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Ziffernnoten abschaffen? Unrealistisch! DIPF-Bildungsforscher Kai Maaz über notwendige Reformen – und ihre Grenzen

DÜSSELDORF. Wie viel Veränderung ist im deutschen Schulsystem überhaupt möglich – und wo sollte man beginnen? Im zweiten Teil des News4teachers-Interviews spricht Bildungsforscher Kai Maaz vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation über den Streit um Noten, Hausaufgaben und individuelle Lernzeiten – und erklärt, warum Reformen nur funktionieren, wenn Schulen, Politik und Wissenschaft gemeinsam handeln.

Hier geht es zu Teil 1 des Interviews.

Happy Zeugnis. Illustration: Shutterstock

News4teachers: Eine Empfehlung des Bürgerrats Bildung und Lernen lautet ja, Ziffernnoten erst ab Klasse 9 zu vergeben und davor auf individuelle Feedbackgespräche zu setzen. Viele Mitglieder haben dieser Idee zugestimmt. Halten Sie diesen Vorschlag für umsetzbar?

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Maaz: Ich sehe das eher skeptisch, weil es dafür aktuell keinen gesellschaftlichen Konsens gibt. Man müsste sich zum Beispiel fragen: Wenn wir Noten erst ab Klasse 9 einführen – was ist dann mit denjenigen, die nach Klasse 9 mit dem ersten Schulabschluss abgehen? Für sie wäre das erste Mal, dass sie benotet werden, gleichzeitig das letzte Mal.

Deshalb spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, schon früher Noten zu vergeben – solange die gesellschaftliche Notwendigkeit dafür gesehen wird. Wichtig ist nur, dass Noten immer flankiert werden durch andere Formen des Feedbacks: digitale, datengestützte oder persönliche Rückmeldungen. Daraus lernen Kinder in der Regel viel mehr als aus einer reinen Ziffernnote.

Darum glaube ich: Ein vollständiges Abschaffen von Noten ist genauso unrealistisch wie die Vorstellung, das Gymnasium abzuschaffen und eine Einheitsschule für alle einzuführen – auch wenn man es aus pädagogischer Perspektive für sinnvoll halten könnte.

Man muss außerdem ehrlich sagen: Wenn man Noten abschafft, braucht man sehr gute Konzepte, wie Leistungen und Entwicklungen dokumentiert werden können. Und das ist deutlich aufwendiger als eine Ziffernnote. Dann muss man Lernen und Prüfen konsequent zusammendenken: Welche Rahmenbedingungen brauchen Lehrkräfte? Welche Qualifizierungen sind notwendig?

Gerade in Grundschulen sieht man ja oft: Offiziell gibt es in Klasse 1 und 2 keine Noten, aber stattdessen Smileys – von „lacht“ bis „traurig“. Im Kern ist das auch nichts anderes als eine visuelle Ziffernnote. Deshalb muss man hier tiefer einsteigen.

Für Eltern ist die einfache Rückmeldung oft attraktiv: eine 1 ist sehr gut, eine 2 gut, eine 3 na ja. Ein sprachliches, individuelles Feedback ist viel differenzierter, erfordert aber auch die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Und was ich auf keinen Fall sinnvoll fände, wäre, wenn solche Rückmeldungen irgendwann so verschlüsselt wären wie Arbeitszeugnisse, wo man Codes entschlüsseln muss, um die eigentliche Botschaft zu verstehen. Darauf sollten wir keine Energie verwenden.

„Hausaufgaben sind nicht immer zielführend.“

News4teachers: Eine weitere Forderung des Bürgerrats lautet, Hausaufgaben abzuschaffen und stattdessen Vertiefungsstunden in der Schule einzuführen – also Lernen vollständig in die Schule zu verlagern. Das Ziel dahinter: die Chancengerechtigkeit zu verbessern. Haben Sie über solche Ansätze in Ihrer Expert*innengruppen ebenfalls diskutiert, oder spielte das Thema keine Rolle?

Maaz: Wir haben das Thema Hausaufgaben zwar nicht explizit behandelt, aber es gibt natürlich eine breite Forschungslage dazu. Und die zeigt: Hausaufgaben sind nicht immer zielführend. Wenn man genau hinschaut, ist auch nicht immer eindeutig, wer sie tatsächlich erledigt hat – oft sind das eben nicht die Kinder selbst.

Ich würde unterscheiden: Lernen für die Schule in bestimmten Bereichen ist wichtig, das will niemand ausschalten. Aber dieses dröge Abarbeiten von einheitlichen Hausaufgaben für 25 Kinder, die sich über das gesamte Leistungsspektrum verteilen, ergibt wenig Sinn.

Wenn dagegen ein gutes Ganztagsangebot vorhanden ist, sind sogenannte Vertiefungsmomente viel zielführender. Dort kann das Kind an der Leistungsspitze gezielt weiterarbeiten, während andere, die noch Schwierigkeiten haben, an den Grundlagen üben. So bekommt jedes Kind die Förderung, die es braucht.

Das setzt allerdings voraus, dass sich auch der Unterricht verändert. Er kann sich dann nicht mehr am „Durchschnitt“ der Klasse orientieren, sondern muss bewusst auf Differenzierung im gesamten Leistungsspektrum ausgerichtet sein.

