. Dies ist insgesamt eine ausgezeichnete Bilanz nicht nur aus Sicht der Bildungsforschung, sondern auch für die Gesundheitswissenschaften von hoher Relevanz.

News4teachers: Welches Procedere hat sich denn eingespielt?

Scheuermann: Wenn wir wissen, welche Kinder zu uns kommen, dann werden zunächst alle Familien eingeladen. An diesem Termin finden parallel zwei Dinge statt. Zum einen werden die Eltern sehr ausführlich von mir über eduLOG informiert. Wir zeigen eine PowerPoint-Präsentation und geben zusätzlich ein Informationsblatt heraus. Wir präsentieren auch beispielhaft Ergebnisse, um die Eltern bereits im Vorfeld mit den Auswertungsbögen vertraut zu machen. So können anschließend die Ergebnisse problemlos verstanden und eingeordnet werden. Gleichzeitig weisen wir darauf hin, dass wir ggf. einzelne Familien erneut zu einem Beratungsgespräch einladen um eine mögliche weiterführende Diagnostik zu besprechen. Daneben klären wir den gesamten organisatorischen Ablauf, die Aufnahmemodalitäten – und den Termin für die Einzeltestung. Das ist ein kleiner Info-Input.

Parallel dazu werden die Kinder schon mal von Lehrkräften in kleinen Gruppenspielen in der Turnhalle beschäftigt. Dieser Teil ist neu – und kam durch eine von uns angeregte Weiterentwicklung von eduLOG hinzu. Abgesehen von den Vorläuferfähigkeiten, die die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Fortsetzung der Bildungsbiografie in der Grundschule darstellen, wollen wir natürlich auch wissen, wie sich die Kinder in einer großen Gruppe orientieren und verhalten. Hier geht es vorrangig um den Umgang mit Spielregeln, das soziale Miteinander, die Kontaktaufnahme zu anderen, fremden Kindern und das Verhalten gegenüber fremden Erwachsenen. Dieser Beobachtungsbereich wird dann bei eduLOG eingepflegt.

Kil: Ich bin froh, dass wir von Anfang an einen partizipativen Ansatz mit der Aufnahme von Modifikationen seitens der Grundschule gewählt haben, wir waren ja in der Covid-Zeit im Brennglas der noch unklaren Veränderungen, die jetzt auf die Kinder immer verstärkter – auch durch die digitalisierte Welt – deutlicher auf uns zukommen: Der für die Hirngesundheit so schädigende Bewegungsmangel. Das Konzept von eduLOG ist, dass es einen beobachtenden Teil gibt, auch die Perspektive der Eltern Berücksichtigung findet, aber dann unabhängig vom Beobachtenden die spielerisch aufbereiteten Aufgabenteile vom Kind selbst durchlaufen werden – so auch die Feinmotorik und das Körperschema.

Scheuermann: Wenn dann die Ergebnisse der Einzeltests vorliegen, gibt es bei uns eine eduLOG-Konferenz, in der das Kollegium den Auftrag hat, die Testergebnisse zu betrachten und zu diskutieren – und zwar ohne Abwertung von Kindern, sondern um Auffälligkeiten und Potentiale zu identifizieren. Diese Fälle werden dann besprochen, und einzelne Eltern werden erneut eingeladen, um ausführlich über die Ergebnisse zu sprechen und gemeinsam mögliche Anschlussmaßnahmen zu überlegen.

News4teachers: Die Kinder sind ja dann noch in den Kitas. Gibt es mit denen auch einen Austausch?

Scheuermann: Den gibt es bereits im Vorfeld und dauert über den gesamten Einschulungsprozess an. Wir besuchen bereits im November und Dezember die Kitas, um uns schon mal die Kinder anzusehen, die höchstwahrscheinlich zu uns kommen werden. Dabei gehen wir auch in Gespräche mit den Erzieherinnen und Erziehern. Aus Erfahrung wissen wir, dass eine frühzeitiger Austausch, auch mit den Eltern, häufig sehr hilfreich ist, um möglicherweise notwendige Unterstützungsangebote auf den Weg zu bringen. Auch ist der Blick von Erzieherinnen und Erziehern auf ein Kind oft ein anderer als unserer.

