Der IQB-Schock – und der Frust in den Schulen: „Ohne Trendwende werden auch viele Lehrkräfte nicht mehr lange durchhalten“

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DORTMUND. Deutschlands Schülerinnen und Schüler verlieren – so beobachtet es die Dortmunder Mathematikdidaktikerin Prof. Susanne Prediger – zunehmend den Spaß an der Mathematik und mit ihm die Grundlagen. Der neue IQB-Bildungstrend zeigt dramatische Einbrüche auf allen Leistungsebenen. Prediger, Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK, erklärt, warum die Entwicklung kein Zufall ist – und warum „Fördern“ in zu vielen Klassenzimmern offenbar mit „Schonen“ verwechselt wird.

Frustration. (Symbolfoto.) Foto: Shutterstock

„Mathematik kann so ein großartiges Fach sein, es eröffnet ganz andere Perspektiven auf die Welt!“, so bricht es aus Susanne Prediger heraus. „Mich macht es betroffen, dass nur so wenige junge Menschen dieses Fach mögen – und wir viele durch unzureichende Förderung verlieren.“ Die Mathematik-Didaktikerin, Professorin an der TU Dortmund, hat der Zeit ein großes Interview zum Zustand des Mathe-Unterrichts gegeben. Wir haben Zitate von ihr daraus mit Aussagen aus dem IQB-Bildungstrend zusammengebracht, der vergangene Woche erschienen ist und bundesweit Schülerleistungen in den MINT-Fächern vergleicht.

Und die Lage ist ernst. „Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2024 fallen besorgniserregend aus“, heißt es in einem Begleittext zur Studie. „In allen vier untersuchten Fächern werden die Regelstandards seltener erreicht und die Mindeststandards häufiger verfehlt als noch 2018 oder 2012. Im Fach Mathematik verfehlen insgesamt knapp neun Prozent aller Neuntklässler den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss und rund 34 Prozent den Mindeststandard für den Mittleren Schulabschluss.“

„Das sind katastrophale Ergebnisse im unteren Leistungsbereich“, kommentiert Prediger. „Auch im mittleren Bereich knirscht es. Selbst unter denen, die einen mittleren Schulabschluss anstreben, erreicht nur ein Drittel der Jugendlichen die Regelstandards in Mathematik. Am Gymnasium sind es nur noch zwei Drittel.“

„Ich frage mich tatsächlich, wo wir die Ingenieure und Techniker noch heranbilden“

Die IQB-Daten belegen: Es handelt sich nicht um ein Phänomen am unteren Rand, sondern um einen Einbruch auf allen Kompetenzniveaus. Von den ungünstigen Entwicklungen seien „nicht nur leistungsschwächere Jugendliche betroffen, sondern auch die Schülerinnen und Schüler, die den Mittleren Schulabschluss oder einen höheren Abschluss anstreben, einschließlich der Schüler an Gymnasien“.

Auch der obere Leistungsbereich schrumpft. „Ich frage mich tatsächlich, wo wir die Ingenieure und Techniker noch heranbilden“, sagt Prediger. „Denn auch im oberen Leistungsbereich gibt es Probleme. Nur zwei Prozent der getesteten Neuntklässler verfügen über eine flexible mathematische Kompetenz. Das sind die, die sich auch mal an Aufgaben wagen, die sie noch nie gesehen haben.“

Laut IQB zeigt sich ein bundesweiter Abwärtstrend: „In allen Ländern, für die Trends vorliegen, sind die mittleren Kompetenzen der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler seit 2018 gesunken. Besonders betroffen sind die Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen, Bremen und Berlin.“ „Damit lassen sich die Befunde nicht mehr schönreden“, warnt Prediger. „Drei Jahre nach der Pandemie sehen wir jetzt, dass wir die schulischen Defizite unserer Kinder und Jugendlichen nicht angepackt haben. Wir müssen aufpassen, dass wir solche Ergebnisse nicht nur noch routiniert hinnehmen.“

Ein weiterer Befund betrifft die soziale Herkunft der Kinder – und bestätigt Predigers Warnung, dass der Bildungserfolg in Deutschland weiterhin ungleich verteilt bleibt. „Der Lernerfolg hängt stark davon ab, in welche Familie ein Kind geboren wird und in welchem Stadtviertel es wohnt“, sagt sie.

