HAMBURG. Ein SS-Mann, der als Studienrat Französisch und Englisch unterrichtete – und dann zum Mörder wurde –, sowie zwei Gymnasien, die sich als Teil des Systems entpuppen: Drei aktuelle Recherchen verdeutlichen, wie tief Lehrkräfte in den Nationalsozialismus verstrickt waren.
Er trägt glänzende Stiefel, die Pistole in der Hand, den Blick fest auf sein Opfer gerichtet: Ein Foto aus dem Jahr 1941, aufgenommen in der ukrainischen Stadt Berdytschiw, ist längst zu einer Ikone des Holocaust geworden. Es zeigt einen Mann im SS-Uniformmantel, der gleich einen Juden am Rand einer Grube erschießen wird. Lange war unklar, wer der Täter ist. Nun hat ein Historiker den Schützen identifiziert – mit Hilfe künstlicher Intelligenz und der Angaben eines Verwandten. Der Mann auf dem Bild, so berichtet der „Spiegel“, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der deutsche Studienrat Jakobus Onnen, geboren 1906 in Ostfriesland.
Onnen hatte Französisch, Englisch und Sport unterrichtet, bevor er sich dem NS-Regime anschloss. Schon vor Hitlers Machtübernahme trat er der SA bei, ein Jahr später der SS. Später unterrichtete er an der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er in Polen eingesetzt, spätestens im Juni 1941 beging er seine ersten Morde. In Berdytschiw nahm er im September desselben Jahres an Massenerschießungen teil – und wurde damit selbst zum Gesicht eines der schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts. Von rund 20.000 jüdischen Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt überlebten nur 15. Der Studienrat selbst fiel 1943.
„Die Lehrkräfte waren eine Stütze des Systems“
Der Fall Onnen macht deutlich, wie sehr auch Pädagoginnen und Pädagogen in die Gewalt- und Mordmaschinerie des Nationalsozialismus verstrickt waren. „Die große Mehrheit der Lehrkräfte hatte eine enge Bindung an den Staat“, sagt Dr. Saskia Müller, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Bielefeld, in einem Interview mit der GEW Bayern. Sie hat sich in ihrer Dissertation mit dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) beschäftigt – und betont: „Es war nicht in erster Linie das plötzliche Ergebnis von Druck und Gewalt, sondern ein seit 1929 kontinuierlicher Prozess.“ Lehrkräfte hätten mit ihrer Haltung und ihrem Handeln das faschistische System stabilisiert – sei es durch Unterricht, Verbandsarbeit oder die Teilnahme an Verbrechen.
Dass die Auseinandersetzung mit der Rolle von Lehrkräften im NS-Staat noch immer neue Erkenntnisse bringt, zeigen jüngste Recherchen an Schulen in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein.
Bad Kreuznach: Eine Mädchenschule unter Kontrolle der NSDAP
Eigentlich wollten Petra Tursky-Hartmann und Annette Enders-Quaassdorff nur Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit am Lina-Hilger-Gymnasium (Lihi) in Bad Kreuznach zusammentragen. Doch im Schularchiv stießen die beiden ehemaligen Schülerinnen auf eine Akte aus der NS-Zeit, die neue Erkenntnisse brachte: Die Schule, die damals ein Mädchengymnasium war, war offenbar stärker regimetreu als bislang bekannt.
„Ich hatte gelernt, dass diese Schule nie gleichgeschaltet war. Es hat mich dann irritiert, als ich die Akte in der Hand hatte. Das passte nicht zu dem, was ich gelernt hatte“, sagt Tursky-Hartmann im Gespräch mit dem SWR. Trotzdem sei sie froh, jetzt die Wahrheit zu kennen. „Mir ist es lieber, auch wenn es schmerzt, die Wahrheit zu wissen.“
Die Akten enthalten Anweisungen der NS-Behörden an die Schulleitung: Welche Bücher gelesen werden sollten, welche Unterrichtsfächer – Biologie etwa wurde zu „Rassenkunde“ – eingeführt wurden. Auch die Mitgliedschaften von Lehrkräften in der NSDAP lassen sich rekonstruieren, ebenso die Schicksale derjenigen, die ihre Stelle verloren, weil sie den Vorgaben des Regimes nicht entsprachen. „Es sind noch viele Fragen offen“, sagt Enders-Quaassdorff. „Ich würde so gerne den alten Lehrern ein Gesicht geben.“
Nach den Sommerferien wird nun eine Arbeitsgruppe gebildet, die die NS-Geschichte der Schule weiter erforschen soll. Das Projekt ist offen für Lehrkräfte, Schüler und Ehemalige.
