MÜNCHEN. Ein Zahnstocher im Mundwinkel, lässig gekippt wie bei einem Westernhelden – was auf TikTok millionenfach als harmloser Style inszeniert wird, hat an einer Münchner Realschule inzwischen zu einem Verbot geführt. Lehrkräfte beobachteten, wie Siebt- und Achtklässler im Unterricht mit Zahnstochern im Mund saßen, „wie kleine Cowboys“, wie der Konrektor der Schule gegenüber dem Bayerischen Rundfunk schilderte. Was zunächst wie eine schräge Modeerscheinung wirkte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Teil eines deutlich größeren Problems: virale TikTok-Trends, die bis in den Schulalltag hineinreichen – und im schlimmsten Fall Gesundheit und Leben von Kindern und Jugendlichen gefährden.

Der Zahnstocher steht dabei exemplarisch für die neue Dynamik, mit der sich Trends über soziale Netzwerke verbreiten. Auf TikTok und Instagram zeigen Prominente wie der Sänger Shawn Mendes oder der Schauspieler Ryan Phillippe den Zahnstocher im Mund als cooles Accessoire. Doch längst geht es nicht mehr nur um Holzstäbchen zur Zahnreinigung. Parallel dazu werden sogenannte Nikotinzahnstocher beworben – kleine Hölzchen, die mit Aromastoffen versetzt sind und beim Lutschen Nikotin abgeben.
Die Münchner Suchtmedizinerin Andrea Rabenstein vom LMU-Klinikum warnt im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk vor dieser Entwicklung. In einem einzigen Nikotinzahnstocher steckten zwei bis sechs Milligramm Nikotin, erklärte sie, während eine Zigarette etwa zwei Milligramm enthalte. Besonders besorgniserregend sei, dass diese Produkte zunehmend von nikotinunerfahrenen Jugendlichen genutzt würden, obwohl sie ursprünglich als Hilfsmittel zum Rauchstopp vermarktet würden.
In Deutschland sind solche Nikotinzahnstocher offiziell nicht erhältlich, über ausländische Online-Shops jedoch problemlos zu bestellen, wie der Bayerische Rundfunk weiter berichtet. Für Schulen entsteht dadurch ein kaum lösbares Kontrollproblem: Normale, aromatisierte Zahnstocher und nikotinhaltige Varianten sind äußerlich kaum zu unterscheiden.
“Die Schulen brauchen ein waches Auge, damit sie dann ganz individuell reagieren können”
Die Münchner Carl-Linde-Realschule zog daraus die Konsequenz und verbot Zahnstocher generell. Konrektor Harald Kraus schilderte, mehrere Lehrkräfte hätten ihn auf das Phänomen aufmerksam gemacht, nachdem vermehrt Schülerinnen und Schüler mit Zahnstochern im Mund im Unterricht saßen. Ein Schritt, den das Münchner Bildungsreferat für nachvollziehbar hält. Florian Kraus, Bildungsreferent der Stadt München, erklärte gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: “Solche Trends entwickeln sich natürlich mit den sozialen Medien jetzt viel schneller, als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Deshalb brauchen die Schulen auch ein waches Auge, damit sie dann ganz individuell reagieren können.” Ein flächendeckendes Verbot an allen Münchner Schulen sei jedoch nicht geplant.
Ob es sich bei den Zahnstochern tatsächlich um einen größeren Trend handelt, ist bislang unklar. Auch Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, mahnt zur Zurückhaltung. Sie sprach laut Bayerischem Rundfunk von einem „Henne-Ei-Problem“: Durch die mediale Berichterstattung seien Lehrkräfte sensibilisiert worden und hätten Fälle gemeldet. Evidenzbasiert lasse sich jedoch nicht sagen, ob es sich um einen flächendeckenden Trend in Bayern handele. Das Bayerische Kultusministerium teilte auf Anfrage mit, schulartübergreifend lägen keine weiteren Erkenntnisse zu entsprechenden Fällen vor.
Doch selbst wenn der Zahnstocher-Hype bald wieder verschwinden sollte, bleibt das Grundproblem bestehen. Schulen haben seit Jahren regelmäßig mit problematischen TikTok-Trends zu kämpfen. So wurden mehrere Amokdrohungen an Schulen in Deutschland und der Schweiz von der Polizei auf TikTok-Challenges zurückgeführt, wie aus Berichten von Sicherheitsbehörden hervorgeht. Auch Vandalismus auf Schultoiletten kursiert immer wieder als Trend: Schülerinnen und Schüler verstopfen Toiletten oder beschädigen sie gezielt und stellen Videos davon online. In besonders drastischen Fällen wurden sogar Schultoiletten angezündet – offenbar ebenfalls ausgelöst durch entsprechende Challenges –, was zu Schäden im fünfstelligen Bereich führte.
