„Das ist kein Unfall, sondern ein Fehler im System!” – Nächste Klatsche für die Bildung: die IQB-Studie (Reaktionen von Lehrern)

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BERLIN/FRANKFURT. Die Ergebnisse des neuen IQB-Bildungstrends lösen in der Bildungslandschaft eine Welle der Besorgnis aus. Mathematik und Naturwissenschaften – seit jeher Königsdisziplinen für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands – sind ins Rutschen geraten. Lehrkräfteverbände sprechen unisono von einer dramatischen Entwicklung. Doch die Ursachen, die sie benennen, unterscheiden sich teils deutlich (und mit ihnen die vorgeschlagenen Auswege). Wir haben die Positionen mal sortiert. 

Wie viele Runden noch? (Symbolfoto.) Foto: Shutterstock

„Das ist kein Unfall, sondern ein Fehler im System“, sagt Anja Bensinger-Stolze von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Der Abwärtstrend der Schülerleistungen habe sich „verschärft fortgesetzt“. Besonders alarmierend sei, „dass die Bildungsstandards im Fach Mathematik und in den Naturwissenschaften von noch weniger jungen Menschen im 9. Schuljahr erreicht werden als bei vorausgegangenen Studien“. Die soziale Schere klaffe zudem „immer weiter auseinander“.

Auch der Deutsche Philologenverband (DPhV) zieht eine düstere Bilanz: „In allen untersuchten Fächern werden die Regelstandards seltener erreicht und die Mindeststandards häufiger nicht erreicht als 2012 und 2018“, heißt es. Besonders besorgniserregend: „Knapp neun Prozent aller Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Fach Mathematik verfehlen den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss und etwa 34 Prozent den für den Mittleren Schulabschluss.“

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) konkretisiert: „Wenn ein Viertel der Jugendlichen, die im Alter sind, einen mittleren Schulabschluss zu erwerben, den Mindeststandard dafür in Mathematik über alle Schulformen hinweg verfehlt, dann ist das kein Zufall. Und wenn das 2018 nur bei 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Fall war, sendet das ein sehr deutliches Signal.“

Hinzu kommen, so der DPhV, „große Mental-Health-Probleme der Kinder und Jugendlichen, insbesondere nach der Corona-Pandemie“, eine „sinkende gesellschaftliche Leistungsorientierung“ sowie der „andauernde Lehrkräftemangel“. Der VBE spricht offen von „mentalen Auffälligkeiten der Generation“, die Schulschließungen und Distanzlernen erlebt habe. Diese Jugendlichen, so VBE-Vize Tomi Neckov, müsse man „in ihren Sorgen und Nöten sehen und sich angemessen um sie kümmern“. Das sei „keine Aufgabe für die Lehrkraft, sondern für dafür ausgebildete Therapeuten, Psychologinnen, Sozialarbeiter und Schulgesundheitsfachkräfte“.

Das Fundament bröckelt: Fachfremder Unterricht und Lehrkräftemangel

Ein zentrales Thema in fast allen Stellungnahmen: die Qualifikation der Lehrkräfte. „Ein erheblicher Anteil der Lehrkräfte in den getesteten Klassen verfügt nicht über eine Lehrbefähigung im jeweiligen Fach“, heißt es beim DPhV – „an Gymnasien rund 7 bis 9 Prozent, an nichtgymnasialen Schularten 14 bis 21 Prozent.“

Für DPhV-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing ist das kein Zufall: „Wird ein erheblicher Teil des Unterrichts in Mathematik und Naturwissenschaften von Lehrkräften ohne ausreichende Lehrbefähigung erteilt, sind die schlechten Ergebnisse der Studie nicht verwunderlich.“ Der Staat, so Lin-Klitzing weiter, „kann keine ausreichende Bildung der Schülerinnen und Schüler gewährleisten, wenn er selbst nicht professionell aus- und weiterbildet“.

Auch der VBE sieht darin die Wurzel des Problems. „Der neue IQB-Bildungstrend zeigt deutlich: Die Leistungseinbrüche sind Konsequenz von Mangelverwaltung und politisch vorangetriebener Entprofessionalisierung des Lehrkräfteberufs“, sagt Tomi Neckov. „Bis zu 20 Prozent der Lehrenden unterrichten fachfremd. Studien zeigen eine klare Korrelation: Je geringer die fachliche und didaktische Qualifikation, desto schwächer die Leistungen.“

Die GEW wiederum richtet den Blick auf die Folgen dieser Unterfinanzierung: „Das Bildungssystem in Deutschland ist seit Jahrzehnten deutlich unterfinanziert. In allen Bildungsbereichen, insbesondere in Kitas und Schulen, herrscht ein riesiger Fachkräftemangel.“ Statt bessere Bedingungen zu schaffen, verschärften manche Länder die Lage sogar noch: „Anstatt kleinere Klassen einzurichten, vergrößern sie diese“, kritisiert Bensinger-Stolze.

