BERLIN. Die Zahl der Jugendlichen, die ohne Abschluss die Schule verlassen, ist auf den höchsten Stand seit zehn Jahren gestiegen. 62.000 Schülerinnen und Schüler haben 2023/2024 in Deutschland ohne Hauptschul- oder vergleichbares Zeugnis die Schule verlassen – das sind 7,8 Prozent aller Abgängerinnen und Abgänger. Doch es gibt auch Gegenbeispiele: Jugendliche, die die Wende gerade noch geschafft haben. Wie kann das gelingen?

Weißer Anzug, breite Schultern, stolzer Blick: So steht Gabriel an diesem Tag auf der Bühne seiner Schule. Er ist Klassenbester – und das in einer Klasse, in der zunächst niemand mehr an einen Schulabschluss geglaubt hatte. Sein Vater hatte ihm versprochen: Wenn er Klassenbester wird, bekommt er den weißen Anzug. Gabriel hat Wort gehalten, und der Vater auch. Dass er diesen Weg einmal gehen würde, war lange ungewiss.
Denn Gabriel war (so berichtet es der SWR) drauf und dran, ohne Abschluss dazustehen. Aggressionen, familiäre Probleme, Drogen – die Liste der Hindernisse ist lang. „In der siebten, achten Klasse habe ich halt immer kurzsichtig gedacht. Ich habe nicht an die Konsequenzen meiner Taten gedacht“, erzählt er. Damals sei er „ziemlich reizbar“ gewesen, auch mal gegenüber Lehrkräften. „Das Familiendasein hat sich eben so ausgewirkt, dass ich die Konzentration auf mich selber verloren habe.“ Ein klassischer Abbrecher? Gabriel sagt heute: Nein. Irgendwann hat es „klick“ gemacht.
Wie viele Jugendliche sind betroffen?
Sein Schicksal steht exemplarisch für ein wachsendes Problem in Deutschland. Nach Daten des Statistischen Bundesamts haben im Schuljahr 2023/2024 rund 62.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen – so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Ein Jahr zuvor waren es noch knapp 56.000. Damit liegt die Quote bei 7,8 Prozent, im Vergleich zu 5,5 Prozent im Jahr 2013/2014.
Im historischen Vergleich zeigt sich: Es ist kein kurzfristiges Phänomen. Bereits 2006 waren es mehr als 75.000 Jugendliche, die ohne Abschluss blieben – damals entsprach das einem Anteil von acht Prozent. Danach gingen die Zahlen einige Jahre zurück, bis die Entwicklung sich umkehrte. Seit 2013 steigt der Anteil wieder an, mit Ausnahme der Corona-Jahre, in denen statistische Sondereffekte eine Rolle spielten.
Was diese Zahlen bedeuten, formulierte Sahra Wagenknecht, Vorsitzende des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), drastisch: „Jedes Jahr ein großes Fußballstadion mit Schülern ohne Schulabschluss – das ist ein Armutszeugnis für das Bildungssystem und hausgemachter Fachkräftemangel, wenn solche Potenziale verschenkt werden.“ Sie fordert einen Bildungsgipfel im Kanzleramt.
Wie konnte Gabriel trotz allem erfolgreich sein?
Dass die Statistik keine Schicksalsfrage sein muss, beweist Gabriel. Er hat die Kurve gekriegt – in der sogenannten KoA-Klasse („Keine/r ohne Abschluss“) an der Realschule Plus in Idar-Oberstein. Dieses Projekt in Rheinland-Pfalz ist für Jugendliche gedacht, die schon einmal gescheitert sind. Hier sitzen nur 15 Schülerinnen und Schüler, betreut von zwei Lehrkräften, in Räumen mit Sport- und Ruheecke.
Der Ansatz: kleine Lerngruppen, enge Betreuung, enge Verzahnung mit der Praxis. Gabriel absolvierte zwei Tage pro Woche ein Praktikum – unter anderem bei der Grünpflege einer Stadtverwaltung. „Ich hatte schon Bock auf das Schuljahr und ich wusste auch, dass ich es durchziehe“, sagt er rückblickend. Sein Plan: eine Ausbildung zum Garten- und Landschaftsbauer, später vielleicht ein eigener Betrieb. Für ihn war entscheidend: „Der Schulabschluss ist für mich selbst. Sobald man das gecheckt hat, dass es für sich selbst und nicht für jemand anderen ist, dann macht man das automatisch alles besser.“
Welche Ursachen sehen Experten für das Problem?