News4teachers: Aus meiner Sicht besteht die größte Gemeinsamkeit zwischen den Empfehlungen Ihrer Expert*innengruppe und denen des Bürgerrats Bildung und Lernen darin, den Bildungsprozess stärker zu individualisieren – weg vom Gleichschritt hin zu mehr Eigenverantwortung im Lernen. Haben Sie das auch so wahrgenommen? Wo sehen Sie die größten Überschneidungen?

Maaz: Ja, ich würde schon sagen, dass das ein Thema mit sehr großen Schnittmengen ist. Individualisierung heißt für mich dabei aber nicht, dass jedes Kind ausschließlich für sich allein arbeitet. Vielmehr braucht es eine Mischung: Phasen, in denen die Kinder individuell arbeiten, Phasen, in denen sie mit anderen zusammenarbeiten, und Phasen, in denen gemeinschaftlich und instruktiv gelernt wird. Die Balance zwischen diesen Elementen zu finden, ist entscheidend – und darin liegt eine große Chance.

Gleichzeitig gilt: Wer Freiheit über das eigene Lernen erhält, braucht auch bestimmte Voraussetzungen. Studien zeigen: Projektorientiertes oder fächerübergreifendes Lernen ist wunderbar – aber gerade leistungsschwächere Kinder oder Kinder aus benachteiligten Familien können dabei leichter zurückfallen. Deshalb müssen solche offenen Lernformate gut vorbereitet, eng begleitet und klar abgeschlossen werden.

Das zeigt sich auch beim Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulen. Kinder, die schon in den ersten vier bis sechs Jahren Erfahrungen mit selbstgesteuertem Lernen gemacht haben, kommen in offenen Selbstlernphasen sehr gut zurecht – egal, ob am Gymnasium oder an einer Gesamtschule. Kinder hingegen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben, sind schnell überfordert.

Wenn wir also mehr Freiheit und Eigenverantwortung im Lernen ermöglichen wollen, müssen wir die hohen Anforderungen, die damit verbunden sind, immer mitdenken. Sonst riskieren wir, dass viele Kinder scheitern.

„So merken Schulen und Lehrkräfte auch: Wir sind nicht allein, sondern Teil eines größeren Prozesses.“

News4teachers: Eine dazu passende Forderung findet sich auch wieder in den Empfehlungen des Bürgerrats mit dem Titel „Freiheit erlernen – Schritt für Schritt“. Woran liegt es, dass, wenn Bürger*innen und Expert*innen unabhängig voneinander nach Möglichkeiten suchen, das Bildungssystem zu verbessern, sie zu ähnlichen Ergebnissen kommen?

Maaz: Weil die unterschiedlichen Gruppen letztlich das gleiche Ziel verfolgen. Insofern finde ich es sehr positiv, dass wir große Schnittmengen haben. Wichtig wäre nun, diese einzelnen Punkte noch stärker in den gegenseitigen Austausch zu bringen.

News4teachers: Wie müsste es jetzt also weitergehen, damit sich tatsächlich etwas verändert?

Maaz: Mit dem kleinen Video, das ich am Anfang erwähnt hatte, haben wir in dieser Richtung aus meiner Sicht schon einiges erreicht: Die Schule, in der wir den kleinen Film gedreht und deren neue Lern- und Prüfungskonzepte wir vorgestellt haben, wurde regelrecht mit Hospitationsanfragen überhäuft. Das zeigt, dass wahrgenommen wird, wie man auch unter den gegebenen Bedingungen Dinge anders machen kann.

Wir hatten zudem einen Fachtag mit guter Beteiligung – auch von bildungspolitischer Seite. Ich glaube, es geht jetzt weniger darum, ständig neue Empfehlungen zu formulieren, sondern vielmehr darum, an den Umsetzungsstrategien zu arbeiten. Wichtig ist dabei auch, diese Strategien transparent zu machen: Was funktioniert an einem Standort? Was funktioniert an einem anderen nicht? So müssen wir ähnlich wie im föderalen System – nicht jeden Fehler immer wieder neu machen. Oft sind die Herausforderungen in verschiedenen Bildungsregionen ähnlich, egal ob im Norden, Süden, Osten oder Westen. Dieses Wissen verfügbar und vergleichbar zu machen, halte ich für entscheidend.

So merken Schulen und Lehrkräfte auch: Wir sind nicht allein, sondern Teil eines größeren Prozesses, in dem viele gemeinsam versuchen, das System von innen heraus zu verändern und zu verbessern. Gleichzeitig braucht es aber auch von Seiten der Bildungspolitik und -administration eine klare Idee: Wo soll das System in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren eigentlich hin? Dafür müssen Weichen gestellt werden – weg vom reaktiven Handeln, hin zum proaktiven Gestalten.

Das gelingt nur, wenn man sich zusammensetzt und die unterschiedlichen Akteursgruppen einbindet. Es reicht nicht, wenn allein die Wissenschaft die Politik berät – so wichtig dieser Input ist. Wir brauchen eine breite Basis der Verständigung über die nächsten Schritte. News4teachers / Laura Millmann, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Hier geht es zurück zu Teil eins des Interviews. 

Bürgerrat-Talk über Schulnoten: Gerechter bewerten – oder bewährtes System behalten?

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