Heide: „Adolf-Hitler-Schule“ und ein Täter-Ort
Auch im schleswig-holsteinischen Heide haben Schülerinnen und Schüler ihre Schule in der NS-Zeit untersucht, wie der NDR berichtet. Das heutige Werner-Heisenberg-Gymnasium hieß von 1933 an „Adolf-Hitler-Schule“. Ein Geschichtskurs des elften Jahrgangs hat alte Unterlagen ausgewertet – Jahrgangsbücher, Mitteilungen der Schulleitung, Schüleraufsätze.
Schon kurz nach der Machtübernahme hatte der Direktor die Anweisung gegeben: „Zahl und Namen Schüler nicht-arischer Abstammung sofort einreichen.“ Der Deutschunterricht diente dem „glücklichen Gefühl, Deutscher sein zu dürfen“, in Biologie ging es um „ewige Blutsbande“. Eine Abituraufgabe aus dem Jahr 1934 lautete: „Deutschlands Lage ist sein Schicksal und seine Aufgabe.“ Ein Schüler schrieb dazu: „Dann wollen wir kämpfen für unser großes Volk, für unser Vaterland, kämpfen wie die Helden im Weltkrieg.“ Der Lehrer bewertete die Arbeit mit „gut“.
Für die heutigen Schülerinnen und Schüler ist die Lektüre dieser Quellen eine beklemmende Erfahrung. „Ich finde es schwer, zu differenzieren, was wirklich Meinung der Schüler war oder wie viel auch einfach aus Angst geschrieben wurde“, sagt die Elftklässlerin Emma Reiswig im Interview mit dem NDR. Ihre Mitschülerin Matilda Beyer ergänzt: „Ich habe es erschreckend gefunden, wie sehr die Schüler die herrschende Ideologie vertreten haben.“
Viele der damaligen Abiturienten zogen in den Krieg – und starben. Zehn Lehrer und 114 Schüler der Adolf-Hitler-Schule verloren bis 1945 ihr Leben. Heute erinnert eine Stolperschwelle vor dem Haupteingang an die Geschichte des Ortes. Sie wurde auf Initiative des Geschichtskurses verlegt, der für seine Arbeit mit einem Landespreis ausgezeichnet wurde.
„Keine Legendenbildung“ – die historische Verantwortung
Für Saskia Müller sind diese Beispiele symptomatisch: „Ein Problem ist, dass in der Auseinandersetzung über das Verhalten der Lehrkräfte oftmals nur der Druck und Terror hervorgehoben wird. Dahinter verschwindet, dass die Lehrkräfte eine bereitwillige Stütze des NS-Systems waren.“ Der Nationalsozialistische Lehrerbund dürfe nicht als Zwangsorganisation verharmlost werden. Vielmehr müsse die aktive Eingliederung der Lehrerinnen und Lehrer in das System benannt werden.
Auch nach 1945 setzten viele ihre Karriere fort – ohne dass ihre Vergangenheit umfassend aufgearbeitet wurde. „Die Mitgliedschaft im NSLB muss als Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation bewertet werden, die Teil des ausgeklügelten Herrschaftssystems war“, sagt Müller. Gerade deshalb sei eine kritische Betrachtung der eigenen Berufsgruppe notwendig – und könne zugleich helfen, heutigen antidemokratischen Strömungen entschieden entgegenzutreten. News4teachers
“Infames Propaganda-Manöver”: AfD-Chefin Weidel erklärt Hitler zum Linken
