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Schulreformer Stefan Ruppaner im Podcast: „Unterricht ist aller Übel Anfang – Lernen funktioniert so nicht“

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BONN. Eine Schule ohne Frontalunterricht, ohne feste Prüfungstermine und ohne Klassenzimmer – klingt wie eine Utopie? Gibt es aber wirklich: Die Alemannenschule Wutöschingen in Baden-Württemberg zeigt, wie Schule auch sein kann. In dieser Folge von „Bildung bitte!“, dem Podcast des Bürgerrats Bildung und Lernen, spricht Moderator Andreas Bursche mit dem langjährigen Schulleiter Stefan Ruppaner über ein radikal anderes Schulkonzept, das konsequent auf Eigenverantwortung, Kreativität und Augenhöhe setzt. Mit dabei ist außerdem Mursal Osmani, ehemalige Berufsschullehrerin und engagiertes Mitglied des Bürgerrats Bildung und Lernen, die eigene Erfahrungen aus dem deutschen Bildungssystem einbringt – und über ihren ganz persönlichen Wunsch nach einem System ohne Noten spricht.

Gießen, bitte. Illustration: Shutterstock

In dieser Folge von „Bildung bitte – Der Podcast des Bürgerrats Bildung und Lernen“ wird deutlich: Schule muss nicht so sein, wie wir sie kennen. Kein Frontalunterricht, keine festen Klassenräume, keine traditionellen Prüfungen – dafür eine Umgebung, in der sich Lernende und Lehrende gemeinsam neue Wege gehen.

Stefan Ruppaner, ehemaliger Schulleiter der Alemannenschule Wutöschingen, hat an seiner Schule ein neues Konzept eingeführt, das selbstbestimmtes Lernen ins Zentrum stellt. Einer seiner Grundsätze lautete dabei: So wenig Unterricht wie möglich. Denn: „Unterricht ist aller Übel Anfang“, so Ruppaner im Gespräch mit Andreas Bursche und erklärt: „Beim klassischen Unterricht überlegt sich einer vorher, was die Kinder oder die Lernenden die nächste Dreiviertelstunde denken sollen.“ Es sei beim Lernen jedoch nicht förderlich, wenn es immer jemanden gibt, der vor-denkt, was andere dann nur nach-denken. Ruppaner: „Lernen funktioniert anders. Wir müssen selbstständiges Denken und die persönliche Entwicklung in den Mittelpunkt stellen – nicht den Untericht.“

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Dafür setzt die Alemannenschule beispielsweise auf ein innovatives Raum- und Lernkonzept. Ruppaner beschreibt: „Das Wichtigste ist das Lernatelier, das ist ein Bereich, in dem jeder seinen persönlichen Arbeitsplatz hat. Sieht aus wie so ein Großraumbüro in amerikanischen Filmen.“ Weitere Lernräume seien der Marktplatz – ein kooperativer Co-Working-Bereich –, Input-Räume für freiwillige kurze Lerneinheiten, sowie Lernorte außerhalb der Schule: „Wir sind auf dem Bauernhof, im Wald, im Garten, im Sitzungssaal des Rathauses, überall verteilt.“ Zusätzlich gibt es an der Alemannenschule einen digitalen Raum mit einer eigenen Lernplattform und iPads für alle – und seit der Corona-Zeit gilt auch das eigene Zuhause ebenfalls als offizieller Lernraum.

Begegnung auf Augenhöhe

Ganz wichtig an der Alemannenschule ist außerdem die Rolle der Schüler*innen, die neu gedacht wird: In Wutöschingen heißen Schülerinnen und Schüler „Lernpartner*innen“. Dadurch, so Ruppaner, würden sich Lernende und Lehrende auf Augenhöhe begegnen. Für den ehemaligen Schulleiter ist das zentral: „Das kostet nichts und könnte jede Schule machen.“

Neben Stefan Ruppaner ist Mursal Osmani zu Gast, Mitglied im Bürgerrat Bildung und Lernen. Osmani kam als kleines Kind mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland. Ihre Eltern flohen vor den Taliban, sie selbst wuchs in einer Flüchtlingsunterkunft bei Cottbus auf. Später unterrichtete sie geflüchtete Afghanen und Syrer, wurde dann Berufsschullehrerin. Im Bürgerrat setzt sich Osmani unter anderem für ein Schulsystem ohne Noten ein. Die Alemannenschule beeindruckt sie: „Es ist ein Traum einer Schule, wo man mit Spaß und Freude zur Schule geht.“

Dass das Konzept auch erfolgreich ist, zeigen die Ergebnisse: „Als wir 2022 das erste Abitur gemacht haben, war der Landesdurchschnitt von Baden-Württemberg 2,17, an unserer Schule 1,7“, sagt Ruppaner. Und das, obwohl viele dieser Lernpartner*innen ursprünglich keine Gymnasialempfehlung hatten.

Ist ein Umdenken in der Politik erforderlich?

Die Frage ist: Wie offen ist die Bildungspolitik für solche Ansätze? Stefan Ruppaner berichtet aus eigener Erfahrung. Trotz positiver Rückmeldungen von Minister*innen wie Frau Hubig oder Frau Schopper, versickerten letztlich viele Initiativen im bürokratischen Apparat. Der Schlüssel liegt für Stefan Ruppaner im Handeln: „Deswegen glaube ich, dass es nur von unten geht, wie wir es gemacht haben: Einfach machen.“

Ein weiterer Punkt, über den im Podcast diskutiert wird, ist die Frage nach der Integration. Mursal Osmani hat selbst Migrationshintergrund und sie glaubt, dass ein System wie die Alemannenschule ein großer Vorteil für Schüler*innen mit Migrationshintergrund wäre: „In einem solchen System würde man, glaube ich, die deutsche Sprache viel schneller erlernen. Dadurch, dass es diese Offenheit gibt und viele Ecken, wo sich Schüler freiwillig gemeinsam hinsetzen, es sich gemütlich machen, etwas lesen oder besprechen, fällt es jedem Einzelnen leichter, die deutsche Sprache zu lernen. Anstatt dass ich ein Buch vor mir liegen habe und das auswendig lerne, gehe ich in Gespräche.“ Stefan Ruppaner verweist außerdem auf das Patensystem der Schule, in dem „das reziproke Lernen“ eine zentrale Rolle spielt – ein Prinzip, das besonders wirksam ist.