Der IQB-Bericht bestätigt das: Es gibt weiterhin deutliche soziale Disparitäten. „Die Ergebnisse zeigen Zusammenhänge zwischen Merkmalen der sozialen Herkunft und erreichten Kompetenzen. Diese Unterschiede bestehen über die Jahre fort“, heißt es in dem Begleittext. Zwar hätten sich die negativen Trends „weitgehend unabhängig vom sozioökonomischen und zuwanderungsbezogenen Hintergrund“ gezeigt – doch gleichzeitig betonen die Forschenden, dass die mit sozialer Herkunft verbundenen Leistungsunterschiede bestehen bleiben und sich nur langsam verringern. „Es bleibt ein allgemein akzeptiertes bildungspolitisches Ziel, diese Disparitäten so weit wie möglich zu reduzieren.“ Nur: Erreicht wird es nicht.

„Wer das Pech hat, von einer Lehrkraft unterrichtet zu werden, die das Fach nie studiert hat, bei dem sinken die Chancen, gute Mathematikleistungen zu erreichen“

Auch die Qualität des Unterrichts spielt eine Rolle. „Außerdem hängt der Lernerfolg davon ab, welche Lehrkraft Kinder und Jugendliche vor sich haben – wie gut ihr gelingt, Lernende wirklich zum eigenständigen Denken zu bringen. Denn das wirkt sich erheblich darauf aus, was gelernt wird und was hängen bleibt“, so Prediger. Laut IQB berichten die Jugendlichen „häufiger als noch 2018 von einer geringeren Unterrichtsqualität, weniger Struktur und schwächerer Unterstützung durch Lehrkräfte“.

„Wer das Pech hat, von einer Lehrkraft unterrichtet zu werden, die das Fach nie studiert hat, bei dem sinken die Chancen, gute Mathematikleistungen zu erreichen“, sagt Prediger. „Die Zahl der Fachfremden, Quer- und Seiteneinsteigenden ist sogar in den neunten Klassen von 20 auf 30 Prozent gestiegen.“ Der IQB-Bericht bestätigt: „Ein wachsender Anteil des Unterrichts wird von Lehrkräften erteilt, die das entsprechende Fach nicht studiert haben. Dies kann die Unterrichtsqualität und die fachliche Förderung der Lernenden beeinträchtigen.“

„Wir haben erschreckend viele Fünftklässler, die nicht wissen, was Multiplizieren bedeutet“, sagt Prediger. „Wie quälend, jahrelang Rechenoperationen auszuführen, wenn man nicht versteht, was sie bedeuten.“ Im IQB-Bericht heißt es dazu: „Lernrückstände aus früheren Jahrgängen wirken sich bis in die Sekundarstufe I aus. Schülerinnen und Schüler mit schwachen Basiskompetenzen erreichen deutlich seltener die Regelstandards.“ „Es ist nie zu spät“, betont Prediger, „auch wenn das Schulsystem das Aufholen momentan nicht gut schafft. Wir wissen aus der Forschung, dass gezielte Förderung Effekte zeigt. Aber jede Bildungsetappe ist verantwortlich zu fragen: Wer liegt zurück, wer braucht Unterstützung?“

„Wir müssen dringend darüber reden, was es heißt, produktiv zu unterstützen. Wir dürfen Fördern nicht mit Schonen verwechseln“

„Der tägliche Unterricht führt viel zu oft nicht dazu, dass mehr gelernt wird“, so Prediger. „Lernende, die angeben, dass ihre Lehrkräfte ihnen viel Unterstützung zukommen lassen, zeigen zum Teil deutlich schlechtere Leistungen. Wir müssen dringend darüber reden, was es heißt, produktiv zu unterstützen. Wir dürfen Fördern nicht mit Schonen verwechseln.“

„Viele Lehrkräfte arbeiten bis zur Erschöpfung daran, alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen“, sagt sie weiter. „Da überlegt man sich Tricks, damit auch Jugendliche, die keine Ahnung haben, die Aufgabe richtig lösen. Am Ende können sie halt nichts.“ Der IQB-Bericht beschreibt das als paradoxes Muster: „Trotz intensiver individueller Förderung gelingt es vielerorts nicht, nachhaltige Lernzuwächse zu erzielen. Ein produktiver Umgang mit Fehlern und kognitiv aktivierende Unterrichtsformen sind entscheidend.“

In Nordrhein-Westfalen, Predigers Heimatbundesland, sieht es besonders düster aus. „Hier erreichen über 40 Prozent der Neuntklässler nicht die Mindeststandards in Mathematik. Schlechter schneidet nur noch Bremen ab“, heißt es im IQB-Bericht. Und: „In keinem anderen Land wird die Unterrichtsqualität so schwach eingeschätzt wie in NRW.“

„Da ist man schnell in einem Kreislauf“, beschreibt Prediger. „Bei vielen Störungen werden fachliche Lerngelegenheiten reduziert. Wenn nichts gelernt wird, gibt es mehr Frust und mehr Störungen. An vielen Schulen geht es inzwischen um die simple Frage: Können wir hier für mehr sorgen, als dass jedes Kind einen Stuhl hat und während des Unterrichts darauf sitzt?“