Warum aber gelingt es so vielen Jugendlichen nicht wie Gabriel? Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Stefan Düll, verweist auf fehlende Sprachkenntnisse, mangelnde Zugehörigkeitsgefühle oder schlicht fehlende Motivation. „Und dann gibt es diejenigen, die nicht die nötige Motivation haben, weil unsere Gesellschaft ihnen ja auch andere Optionen bietet“, so Düll. Dazu gehöre, dass man auch ohne Abschluss Geld verdienen könne – wenn auch nur als Hilfskraft.
Der Bildungsforscher Prof. Kai Maaz vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation sieht die Verantwortung nicht allein bei den Schülerinnen und Schülern. „Ausgetragen werden darf das nicht auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen“, mahnt er. Lernen baue auf Gelerntem auf, fehlende Basiskompetenzen ließen sich später kaum aufholen. Maaz fordert eine frühere Förderung, noch vor dem Schuleintritt. Außerdem brauche es spezifische Angebote für Jugendliche, die erst spät nach Deutschland gekommen sind und im Schulsystem keine Chance mehr hatten, Fuß zu fassen.
Welche Folgen hat die Entwicklung für die Gesellschaft?
Die Zahlen lassen aufhorchen – nicht nur wegen der individuellen Schicksale. Experten warnen vor massiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen. Laut Statistiken ist etwa ein Drittel der Langzeitarbeitslosen ohne Schulabschluss. Ein weiteres Drittel hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. In Zeiten, in denen über Fachkräftemangel geklagt wird, verschärft das Problem die Lage zusätzlich.
Für Wagenknecht ist das „hausgemachter Fachkräftemangel“. Doch auch andere Bildungspolitikerinnen und -politiker betonen, dass es nicht bei Schuldzuweisungen bleiben darf. Ohne gezielte Programme für gefährdete Jugendliche – wie in Rheinland-Pfalz – werde sich die Spirale weiterdrehen.
Was macht Lehrerin Julia Molter anders?
Genau hier setzt die Arbeit von Julia Molter an. Die 38-jährige Lehrerin und Konrektorin übernahm vor zwei Jahren die KoA-Klasse in Idar-Oberstein. Wie eine konventionelle Lehrkraft wirkt sie nicht: Sie trägt Tattoos, macht Pole-Dance, geht schießen – und hat zwei französische Bulldoggen, die sie regelmäßig mit in die Schule nimmt. Eine davon ist ein Therapiehund. „Meine Hündin ist ein ganz großer Gamechanger, weil da meistens der Zugang zu den Schülerinnen und Schülern besser gelegt ist“, erzählt sie. Manche kämen nur wegen des Hundes in die Schule – und blieben dann auch für den Unterricht.
Julia Molter betont gegenüber dem Sender SWR3: „Wir sind hier nicht die Resterampe.“ Ihre Schülerinnen und Schüler seien „Härtefälle“: psychische Belastungen, Drogen, Straffälligkeit, schwierige Familien. „Die bräuchten einfach jemand, der da ist, der nebendran ist, der ihnen hilft, zurück ins Geschehen zu kommen. Mehr bräuchten sie nicht.“
Wie sieht der Unterricht in Julias Klasse konkret aus?
Für Lehrkräfte interessant: Julia Molter kann ihren Unterricht viel freier gestalten, weil ihre Schülerinnen und Schüler die Regelschule bereits durchlaufen haben. Sie nutzt diese Freiheit, um praxisnahe Projekte einzubauen. Mal kümmert sich die Klasse um den Schulgarten, mal probiert sie sich in Musikprojekten aus. Der Unterricht ist dadurch lebensnah, projektorientiert und orientiert sich an den Interessen der Jugendlichen.