Wie das Hessische Kultusministerium erläutert, folgen diese Trends meist einem ähnlichen Muster. Auf Plattformen wie TikTok oder YouTube werden Mutproben präsentiert, die durch ihren Aufforderungscharakter schnell zu Trends werden. Videos können direkt an andere weitergeleitet werden, etwa über AirDrop, oder einzelne Nutzerinnen und Nutzer werden gezielt nominiert. Die Teilnehmenden filmen sich, teilen die Videos und hoffen auf Likes und Anerkennung. Innerhalb der Community werden solche Aktionen oft als mutig oder sportlich bewertet. Gerade bei Jugendlichen kann das erheblichen Druck erzeugen, mitzumachen, um positives Feedback zu erhalten.
Dabei können Challenges durchaus einen harmlosen oder kreativen Charakter haben. Andere jedoch sind gesundheitsgefährdend oder sogar lebensbedrohlich, wie das Kultusministerium warnt. Dazu zählt etwa die sogenannte Schultoiletten-Challenge, bei der Toilettenpapier angezündet wird – eine Handlung, die nicht nur gefährlich ist, sondern auch den Straftatbestand der Brandstiftung erfüllt. Gesundheitsgefährdend ist auch die Cinnamon-Challenge, bei der ein Löffel Zimtpulver geschluckt wird, was zu Verschlucken und akuter Atemnot führen kann. Die Salt-and-Ice-Challenge zielt bewusst darauf ab, Kälteverbrennungen zu provozieren.
Besonders gefährlich ist das sogenannte Würgespiel, auch als Choking- oder Pilotentest-Challenge bekannt. Dabei kommt es durch Druck auf Brust oder Hals sowie durch kontrollierte Hyperventilation zu Sauerstoffmangel im Gehirn, der einen rauschartigen Zustand oder Ohnmacht auslösen kann. Ebenfalls hochriskant ist die Paracetamol-Challenge, bei der Jugendliche bewusst über der zulässigen Dosierung Schmerzmittel einnehmen und darüber berichten. Laut der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft können dabei irreversible Leberschäden entstehen, deren Symptome sich oft erst 24 bis 48 Stunden nach der Einnahme zeigen – dann jedoch bereits lebensbedrohlich sein können.
Hinzu kommen mögliche rechtliche und finanzielle Folgen. Wie das Hessische Kultusministerium ausführt, stellt der Missbrauch von Notrufen oder das Vortäuschen von Straftaten eine Straftat dar, die mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet werden kann. Zusätzlich können Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden, etwa für Polizeieinsätze oder Feuerwehreinsätze. Auch sogenannte Pranks, bei denen Streiche gefilmt und online gestellt werden, können für die Betroffenen belastend oder gefährlich sein, insbesondere wenn Angst, Ekel oder Verwirrung ausgelöst werden und die Videos eine große Reichweite erzielen.
Schülerinnen und Schüler wünschen sich ausdrücklich, dass problematische Challenges im Unterricht thematisiert werden
Fachstellen betonen, dass Verbote allein nicht ausreichen. Kinder und Jugendliche messen und vergleichen sich, sie suchen Herausforderungen und Anerkennung – das gehört zum Erwachsenwerden. Problematisch wird es, wenn Gruppendruck dazu führt, dass gefährliche Mutproben eingegangen werden. Schule ist ein zentraler Ort, um über solche Dynamiken zu sprechen. Wie die Beratungsplattform „Ins Netz gehen“ des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit ausführt, wünschen sich laut einer Umfrage viele Jugendliche ausdrücklich, dass problematische Challenges im Unterricht thematisiert werden. Auch Befragungen der Landesanstalt für Medien NRW zeigen, dass Schülerinnen und Schüler Unterstützung bei negativen Erfahrungen mit viralen Trends erwarten.