Ein Auge auf die psychische Gesundheit

Ein weiterer spannender Aspekt: Die Schüler*innen gestalten ihren Lernalltag selbst und können ihre Stundenpläne eigenständig zusammenstellen. Und die Ergebnisse können sich sehen lassen. Stefan Ruppaner: „Wenn ich Statistiken zeige, wir haben weniger Schwache und mehr Starke, in allen Bereichen.“ Hinter diesem Ansatz steht die Überzeugung: „Lernen geht nur über Einladen, Ermutigen und Inspirieren und nicht über Druck.“ Dabei beruft sich Stefan Ruppaner auf den Hirnforscher Gerald Hüther.

Auch Mursal Osmani bestätigt die positiven Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und zeigt auf, welcher Belastung Schüler an anderen Schulen ausgesetzt sein können: „Ich habe ja auch einen Sohn, der geht auf so eine Eliteschule. Und der Stresspegel ist so hoch, dass er regelmäßig mit Migräne zu Hause bleibt. Nur weil er diesen Stress im Kopf hat: ‚Ich muss es schaffen, ich muss es schaffen.‘“

Doch wie steht es um die Vorbereitung auf das „echte Leben“, in dem es auch Drucksituationen gibt? Mursal kontert: „Nein, wir bringen den Kindern bei, dass sie das machen sollen, woran sie Interesse haben.“ Ihrer Meinung nach sollen Schüler*innen in der Schule ihre Stärken und Wünsche herausfinden sollen, um auf den weiteren Weg vorbereitet zu sein. Viele Schüler*innen wüssten gar nicht, was sie später machen wollen, weil sie nie die Möglichkeit hatten, ihren eigenen Interessen nachzugehen. Stefan Ruppaner bringt es auf den Punkt: Es brauche Gelegenheiten, um „sich kennenzulernen.“

Das Konzept der Schmetterlingspädagogik

Ein zentraler Begriff im Konzept der Alemannenschule ist die „Schmetterlingspädagogik“ – ein pädagogisches Konzept, das zwei Flügel vereint: selbstorganisiertes Lernen „frei von Zeit und Raum“ und das „Lernen durch Erleben“ in Gemeinschaft. „Machen wir eine Hüttenwanderung von Hütte zu Hütte, kann ich nicht sagen: ‚Jeder läuft irgendwann, in irgendeine Richtung los und kommt irgendwo an.‘ Das müssen wir gemeinsam machen“, erklärt Stefan Ruppaner.

Die Lehrkräfte verstehen sich inzwischen nicht mehr als Wissensvermittler, sondern als Manager von Expertise und Begleiter im Lernprozess. Das habe laut Ruppaner durch die Digitalisierung und zuletzt durch die Nutzung von KI noch zugenommen: „Ich bin als Lehrer der Manager der Expertise und der, der hilft Ergebnisse zu beurteilen: Stimmt die Expertise, was mir da KI aufgetischt hat oder das YouTube-Video?“

Doch die Frage bleibt: Wie kommt man zu einer solchen Schule? Stefan Ruppaner, früher ein Verfechter des traditionellen Bildungssystems, schildert den langen Weg von der Irritation durch den Film „Treibhäuser der Zukunft“ bis hin zur Neuausrichtung seiner Haltung und Schule. Es braucht Engagement, Überzeugung – und eine Bewegung von unten: „Aber unser Staat wird da nichts dran ändern, weil ich nicht glaube, dass der Staat in diesem Bereich reformfähig ist. Wir brauchen die Revolution von unten, weil von oben wird sie nicht kommen.“ News4teachers

Hintergrund

Der Bürgerrat Bildung und Lernen besteht aus mehr als 700 zufällig ausgelosten Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland und wurde 2020 von der Montag Stiftung Denkwerkstatt ins Leben gerufen. Sie hat auch den vorliegenden Podcast bereitgestellt.

Im Sinne einer lebendigen Demokratie diskutieren die Mitglieder des Bürgerrats gemeinsam über gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen. Welche Probleme und Herausforderungen müssen im Bildungsbereich dringend bearbeitet werden? Wie könnten bildungspolitische Reformen aussehen, die Probleme lösen und gleichzeitig in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind? Und: Wie soll gerechte Bildung in Zukunft aussehen?

Ein umfassendes Papier mit Empfehlungen wurde unlängst erarbeitet (News4teachers berichtete). Leitthema dabei: „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“

Der Bürgerrat Bildung und Lernen ist aktuell der einzige Bürgerrat, der auf Bundesebene aktiv ist und auch Kinder und Jugendliche einbezieht. Die mehr als 250 Schülerinnen und Schüler kommen über sogenannte Schulwerkstätten der Bundesländer dazu und sind vollwertige Mitglieder des Bürgerrats Bildung Lernen. Darüber hinaus haben sie aber auch eigene Empfehlungen entwickelt sowie einen offenen Brief unter dem Titel „Hört und zu!“ geschrieben.

www.buergerrat-bildung-lernen.de

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