„Wenn die didaktischen Anforderungen wachsen, dürfen Lehrkräfte nicht alleingelassen werden“, fordert sie. „Aber jetzt arbeitet die Landesregierung daran, die Abwärtsspirale zu stoppen, und will Lehrkräfte fachbezogener unterstützen.“

In dem IQB-Begleittext heißt es dazu: „Zur Sicherung der Mindeststandards sollen Bund und Länder gezielte Programme wie die Startchancenschulen fördern. Ziel ist es, die Zahl der Risikoschülerinnen und -schüler innerhalb von zehn Jahren zu halbieren.“

Prediger hält das Ziel für „extrem ambitioniert“. Aber die Richtung stimme, sagt sie: „Wenn es gelingt, dass alle an diesen gemeinsamen Zielen arbeiten – Schulleitungen, Schulaufsichten, Fachberatungen –, dann gibt es Hoffnung auf eine Trendwende. Trendwende heißt ja erst mal, den Rückgang der Leistungen zu stoppen – damit es dann langsam wieder aufwärtsgehen kann. Ohne Trendwende werden auch viele Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr lange durchhalten.“ News4teachers 

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Unfassbar
2 Stunden zuvor

Hinweis: “Schonen” tut auch der Lehrplan, spätestens seit der Einführung des Zentralabiturs und der Kompetenzorientierung und noch viel deutlicher seit der Rückkehr zu G9, was den abgespeckten Lehrplan G8 nur auf neun Jahre ausschmiert.

“Schonen” ist auch bequemer für die Lehrer, weil das weniger Stress mit Eltern gibt.

“Schonen” ist weniger Aufwand in der Unterrichtsvorbereitung.

“Schonen” ist mit dem selbstorganisierten Lernen viel leichter vereinbar.

Gibt es eigentlich Argumente _gegen_ das “Schonen” aus Lehrersicht bei den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen in der durchschnittlichen Schule?

PatOber
1 Stunde zuvor

SchülerInnen haben vor lauter Lebensweltbezug das Rechnen verlernt. Selbst einfache Multiplikationen wie (-1)*(-3) oder Bruchmultiplikation beherrschen viele nicht sicher. Mathematik hieß früher Rechenunterricht – aus gutem Grund.
Selbst Abiprüfungen erfordern heute oft nur noch kurze Rechenschritte, dank Operatoren wie ERMITTELN oder BESTIMMEN oder gar ABSCHÄTZEN, zB eine Person steht neben einer zwei Meter großen Statue und geht ihr bis zur Schulter. Dann gibt es Punkte in einer Realschulprüfung dafür, dass ein Prüfling die Körpergröße auf 1,5-1,9m schätzt. Ich meine: das ist doch keine Mathematik der Klasse 10… das kann man mit Grundschülern machen!

Ich arbeite viel mit RealschülerInnen, die an das BG wechseln. Sie kommen mit super Noten, teilweise Einsen, sogar in den Prüfungen. Dann kommt die erste Klausur am BG (lineare Funktionen, Parabeln), also 90% Wiederholung und sie scheitern reihenweise. Nicht alle, aber viel zu viele. Und es sind nichtmal die Konzepte, die sie nicht verstehen, sondern die profanen Grundlagen: Umformen, Wertetabelle strukturiert anlegen, Klammerregeln, Rechenzeichen, Brüche, funktionales Denken. Bitte weniger Lebensweltbezug und wieder mehr das Handwerk in den Vordergrund stellen. SchülerInnen müssen rechnen können, wenn sie an die Oberstufe wechseln oder die Realschule verlassen.

GBS-Mensch
1 Stunde zuvor

„Lernende, die angeben, dass ihre Lehrkräfte ihnen viel Unterstützung zukommen lassen, zeigen zum Teil deutlich schlechtere Leistungen.”

„Trotz intensiver individueller Förderung gelingt es vielerorts nicht, nachhaltige Lernzuwächse zu erzielen. ”

Das scheinen mir doch ein paar interessante Befunde zu sein.

Man (Schüler, Eltern Kolleginnen aus allen Professionen) erträgt es nicht mehr, wenn nicht alles auf Anhieb gelingt oder einfach ist.
Und dann kümmert man sich zu Tode. Das Ergebnis nenne ich dann immer erlernte Hilflosigkeit, wenngleich das technisch nicht ganz korrekt ist.

Gibt es bei mir nicht, was auch schon der Anlass für die eine oder Andere Anfeindung aus verschieden Ecken war.

An manchen Tagen ist man überrascht, dass die Kinder laufen gelernt haben und nicht immernoch durch die Gegend getragen werden. Obwohl es bei den Lastenrandkindern irgendwie schon nahe dran ist.