
Der Vorfall hat vor einem knappen halben Jahr für Schlagzeilen gesorgt: Bei einer anonymen Abstimmung über ein Abiturmotto an der Gießener Liebigschule wird ein Vorschlag im Nazi-Jargon am besten von den Schülern bewertet. Intern gilt der Vorfall als aufgeklärt, und das hessische Kultusministerium verweist auf eine verstärkte Extremismusprävention. Doch an anderen Schulen häufen sich ähnliche Probleme, wie das «Beratungsnetzwerk Hessen» mit wachsender Sorge sieht.
Der damalige Jahrgang 12 der Liebigschule hatte im Mai auf einem anonymen Portal Vorschläge für Abi-Slogans gesammelt. Dabei waren nach Darstellung der Schule antisemitische, rassistische und diskriminierende Ideen geäußert und ebenfalls anonym mehrfach positiv bewertet worden – darunter etwa die Formulierung «NSDABI – Verbrennt den Duden» – in Anspielung auf die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP).
Vorfall intern aufgeklärt
Als dies bekannt wurde, seien erst einmal alle geschockt gewesen, sagt Schulleiter Dirk Hölscher. Die Schüler selbst hätten relativ schnell reagiert und die Abstimmung unterbunden. Wer hinter den fraglichen Vorschlägen steckte, ist laut Hölscher bekannt. «Das ist intern alles geklärt» – noch liefen aber Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Lehrkräfte aller Leistungskurse der Schule thematisierten den Vorfall im Unterricht, wie auch das hessische Kultusministerium erklärt. «Zudem arbeitet die Schule den Vorfall gemeinsam mit externen Partnern durch Workshops und Vorträge auf.» Exemplarisch nannte das Ministerium die Teilnahme am Schulentwicklungsprogramm «Gemeinsam:Schlau» der Frankfurter Crespo Foundation, die nach eigenen Angaben dafür eintritt, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu leben und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten.
Zahlreiche Angebote
Ein im Rahmen des Programms geschultes Lehrkräfte-Team habe an der Liebigschule bereits mehrere Workshops gegen Rassismus und Diskriminierung durchgeführt. Hinzu kämen Lesungen von Geflüchteten, die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen, die regelmäßige Behandlung aktueller Ereignisse im Zusammenhang mit Antisemitismus und Rassismus sowie Nationalsozialismus und Holocaust im Unterricht und weitere Angebote.
Aus Sicht von Schulleiter Hölscher haben die Aufarbeitung und auch die zusätzlichen Angebote vor allem die Sprachsensibilität an der Schule gestärkt. Auch gebe es Überlegungen, wie die Schulgemeinschaft gemeinsam während der für das letzte Novemberwochenende in Gießen geplanten Gründungsversammlung der neuen AfD-Jugendorganisation Haltung zeigen könne. Im Gespräch sei, Transparente aufzuhängen, die sich für Meinungsfreiheit und Menschenwürde und gegen Rassismus aussprechen.
Vorfälle «Teil des Schulalltags»
Der Leiter des Demokratiezentrums Hessen, Reiner Becker, sieht das Engagement der Schule bei der Aufarbeitung positiv. Doch wie sieht es an den anderen Schulen im Bundesland aus? Erst kürzlich hatte das mit dem Demokratiezentrum verbundene «Beratungsnetzwerk Hessen» über eine Rekordzahl von Beratungsanfragen im vergangenen Jahr und einer Häufung der Anfragen von Schulen berichtet, die mittlerweile «Teil des Schulalltags» seien, sagt Becker.
Von Parolen im Klassenzimmer über Hakenkreuzschmierereien, Beleidigungen oder Drohungen gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund – das Spektrum sei breit und gerade Schulen im Bundesland stünden für die Beratungsteams derzeit im Fokus. Selbst für Grundschulen gebe es bereits entsprechende Anfragen.
Schulen als Spiegel gesellschaftlicher Polarisierung
Für Becker spiegeln sich darin die gesellschaftliche Polarisierung, eine Gewöhnung an rechte Diskurse, die Lust auf Provokationen und Selbstdarstellung in Social Media wider. Für all diese gesellschaftlichen Entwicklungen sei Schule «ein Austragungsort». Hinzu komme: «Wir haben es mit einem sehr starken jugendlichen Rechtsextremismus wieder zu tun» – das mache sich auch in den Bildungseinrichtungen bemerkbar. Rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen würden dort mittlerweile sicherer und selbstbewusster vorgetragen.