Was nun? Zwischen Professionalisierung, Investitionen und Leistungsforderung

Die Konsequenzen, die aus den Zahlen gezogen werden, fallen je nach Verband unterschiedlich aus. Die GEW fordert einen Kurswechsel in der Bildungspolitik: „Eine bedarfsgerechte Personalausstattung oder eine bessere Unterstützung der Schulen in sozial schwierigen Lagen sind nur mit höheren staatlichen Bildungsausgaben zu erreichen.“ Sie erneuert ihre Forderung nach einem 130-Milliarden-Euro-Programm für Bildung und einer gerechteren Mittelverteilung.

Der VBE dagegen ruft nach einer „Professionalisierungsoffensive“. Dazu gehören, so Neckov, „begleitete Qualifizierungsprogramme für den Seiten- und Quereinstieg mit verbindlichen Standards, strukturelle Entlastung der Schulen durch multiprofessionelle Teams und eine echte Personalplanung statt Mangelverwaltung“.

Der Deutsche Philologenverband geht noch einen Schritt weiter – und sieht den Ursprung der Misere in der „Vereinheitlichung und Verkürzung der Lehrkräftebildung“: „Fast alle Bundesländer haben die gymnasiale Lehrkräftebildung in polyvalente Bachelor-Master-Studiengänge verändert. Wer jedoch schon bei der Lehrkräftebildung spart und vereinheitlicht, spart in der Konsequenz auch die Leistungen der Schülerinnen und Schüler ein – zuungunsten unserer gemeinsamen Zukunft.“

Der Deutsche Lehrerverband (DL) wiederum legt den Fokus auf den Leistungswillen. Präsident Stefan Düll fragt: „Wie oft noch wollen wir uns solch alarmierende Befunde leisten? Wollen wir wirklich den Spitzenplatz Deutschlands als MINT-Nation aufs Spiel setzen?“ Statt „endloser Zuständigkeitsdebatten“ brauche es entschlossenes Handeln: „Schluss mit Systemstreitereien, Ideologiedebatten und Digitalpessimismus. Geben wir den jungen Leuten Zutrauen und Zumutung!“

Düll fordert eine „Schul- und MINT-Offensive“, Investitionen „von der frühkindlichen Förderung bis zur Hochschule“, in Begabtenförderung, Mental Health, Digitalisierung und moderne Schulgebäude. Und er mahnt: „Schulen müssen Orte sein, an denen Leistung zählt und Zukunft entsteht. Das kostet Geld. Leisten wir es uns endlich.“

Einig in der Diagnose – uneinig in der Therapie

In der Analyse herrscht seltene Einigkeit: Das System krankt an Dauerstress, Personalmangel und politischen Fehlsteuerungen. Doch über die Therapie streiten die Verbände.

Die GEW sieht die Ursache vor allem in sozialer Ungleichheit und Unterfinanzierung. Sie will das Schulsystem grundlegend umbauen – „weg von der frühen Aufteilung in unterschiedliche Schulformen“. Der VBE und der DPhV hingegen fokussieren die Qualität des Unterrichts und die Professionalisierung des Lehrberufs. Während der VBE von „Entprofessionalisierung“ spricht, warnt der DPhV vor der „Vereinheitlichung“ der Lehrkräftebildung und fordert eine Rückbesinnung auf die Besonderheiten des Gymnasiums.

Der Deutsche Lehrerverband setzt wiederum auf Leistungsorientierung und MINT-Stärkung – und grenzt sich damit von der GEW deutlich ab.

Was alle eint, ist die Diagnose: Das Fundament des Bildungssystems bröckelt. Lehrkräfte kämpfen mit der Last, Schülerinnen und Schüler mit den Folgen – und Deutschland mit seiner Zukunft. „Gute Bildung und gute Arbeit sind zwei Seiten einer Medaille“, sagt GEW-Vorständin Anja Bensinger-Stolze. Lehrerverbandschef Stefan Düll versucht sich in Optimismus: „Leistung zählt und Zukunft entsteht – wenn wir endlich handeln.“ News4teachers 

IQB-Bildungstrend: Warum es mit den Schulleistungen in Deutschland (weiter) bergab geht

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