News4teachers: Erhalten die Erzieherinnen und Erzieher dann auch die Testergebnisse?

Scheuermann: Ja. Nach unserer eduLOG-Konferenz laden wir die Erzieher ein, um mit ihnen über die Kinder zu sprechen und zu sehen, was die Kita und die Eltern tun können.

„Wir wissen nun sicher, dass das Screening sinnvoll und ohne Nebenwirkungen eingesetzt werden kann“

News4teachers: Das muss aber mit Einverständnis der Eltern geschehen, oder?

Scheuermann: Absolut, das ist von Anfang an geklärt. Die Eltern unterzeichnen eine Erklärung, die die Kita und uns von der Schweigepflicht entbindet.

News4teachers: Verweigern sich Eltern dabei?

Scheuermann: Das sind wenige Einzelfälle und passiert in der letzten Zeit eigentlich gar nicht mehr. Wenn Eltern das aber so handhaben möchten, respektieren wir das natürlich.

News4teachers: Wie gehen Sie weiter vor, Frau Professorin Kil?

Kil: Aus meiner Sicht ist das Projekt „eduLOG“ abgeschlossen. Wir wissen nun sicher, dass das Screening sinnvoll und ohne Nebenwirkungen eingesetzt werden kann – mehr noch: Es wurden Präventionsketten, wie es im Bildungsmonitoring heißt, ins Rollen gebracht und die Qualität des Bildungsmanagements hat sich verbessert. Die Kinder hier bekommen einen sehr guten Start mit nachhaltiger Lernfreude mit auf ihren noch länger andauernden Bildungsweg. Durch die wissenschaftliche Begleitung habe ich genug Belege, um in den wissenschaftlichen internationalen Forschungsdiskurs zu gehen. Wir haben daraufhin an der Universität für Weiterbildung eine Kooperation mit LOGmedia abgeschlossen und entwickeln eine eigene Forschungsinfrastruktur. Mit den Softwarelizenzen von LOGmedia können wir einerseits forschen, wie sich Lernvoraussetzungen entlang der Lebensspanne erhalten lassen, und andererseits in der Lehre unsere Studierenden für Lernvoraussetzungen und Hirngesundheit sensibilisieren und sie damit präventiv und interventiv in den verschiedensten mehrsprachigen Kontexten forschungsgeleitet weiterbilden. Auch hier gilt wieder diese Synergie jeder Datensatz der in der Praxis gewonnen wird, steht der Forschung zur Verfügung: Eine echte Verbesserung für die Bildungsforschung.

In Hagen geht es für uns nun darum, in Netzwerken weiterzuarbeiten. Wir sehen immer mehr, wie wichtig die Kita dabei ist, allerdings ist sie politisch und verwaltungstechnisch leider von den Schulen abgetrennt. Eine möglichst enge Verbindung können wir hier mittels der LOGmedia Screenings und der neuen Trainingsapps ausprobieren. Es muss darum gehen, Kinder systematisch so bald als möglich und nötig in ihren Lernvoraussetzungen bereits vor der Einschulung zu fördern.

Dabei geht es nicht nur um Kinder mit Migrationshintergrund, die ja, wenn die Lernvoraussetzungen stimmen, sehr schnell Deutsch erlernen können. Es geht vielmehr um Kinder, die fast nur mit Tablets und Handys aufwachsen, die gravierende Sprachfehler aufweisen, sozial und mental unreif sind, um eingeschult zu werden, obwohl sie eigentlich das vorgesehene Alter dafür haben. Das ist eine wachsende Gruppe, um die wir uns Sorgen machen. Wir sehen bereits die Konsequenzen bei den mathematischen Fähigkeiten, beim Überblicken des Zahlenraums, beim Erfassen von Mengen. Hier werden wir jetzt zusammen mit der Grundschule und unserer Pilot-KiTa gemeinsam auf Augenhöhe arbeiten und schauen, was kann die KiTa unter welchen Bedingungen für die Kinder leisten und was nicht.

