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“Deutschland ist MINT-Weltmeister” – und lässt viele junge Menschen links liegen

BERLIN. Die neue OECD-Studie „Bildung auf einen Blick 2025“ stellt Deutschland ein widersprüchliches Zeugnis aus. Auf der einen Seite: internationaler Spitzenwert bei den MINT-Abschlüssen. Auf der anderen Seite: eine wachsende soziale und bildungsbiografische Kluft. Immer mehr junge Menschen bleiben schlicht außen vor. Verschenktes Potenzial. Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.

An der Spitze!? (Symbolbild.) Foto: Shutterstock

Bundesforschungsministerin Dorothee Bär (CSU) feiert die neuen OECD-Zahlen als Ausweis von Stärke: „Deutschland ist MINT-Weltmeister.“ Tatsächlich: Deutschland glänzt – auf den ersten Blick jedenfalls. 35 Prozent aller Absolventinnen und Absolventen eines Bachelor- oder gleichwertigen Programms schließen hierzulande in einem der MINT-Fächer ab. Das ist der höchste Anteil im OECD-Vergleich; der Schnitt liegt bei 23 Prozent.

In Zeiten von Digitalisierung, Energiewende und Industrie-Transformation ist das eine Kenngröße von enormer wirtschaftlicher Bedeutung. Auch international wirkt das System: Der Anteil ausländischer Studierender ist seit 2013 von 7,1 auf 12,7 Prozent (2023) gestiegen, deutlich über dem OECD-Schnitt von 7,4 Prozent. Aktuellere Daten des Statistischen Bundesamtes belegen die Fortsetzung des Trends: Im vergangenen Wintersemester waren 492.600 internationale Studierende eingeschrieben – rund 17 Prozent von insgesamt 2,87 Millionen.

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„Der international herausragende Anteil von Absolventinnen und Absolventen in MINT-Fächern zeigt, welches Potenzial wir haben“

Deutschland liegt damit unter den nicht englischsprachigen Ländern weltweit vorn, insgesamt auf Platz vier hinter den USA, Großbritannien und Australien. Studierende aus Asien bilden die größte Gruppe (44 Prozent), 31 Prozent kommen aus anderen europäischen Ländern. Dass in Deutschland in der Regel keine Studiengebühren gezahlt werden müssen, trägt zweifellos zur Attraktivitätssteigerung bei.

Auf den zweiten Blick zeigen die OECD-Daten aber eine Entwicklung, die politisch schmerzen muss: Die Kluft bei den Bildungsabschlüssen wächst. Der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Abitur oder Berufsabschluss stieg seit 2019 von 13 auf 15 Prozent. Gleichzeitig legte in Deutschland der Anteil der jungen Erwachsenen mit Hochschulabschluss von 33 auf 40 Prozent zu (OECD-Schnitt: 48 Prozent). Das bedeutet: Mehr Exzellenz oben – mehr Abgehängte unten. Auch beim Grundproblem sozialer Selektivität bewegt sich zu wenig: Herkunft und Familie beeinflussen in Deutschland weiterhin stark den Bildungserfolg; wie OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher in Stuttgarter Medien kritisierte, schneidet Deutschland bei der Chancengerechtigkeit schlechter ab als die USA.

Genau an dieser Bruchstelle setzen die Reaktionen der großen Lehrerverbände an. Der Deutsche Philologenverband (DPhV) begrüßt den MINT-Erfolg, warnt aber – angesichts großer Herausforderungen – vor Qualitätseinbrüchen im System. Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing sagt: „Die vorgeschlagenen politischen Maßnahmen wie etwa den Lehrkräftemangel vornehmlich durch Quereinstiege, eine verstärkte Nutzung außerschulischer Lernorte und digitale Bildungsangebote auszugleichen, greifen zu kurz. Sie verlagern das Problem – weg vom schulischen Lernort und qualifizierten Fachpersonal – hin zu externen und digitalen Lösungen.“

News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek

Der Verband fordert „die Beibehaltung und Sicherung des 24-monatigen Referendariats, das zunehmend verkürzt wird“. Diese Ausbildungsphase sei essenziell – fachlich wie pädagogisch. Lin-Klitzing wird grundsätzlich: „Der international herausragende Anteil von Absolventinnen und Absolventen in MINT-Fächern zeigt, welches Potenzial wir haben – wenn wir jetzt konsequent in unsere Lehrkräfte investieren. Quereinstiege und digitale Bildungsangebote sind kein Ersatz für eine fachlich fundierte Ausbildung in Studienseminar und Schule als zentralen Bildungs- und Ausbildungsräumen.“

Konkret verlangt der DPhV Entlastung im Schulalltag durch Bürokratieabbau, Möglichkeiten zur Altersteilzeit, präventiv-medizinische Angebote, eine Absenkung des Stundendeputats, kontinuierliche Fort- und Weiterbildungen – und eben das 24-monatige Referendariat mit professioneller Ausbildung.