Für Vorfälle wie an der Liebigschule sollten sich Schulen aus Sicht Beckers deshalb wappnen – auch strukturell. Dazu gehörten Ansprechpartner, an die sich Schüler in solchen Fällen wenden können bis hin zu einer Offenheit für das Thema seitens der Schulleitung, die nicht abwiegeln sollte. «Das hört sich so banal an, aber das ist sehr, sehr entscheidend», sagte Becker. Von Christine Schultze, dpa
Kommt es zu extremistischen Vorfällen an Schulen in Hessen, sind laut Kultusministerium der Verfassungsschutz und die Polizei zu informieren, sofern es sich um strafbare Handlungen handelt. Zudem muss die Schulaufsicht zu allen «extremistischen, antisemitischen sowie alle anderen Vorfälle auf Religion bezogener Diskriminierungen» eingeschaltet werden.
Als Hilfestellungen gegen Rechtsextremismus bietet das Land beispielsweise die Handreichung «Grundrechtsklarheit, Wertevermittlung, Demokratieerziehung». Sie soll Lehrkräfte im Umgang mit antidemokratischen Positionen stärken.
Über das Projekt «Netzwerk-Lotsen Antisemitismus-/Extremismusprävention» des Kultus- und des Innenministeriums werden Lehrkräfte, Schulleitungen und Schulsozialarbeiter in der Prävention geschult, um im Schulalltag bei Konfliktfällen agieren zu können. Weitere Präventionsangebote gibt es unter anderem bei Polizei und Landesamt für Verfassungsschutz sowie über das «Beratungsnetzwerk Hessen».
Wie umgehen mit mehr Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt an Schulen?









naja naja
Handlungsbedarf besteht m.E. zweifellos
aber ich halte diese religiös anmutenden Rituale (Lesungen, Teilnahme an Gedenkveranstaltungen, “Haltung” zeigen etc. pp.) für wenig geeignet des Problems Herr zu werden. Unterm Strich sind es Bekenntnisrituale um zu zeigen, man Stünde auf der vermeintlich richtigen Seite.
Auch der Sprachgebrauch der Rassisten hat sich geändert. Der “Neudeutsche”, der (ironisch gemeinte) “Facharbeiter” oder ersetzen längst alte, abgedroschene Begriffe für Migranten. In FFM spricht man recht offen vom “Schwarzwild” – gemeint sind die Eritreischen Drogendealer…
Es fehlt ja schon am Bekenntnis, das Rassismus etc. in der Gesellschaft tief verwurzelt und verankert sind (wie es die neue Mitte-Studie ja einmal mehr gezeigt hat). Rassisten und böse sind immer die anderen.
Solange man an den materiellen Gegebenheiten nichts ändert, werden sich Rassisten & Co. auch immer neue Sprach-Stile, neue Codes und Symbole einfallen lassen
Ja, Gedenken früherer Verbrechen stört einige in Deutschland…
“Rassisten und böse sind immer die anderen.”
Rassist:innen sind meistens Menschen, die etwas Rassistisches sagen 😉
Vielleicht sind das alles auch nur Taucher:innen… (augenroll)
Ich begrüße ausdrücklich, dass sich die Schulen Rat suchen, wo die Politik nicht liefern will, aber die verblüffte Überraschung kann ich nicht mehr teilen
Unsere Erfahrung: Wenn Elternhaus und/oder Peergroup extreme Ansichten (egal welcher Art) vertreten, tut es das Kind auch und zeigt sich wenig offen für Gegenentwürfe. Ich vergleiche das immer gerne mit der Fanszene von Fußballvereinen. Oft favorisiert das Kind denselben Verein wie die Eltern. Und während es Fans gibt, die einfach nur Freude an Sport und Spiel haben, gibt es extreme Auswüchse, die sich prügeln und aufeinander losgehen.
Wie man dem Herr wird? Indem man an die Emotionen rangeht, Begegnungen schafft und ein Miteinander ermöglicht. Das möge Schulen besser gelingen, als Fußballvereinen.