Ex-Siemens-Chef Kaeser beklagt schlechte Bildungschancen für Arbeiterkinder

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AUGSBURG. Nicht die Reichsten sollen studieren, sondern die Klügsten, findet der frühere Siemens-Chef Joe Kaeser. Er sieht in Deutschland Defizite bei der Durchlässigkeit.

«Die Gesellschaft ist nicht mehr so durchlässig, wie sie früher war»: Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser. Foto: Siemens © 2020 Thomas Dashuber / Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0

Der frühere Siemens-Konzernchef Joe Kaeser beklagt einen Rückgang sozialer Aufstiegschancen für Arbeiterkinder und hält Karrieren wie seine eigene in Deutschland für kaum noch möglich. «Die Gesellschaft ist nicht mehr so durchlässig, wie sie früher war», sagte der Aufsichtsratsvorsitzende von Siemens Energy der «Augsburger Allgemeinen».

«Ich glaube nicht mehr, dass der gesellschaftliche Aufstieg heute noch so möglich wäre, wie ich es erlebt habe», betonte der 67-Jährige, der es als Arbeiterkind aus dem Bayerischen Wald bis zum Vorstandsvorsitzenden eines der größten deutschen Unternehmen brachte.

«Nicht die Reichsten, sondern die Klügsten sollen studieren»

Kaeser absolvierte die mittlere Reife an der Realschule in Kötzting, bevor er über Fachhochschulreife und Betriebswirtschafts-Studium seine Karriere bei Siemens startete. Die habe er vor allen Dingen staatlichen Förderprogrammen wie dem Bafög zu verdanken – und einer Verkettung glücklicher Umstände, sagte Kaeser nun. Er kritisierte: Die Aufstiegschancen für Kinder aus einfachen Verhältnissen seien geringer geworden.

«Heute ist es deshalb umso wichtiger, dass der Staat die Durchlässigkeit fördert, beispielsweise mit Lernmitteln wie iPads», sagte der Spitzenmanager. «Nicht die Reichsten, sondern die Klügsten sollen studieren.» Kaeser betonte zugleich, dass die Voraussetzung für einen starken Sozialstaat spürbares Wirtschaftswachstum sei.

In den vergangenen zehn Jahren seien die Sozialausgaben, Pensionen und der Bundeshaushalt um rund 50 Prozent gestiegen, aber das Bruttoinlandsprodukt nur um 40 Prozent. «Man kann auf Dauer nur Werte umverteilen oder für den Klimaschutz aufwenden, die man vorher erwirtschaftet hat», sagte Kaeser. News4teachers / mit Material der dpa

Drängender denn je: Warum wir mehr Chancengerechtigkeit im Schulsystem brauchen – eine Gegenrede

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vhh
1 Jahr zuvor

Die Defizite liegen nicht auch bei den Unternehmen? Die lieber angepasstes Mittelmaß als innovative Unruhestifter einstellen? Die fragen, wer aus der Familie schon im Unternehmen arbeitet? Die zu einer Stellenbesetzung HR, Fachabteilungen, Vorgesetzte der nächsten beiden Ebenen, am besten noch Kollegen hinzuziehen, weil niemand mehr allein Verantwortung tragen will?
Beide Eltern im Konzern, mittleres Management vs Eltern Zeitarbeit, sechs Geschwister und eine Bewerbung als IngenieurIn, wer da wohl bessere Chancen auf Einstellung und vor allem späteren Aufstieg hat. Gute Prognose, logische Entscheidung – niemand hat einen Fehler gemacht, wenn es nicht funktioniert.
Die durchsetzungsfähigen, guten potentiellen Aufsteiger gehen inzwischen zu den Startups und spielen Roulette. 100 Fähige scheitern, einer wird berühmt, verschenktes Potential.
Hat ein Elternteil im Vorstand eines DAX-Konzerns wirklich keine Bedeutung, ob man für das Traineeprogramm als Vorstandsassistent in einem anderen Konzern berücksichtigt wird? Es ist eine Klassengesellschaft und bei gleicher formaler Qualifikation spricht viel dafür, den Bewerber mit dem richtigen ‘Stallgeruch’ zu nehmen. Das letzte Mal war es wohl in den 70er Jahren anders, ‘Bildung für alle’, mit entsprechender Offenheit für Aufsteiger, die dafür noch mehr als jetzt kämpfen mussten. Herr Kaeser nennt ehrlicherweise die glücklichen Umstände, aber er unterschätzt deren Bedeutung. Die Strukturen bei Unternehmen wie Siemens sind ein wichtiger Teil des Problems, die differenzieren mehr als staatliche Lernmittel.
https://www.kununu.com/de/siemens/bewerbung