Warum diese Forderungen für die MINT-Zahlen nicht randständig sind, sondern zentral: Die Zahl und Qualität der MINT-Abschlüsse beginnt nicht erst an der Hochschule. Sie entsteht über Jahre hinweg im Unterricht der Primar- und Sekundarstufe – in Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik, Technik – und steht und fällt mit der Qualifikation der Lehrkräfte. Eine solide Lehrkräftebildung stärkt das fachdidaktische Wissen, die Klassenführung, die Diagnostik und die individuelle Förderung. Genau diese Kompetenzen entscheiden darüber, ob Schülerinnen und Schüler in der kritischen Phase der Sekundarstufe I den Anschluss halten, ob sie Leistungskurse in der Sekundarstufe II wählen, ob sie sich MINT überhaupt zutrauen und dann erfolgreich durchs Studium kommen.

„Während die Bundesregierung heute MINT-Erfolge feiert, zeigen die Daten eine erhebliche Bildungsungerechtigkeit“

Verkürzte Ausbildungswege, dauerhafte Quereinstiege ohne systematische pädagogische Qualifizierung oder Überlastung durch hohe Deputate und Bürokratie erhöhen das Risiko von Unterrichtsausfall, fachlichen Lücken, sinkender Lernwirksamkeit – und am Ende von Studienabbrüchen. Wer also den MINT-Erfolg sichern will, muss die Pipeline stabilisieren: durch professionelle, ausreichend lange Ausbildung und gesunde, fortgebildete Lehrkräfte, die bleiben.

Die GEW richtet mit Blick auf die OECD den Scheinwerfer auf die Kompetenzkluft – und deren soziale Brisanz. Vorsitzende Maike Finnern sagt: „Ein Jahr nach dem Weckruf der GEW zum Bildungsbericht 2024 bestätigt die heute veröffentlichte OECD-Studie ‚Bildung auf einen Blick 2025‘ erneut: Deutschland versagt weiterhin bei der Chancengleichheit.“ Ihr Kernbefund: 145 Kompetenzpunkte trennen in Deutschland junge Erwachsene mit Hochschulbildung von jenen ohne Sekundarabschluss II. In der Gesamtbevölkerung beträgt die Kluft immer noch 75 Punkte. Deutschland gehört damit zusammen mit der Schweiz und den USA zu den Ländern mit den größten Kompetenzunterschieden nach Bildungsstand; Länder wie Spanien, Polen und Kroatien weisen deutlich geringere Abstände auf.

Finnerns politisches Fazit: „Während die Bundesregierung heute MINT-Erfolge feiert, zeigen die Daten eine erhebliche Bildungsungerechtigkeit. Diese extremen Unterschiede belegen, dass das Startchancen-Programm viel zu klein dimensioniert ist.“ Hintergrund: Zehn Milliarden Euro geben Bund und Länder in den nächsten zehn Jahren dafür aus, Schulen an besonders herausfordernden Standorten zu unterstützen. Die GEW fordert hingegen strukturelle Reformen (nämlich grundsätzlich davon weg zu kommen, Resourcen gleichmäßig mit der Gießkanne im Bildungssystem zu verteilen) und eine dauerhafte, deutlich höhere Finanzierung – orientiert an der Selbstverpflichtung von 2015 mit 10 Prozent des BIP für Bildung. Ihr Leitmotiv aus dem vergangenen Jahr bekräftigt Finnern ausdrücklich: „Nur wenn wir Ungleiches auch ungleich behandeln, können wir einen nennenswerten Beitrag dazu leisten, der sozialen Spaltung entgegenzuarbeiten.“

Damit ist der Blick auf die Finanzierungsseite unvermeidlich. Ja, Deutschland gibt pro Bildungsteilnehmer mehr aus als der OECD-Durchschnitt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt aber bleibt das Land mit 4,4 Prozent unter dem Niveau von Staaten wie Norwegen oder Großbritannien, die über 6 Prozent investieren. Diese Relativgröße zählt – denn sie zeigt, welchen Anteil der gesamtwirtschaftlichen Leistung eine Gesellschaft tatsächlich in Bildung umschichtet. Die OECD erinnert regelmäßig daran, dass „Bildung auf einen Blick“ weit mehr ist als ein Hochschulreport: Der Report betrachtet das System von frühkindlicher Bildung über Schule und Ausbildung bis zur Hochschule, berichtet über Personalschlüssel, Klassengrößen, Kosten und Erträge von Bildung. In der Summe ist das Bild für Deutschland klar zweigeteilt: starke MINT-Outputs an der Spitze, wachsende Ausfallrisiken am unteren Ende. News4teachers / mit Material der dpa

Hier lässt sich der vollständige Bericht “Bildung auf einen Blick” herunterladen. 

DGB-Chefin Fahimi zur Bildung: „Von echter Chancengleichheit sind wir meilenweit entfernt. Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit”

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