Für Lehrkräfte bedeutet das „Ins Netz gehen“ zufolge vor allem: aufmerksam sein und reagieren. Werden riskante Trends im Schulalltag sichtbar, sollte eingegriffen und sachlich erklärt werden, welche Konsequenzen solche Aktionen haben können. Pauschale Verbote oder Verschärfungen von Smartphone-Regeln seien hingegen oft nicht zielführend, wie Fachstellen betonen. Wichtiger sei es, respektvoll ins Gespräch zu kommen, Gruppendruck zu thematisieren und die Schülerinnen und Schüler zur Reflexion anzuregen – etwa im Deutsch-, Politik- oder Ethikunterricht. Ebenso entscheidend ist eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern, die häufig andere Facetten des Problems wahrnehmen.
Wie dramatisch die Folgen eines solchen Trends sein können, zeigte sich zuletzt in Petershagen in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde ein 16-jähriger Schüler bei einer TikTok-Challenge auf dem Schulhof schwer verletzt, wie der WDR berichtete. Der Jugendliche stürzte und schlug mit dem Kopf auf, nachdem Mitschüler versucht hatten, ihn bei einem offenbar absichtlich herbeigeführten Sturz aufzufangen. Er wurde mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht, zeitweise bestand der Verdacht auf eine lebensbedrohliche Kopfverletzung, der Junge wurde ins künstliche Koma versetzt. Inzwischen hat sich sein Zustand laut Polizei verbessert, er ist ansprechbar und sein Gesundheitszustand stabilisiert sich. News4teachers









“Schülerinnen und Schüler wünschen sich ausdrücklich, dass problematische Challenges im Unterricht thematisiert werden”
Dafür müsste ich den Blödsinn erstmal mitkriegen. Da ich aber keine Zeit für TikTok habe, weil ich Elterngespräche führen, die nächste Projektwoche planen oder 7fach differenziertes Unterrichtsmaterial erstellen muss. Ist die Nutzung von TikTok denn jetzt Arbeitszeit, die ich erfassen kann?
Dürfen Sie die SM denn dienstlich nutzen?
Zur Vorbereitung für mich selber schon, aber natürlich nicht mit den Schülern. Puh, zum Glück gibt es den Datenschutz.
Ansonsten ist die dienstliche Nutzung von SM schwierig. Da müsste man ja auch die passenden Kollgen finden, die die gleichen Vorlieben haben.
Wie kommen Sie jetzt bei der Nutzung von TikTok auf einen österreichischen Adligen?
Sagt der Masochist: ” Quäl mich!”
Antwortet der Sadist mit diabolichem Grinsen: “Nein!”
“Ist die Nutzung von TikTok denn jetzt Arbeitszeit, die ich erfassen kann?”
Freue mich schon auf den medialen Shit-Storm:
“Lehrer bekommen TikTok-Gucken jetzt als Arbeitszeit bezahlt”
Und Computerspiele spielen auch – siehe den anderen Artikel.
Aber was bestellt wird, muss leider auch bezahlt werden.
SchülerInnen “wünschen sich laut einer Umfrage viele Jugendliche ausdrücklich, dass problematische Challenges im Unterricht thematisiert werden.”
Warum im Unterricht, warum durch LehrerInnen? Gerne nach dem Unterricht durch SozialarbeiterInnen oder MitarbeiterInnen der schulpsychologischen Beratungsstelle.
Es ist nicht der Job der LehrerInnen. Mein Job ist es, Wissen zu vermitteln und ich muss mir im Unterricht keine SchülerInnen mit Zahnstocher antun. Man kann so etwas auch ganz unaufgeregt verbieten.
Und mal ganz ehrlich: einige der Challanges kommen mir aus meiner Jugend (70er-Jahre)bekannt vor, z. B. der Pilotentest. Und Zahnstocher (mit Nikotin) im Mund sind ähnlich gefährlich wie Nikotinkaugummis. Und Kaugummi kauen verbiete ich im Unterricht auch…
Danke für die Warnung, Artikel aus 2020.
Nächstes Mal per Zeitmaschine bitte in die Vergangenheit reisen, nicht in die Gegenwart 😉
Aber ermsthaft: Danke für den Link
Hm. Die Büchse der Pandora.
Geöffnet. Ich bin da als Lehrkraft überfordert. Ich befasse mich jetzt nicht noch mit Tik Tok u.ä. Unsinn.
Wo bitte sind denn die eigentlich Erziehungsberechtigten und – pflichtigen? Und ich stimme einem anderen Beitrag zu: Hier sind Sozialpädagogen und Schulpsychologen gefragt – in 1. Linie.
Ich komme danach, wenn überhaupt.