Unfassbar
1 Jahr zuvor

Ich bin auch dafür, dass nur die Klügsten des Jahrgangs studieren sollten. Dazu muss man den Schulunterricht wieder so anspruchsvoll machen, dass Klugheit und nicht mehr nur überwiegend Fleiß für das Abitur erforderlich ist. Dann würden auch die SEK I-Schulen fachlich wieder gestärkt werden.

JoE
1 Jahr zuvor
Antwortet  Unfassbar

“Wieder” impliziert, dass es jemals anders gewesen wäre. Tatsächlich war die Korrelation zwischen Schulerfolg und der kognitiven Leistungsfähigkeit des Einzelnen vor den Reformen der Siebzigerjahre sogar noch geringer. Oder wollen Sie behaupten, dass das katholische Arbeitermädchen vom Land durchweg so viel weniger studierfähig war als Jungs aus der gehobenen Mittelschicht?

Philine
1 Jahr zuvor
Antwortet  Unfassbar

Also, für das Abitur ist Fleiß nur noch in Spurenelementen erforderlich. In meinem Bundesland wird durch 1:1 Verrechnung schriftlich:mündlich und vor allem durch die “mündlichen Zusatzprüfungen” noch so gut wie jedes Häschen “wohlwollend” übers Gatter gehoben.

ed840
1 Jahr zuvor

Wenn Karrieren wie die von Herrn Kaeser kaum mehr möglich sein sollen, müsste das wohl eher an den Unternehmen liegen. Die Schülerzahlen an FOS/BOS in Bayern haben sich nach meinen Informationen im Vergleich zur Schulzeit von Herrn Kaeser nahezu verdoppelt. Auch bei den Studienanfängern sollen schon an die 50% nicht vom Gymnasium stammen. Das könnte man schon so deuten, dass die Durchlässigkeit mittlerweile höher ist als früher. Ob es allein mit iPads und den 350,- € Anschaffungskostenzuschuss getan ist, kann ich als Laie schwer beurteilen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es weniger darauf ankommt ob Tablets vorhanden sind, mehr ob die auch effektiv eingesetzt werden können. Gibt ja auch Leute, die Tablets in den unteren Klassenstufen eher negativ sehen.

Unfassbar
1 Jahr zuvor
Antwortet  ed840

Ich sehe sie bei Schülern mit zu wenig Selbstkontrolle unabhängig vom Alter negativ. Tendenziell sollte man mit schwieriger werdender Klientel immer analoger unterrichten.

Ali Mente
1 Jahr zuvor

Da Bildung bei uns kostenlos ist, können selbst die Bettelarmen studieren. Sie müssen es aber auch selber wollen.

JoE
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ali Mente

In welcher Realität leben Sie? Ein Studium verursacht enorme Kosten und das BAföG ist schon seit Jahren nicht einmal mehr ansatzweise ausreichend. Nebenjobs sind für ärmere Studierende zwingend, um überhaupt die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten stemmen zu können und die Verschulung vieler Studiengänge erschwert die Annahme vieler besser bezahlter Jobs. Über die Konditionen der KfW-Bildungskredite müssen wir gar nicht erst reden, die sind aktuell untragbar teuer.

ed840
1 Jahr zuvor
Antwortet  JoE

Kommt immer auf den Vergleich an. Ein Studium in DE wäre mit deutlich weniger Kosten belastet als z.B. in Kanada, wo i.d.R. schon jährliche Studiengebühren in fünfstelliger Höhe anfallen. Die anderen Kosten kämen dort dann noch oben drauf. Trotzdem gehört Kanada zu den Ländern mit den höchsten Quoten an Studienabschlüssen. Dort erwerben auch überproportional viele Migranten aus sozial schwächeren Familien einen bachelor oder master degree.