News4teachers: In mittlerweile vielen Bundesländern wird darüber diskutiert, die Kinder vor der Einschulung zu testen…

Kil: Alle reden darüber, nutzen aber bisher nicht die Instrumente und Erfahrungen, die wir hier bereits erfolgreich eingesetzt haben, Hagen hat jetzt hier eine absolute Vorreiterrolle und sie werden Schule machen, da bin ich ganz sicher.

Scheuermann: Für unsere Schule kann ich sagen, es ist ein Riesengewinn, dass wir unseren Blick auf die Kinder derart schärfen und auf Grundlage der Lernvoraussetzungen der Kinder unseren Unterricht im Schuleingang ideal gestalten können. Kolleginnen, die jetzt im ersten Schuljahr unterrichten, haben mir nach den Erfahrungen mit dem letztjährigen Screening gesagt, wie wertvoll die Erkenntnisse für ihre Arbeit sind – auch jetzt noch. Wichtig ist dabei auch, dass der Fokus nicht allein auf den Defiziten liegt. Wir sehen auch deutlich, wo die Stärken eines Kindes liegen und können so unserem Auftrag zu fördern und zu fordern bestmöglich gerecht werden. Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Screening vor der Einschulung im Modellversuch: „Können damit erkennen, ob die Grundvoraussetzungen fürs Lernen gegeben sind“

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3 Kommentare
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Butterblume
1 Monat zuvor

So ein screening mag ja sinnvoll sein, verpufft aber ins Leere, wenn die individuelle Förderung wieder einmal eine einzige Person innerhalb einer Klassenstärke von 25 Kids übernehmen soll. Vielleicht sollten erst einmal die Vorraussetzungen zur Förderung geschaffen werden ( kleinere Klassen, mehr Personal…). Außerdem sehe ich es kritisch, dass zu den Schulanmeldungen auch diese Aufgabe die Lehrkräfte übernehmen müssen und dafür mit Sicherheit kein Unterricht ausfallen darf.

Realist
1 Monat zuvor
Antwortet  Butterblume

Scheuermann: „…sind die Lehrkräfte ja oft in allen Klassen tätig und haben daher auch klassenübergreifend die Aufgabe der individuellen Förderung zu erfüllen.“

Falsch Frau Schulleiterin. Die Schule ist dafür zuständig. Als Schulleiterin haben Sie dafür Sorge zu tragen, dass dies dann organisatorisch so umgesetzt wird, dass die einzelnen Lehrkräfte diese Aufgabe leisten können, ohne ihre individuelle Arbeitszeit zu überschreiten,

Wird endlich Zeit für die individuelle Erfassung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit auch für Lehrkräfte, damit diese ganzen bildungspolitischen Ideen wieder auf ein realistisches Maß zurechtgestutzt werden und die unrechtmäßige arbeitszeitmäßige Überlastung der Lehrkräfte endlich aufhört.

Lisa
1 Monat zuvor

„Wir sehen immer mehr, wie wichtig die Kita dabei ist, allerdings ist sie politisch und verwaltungstechnisch leider von den Schulen abgetrennt…“

Bitte bringt die Vorschulen zurück! Denn:

„Dabei geht es nicht nur um Kinder mit Migrationshintergrund, die ja, wenn die Lernvoraussetzungen stimmen, sehr schnell Deutsch erlernen können. Es geht vielmehr um Kinder, die fast nur mit Tablets und Handys aufwachsen, die gravierende Sprachfehler aufweisen, sozial und mental unreif sind, um eingeschult zu werden, obwohl sie eigentlich das vorgesehene Alter dafür haben. Das ist eine wachsende Gruppe, um die wir uns Sorgen machen.“

Genauso empfinde ich es auch. In den Vorschulen hatten vernachlässigte, aber auch physiologisch noch “ unreife“ Kinder ( die gibt es auch) die Chance, Verhalten und Arbeitshaltung in Ruhe nachzuholen und gut in die Grundschulzeit zu starten.