Hinzu kommt die besondere Struktur der KoA-Klasse: kleine Gruppen, Doppelbesetzung durch zwei Lehrkräfte, drei Tage Unterricht und zwei Tage Jahrespraktikum in Betrieben. Die Jugendlichen können so nicht nur schulisches Lernen nachholen, sondern auch direkt Erfahrungen im Berufsleben sammeln – und im besten Fall nahtlos in eine Ausbildung wechseln.
Die Gestaltung der Klassenräume trägt zur Atmosphäre bei: Neben Arbeitsplätzen gibt es eine Sport- und eine Ruheecke, die Rückzug und Bewegung ermöglichen. Gerade für junge Menschen mit Belastungen oder Konzentrationsproblemen ist das ein entscheidender Faktor.
Julia betont die Bedeutung von Geradlinigkeit und Strenge im angepassten Rahmen. Viele Jugendliche hätten zuvor das Gefühl gehabt, dass niemand klare Grenzen setzt. Mit Verbindlichkeit und gleichzeitig Verständnis schafft sie eine Struktur, in der Lernen wieder möglich wird.
Zentral ist für Julia die Beziehungsarbeit. Ihre Bulldogge ist dabei oft Türöffner. Doch auch sie selbst geht bewusst auf die Jugendlichen zu, nimmt ihre Biografien ernst und zeigt, dass sie an jeden Einzelnen glaubt. „Ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn einem etappenweise ein normaler Schulalltag schwer fällt.“ Ihre Haltung: Es geht nicht darum, vergangene Fehler abzustrafen, sondern Chancen neu zu eröffnen.
Worum geht es am Ende geht: Chancengerechtigkeit
Julia Molter macht klar, worum es ihr im Kern geht: Chancengerechtigkeit. Sie sagt: „Nicht jeder hat die gleichen Chancen. Sei es gesundheitlich, sei es sozial, sei es familiär, wie auch immer. Und nicht jeder hat die gleichen Voraussetzungen und Bildung muss da irgendwie einen anderen Weg einschlagen, damit man eben erst mal gleiche Voraussetzungen schaffen kann. Und da muss man eben auf diese verschiedenen Bedürfnisse auch eingehen können und gleiche Chancen generieren können.“ News4teachers / mit Material der dpa
Immer mehr Schüler und Schülerinnen verlassen in Deutschen die Schule ohne einen Schulabschluss. Dies ist indirekt die Folge einer nicht strukturierten Vermittlung des Lesen bis zum Ende der ersten Klasse. Das Erlernen des Lesen wird dabei häufig als Elternaufgabe auf diese abgeschoben, ohne dass diese in Teilen ausreiched Zeit oder gar über unzureichende oder gar keine Lesekompetenz verfügen. In der Folge wurden durch die Zunahme der Methode einer selbstgesteuerten Leselernvermittlung durch die Schüler die Ergebnisse immer schlechter, siehe Iglu-Lesestudien in der zeitlichen Abfolge der Jahre. Ein Viertel der Kinder erreichte 2021 beim Lesen nicht den international festgelegten Mindeststandard, der für das weitere erfolgreiche Lernen nötig wäre. Das geht aus der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU 2021) hervor, die am 16. Mai 2023 veröffentlicht wurde. Die internationale IGLU-Studie bestätigt damit die Befunde des nationalen IQB-Bildungstrends 2021. Entsprechend erreichen nachfolgend Kinder der Neunten Klassen nicht die erforderlichen Standard, um einen Schulabschluss zuerlangen. Bundesweit 32,5 Prozent der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Fach Deutsch erreichen nicht den Mindeststandard im Lesen für den MSA, 16 Prozent mehr als sieben Jahre zuvor. Das geht aus dem IQB-Bildungstrend 2022 zu den sprachlichen Kompetenzen hervor. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern.
https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/#die-wichtigsten-ergebnisse-zum-iqb-bildungstrend-2022
“in Deutschland die Schule” sollte da stehen.
Diese KoA-Klasse erscheint mir ähnlich wie das BVJ-Neustart.
Allerdings würden nach meinen Informationen junge Menschen, die einen ESA über eine KoA-Klasse erwerben statistisch als “mit Abschluss” erfasst, die Pendants mit ESA übers BVJ als “ohne Abschluss”, da Schulabschlüsse im beruflichen Schulwesen in den gängigen Statistiken außen vor bleiben.