Ali Mente
1 Jahr zuvor
Antwortet  JoE

Dann einfach unterhaken bei Olaf Scholz. You will never walk alone.

David
1 Jahr zuvor
Antwortet  JoE

Welche Kosten verursacht ein Studium denn per se? Lebenshaltungskosten haben wir alle zu tragen und die hätten ärmere Menschen auch zu tragen, wenn sie eine Ausbildung machen oder einen Beruf ergreifen würden.

Schlaubi
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ali Mente

Bildung ist zwar kostenlos, für einige trotzdem umsonst.

AvL
1 Jahr zuvor
Antwortet  Schlaubi

Die tanzen dann alkoholisiert und laut grölend
zum Beispiel auf Sylt in Schickeria-Partys zu Diskorhythmen.

David
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ali Mente

Ich habe, als Arbeiter”kind”, neben dem Vollzeitjob die notwendigen Qualifikationen nachgeholt und studiere jetzt auch. Möglich ist es also. Man muss halt auch wollen.

Sepp
1 Jahr zuvor

«Die Gesellschaft ist nicht mehr so durchlässig, wie sie früher war», sagte der Aufsichtsratsvorsitzende von Siemens Energy der «Augsburger Allgemeinen».

Gerade wenn man sich überlegt, dass so viele Menschen wie nie zuvor Abitur machen und ein Studium beginnen können, erscheint mir diese Aussage eher unbegründet.

«Heute ist es deshalb umso wichtiger, dass der Staat die Durchlässigkeit fördert, beispielsweise mit Lernmitteln wie iPads», sagte der Spitzenmanager. «Nicht die Reichsten, sondern die Klügsten sollen studieren.» Kaeser betonte zugleich, dass die Voraussetzung für einen starken Sozialstaat spürbares Wirtschaftswachstum sei.

Inwiefern soll denn die Nutzung von iPads die Durchlässigkeit fördern?

Meiner Beobachtung nach ist es gerade umgekehrt:
Die Schüler, die es am wenigsten bräuchten, nutzen digitale Medien, um noch mehr und besser zu lernen. – Und die Schüler, die keine Leistungsmotivation haben, nutzen es um rumzudaddeln und sich abzulenken. Damit verstärkt man Unterschiede und fördert nicht die schwachen Schüler…

A.M.
1 Jahr zuvor

Weil es viele verschiedene Branchen gibt vermute ich, dass es grundsätzlich sehr schwer ist, zu beurteilen, wie es um die Aufstiegschancen von jungen Menschen bestellt ist. Nachteile von Kindern aus wirtschaftlich schwachen Familien sind selbstverständlich nicht zu leugnen, wobei es auch unter diesen Familien einige gibt, in denen Bildung und eigenständiges Denken und verantwortungsbewusstes Handeln eine große Rolle spielt. Vor allem bei selbst gewählter “Armut”, bei der es sich eigentlich nur um Verzichtsbereitschaft handelt, erleben KInder ihre Eltern als Vorbilder. Dem Geld nachzuhechten und dafür über andere bestimmen zu können ist eben nicht mehr “das Karriereziel”.

Und dann gibt es noch das Phänomen, dass vor allem männliche Jugendliche nach dem Abitur ein “Sabbatjahr” einlegen und es von ihren Eltern sogar finanziert bekommen. Manchmal sogar noch ein zweites oder drittes… Jahrzehntelang habe ich nichts von solchen Fällen gehört und mittlerweile frage ich mich, ob nicht der Wunsch zu “chillen” dazu führen kann, dass Kinder aus der so genannten Unterschicht wieder bessere Chancen bekommen können, wenn nämlich der männliche Nachwuchs der Gutbetuchten sich im jungen Erwachsenenalter längere Auszeiten gönnt. Dass gleichaltrige Frauen schon jetzt locker an ihnen vorbeiziehen, kam früher vermutlich auch seltener vor.

We gesagt, Prognosen sind schwierig. Zumal die Betreuung in Kitas auf Jahre nicht mehr verlässlich vom Staat zur Verfügung gestellt werden kann. Der Wunsch junger Menschen danach, als Eltern mehr Zeit für die eigenen Kinder zu haben, könnte stärker werden. Das scheinbare Rundumsorglospaket zur frühkindlichen Bildung hat sich als Mogelpackung erwiesen. Die Forderungen nach erweiterten und erheblich verlängeren Öffnungszeiten der Kitas kamen doch vor circa 20 bis 25 Jahren vor allem aus der Wirtschaft, weil beide Elternteile möglichst in Vollzeit dem Arbeitsmarkt “zur Verfügung stehen” sollten. (Was für “Karrierechancen!) Und nun ist Aufwachen und Umdenken angesagt. Der Staat kann nicht mehr finanzieren, was von ihm gewünscht und erwartet wird.

Küstenfuchs
1 Jahr zuvor

Und was macht ihn nun so direkt zum Experten für Bildung und hebt ihn damit von der breiten Masse ab?

ed840
1 Jahr zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

Gibt es denn überhaupt Kriterien für den Begriff “Bildungsexperte”. Scheint ja ne ganze Reihe solcher Experten zu geben, die weder Lehramt studiert noch jemals selber an einer Schule unterrichtet haben.

A.M.
1 Jahr zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

Danke. Eine grundsätzlich wichtig gewordene Frage! Wenn man bedenkt, wie maßlos und selbstverständlich der früher nicht verschwenderisch benutzte Begriff “Experte” heute verwandt wird…

Patty
1 Jahr zuvor

“.. mit Lernmitteln wie iPads .. “

Ja, die Kinder vom Pöbel brauchen ein besseres Tablet in Ergänzung zu dem bereits Vorhandenen, der Konsole, dem PC und dem Smartphone. Dann wird das schon.

A.M.
1 Jahr zuvor
Antwortet  Patty

Wird in der Schule noch über Konsumterror, Werbestrategien, Umweltverschnutzung und Ressourcenverschwendung gesprochen oder können Lehrer sich das bald schenken?

Kaum den Windeln entwachsene Kinder brauchen natürlich auch schon Tablets. Wozu sollten sie noch in einem altmodischen Kaufladen spielen, wenn das Bargeld langfristig abgeschafft wird? Die Kinder könnten ja besser rechnen lernen…

Lisa
1 Jahr zuvor

Außer dem Studium gab es früher noch andere Karrierewege, und da hat Herr Kaeser Recht. In den Achtziger Jahren gab es noch Realschüler, die mit Banklehre oder Technikerlehre Chefpositionen bei Ihren Firmen oder auch in Stadtverwaltungen inne hatten. Ich selbst kenne mehrere solche ehemaligen Mitschüler. Ihre Nachfolger jetzt, wenn sie in Rente gehen, haben aber Abitur und Studium und kommen oft aus einer anderen Schicht.
Konkret haben es die Umstellung auf Bachelor und Master und die Verschulung der Universitäten für Studenten, die darauf angewiesen sind, sich ihren Lebensunterhalt mit einem Nebenjob zu verdienen, für Arbeiterkinder schwieriger gemacht, ihr Studium zu finanzieren. Und die Wohnungsnot in den Universitätsstädten und allgemein die hohen Energiekosten kommen seit einigen Jahren obendrauf.

Anika von Bose
1 Jahr zuvor

Der Bildungserfolg in Deutschland ist zu sehr abhängig vom sozioökonomischen Umfeld – das wird uns immer wieder attestiert. Wenn die Voraussetzungen zu Hause nicht optimal sind leidet auch die Entwicklung und Förderung der Kinder – wenn die Kinder dann in die Bildungseinrichtungen kommen wird das sichtbar: Lernvorsprünge von 2 Jahren entsprechen der Norm und das Schlimme ist, dass diese Unterschiede bestehen bleiben. Hinzugekommen sind die digitalen Einflüsse, die unsere Welt so pluralistisch und populistisch gemacht hat, dass vielen Kindern (und Erwachsenen) die Orientierung verloren gegangen ist.

Bildung ist ja auch nicht kostenfrei, die Kosten seine Kinder mit Lernmitteln und anderen notwendigen Dingen, die für die Schule erforderlich sind, sind exorbitant. Wenn die Kinder dann noch weitere Unterstützung brauchen, um erfolgreich sein zu können in der Schule wird es noch teurer.