Protokoll einer vermeidbaren Tragödie – Forscher untersuchen den Fall Lea-Sophie

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SCHWERIN. Im November 2007 starb in Schwerin die fünfjährige Lea-Sophie. Das Kind war verhungert, wog zuletzt 7,4 Kilo. Die Eltern wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt, das Jugendamt geriet in die Kritik. Jetzt haben Wissenschaftler den Fall aufgearbeitet.

Wie kann das mitten in Deutschland passieren? Die fünfjährige Lea-Sophie wog bei ihrem Tod nur noch 7,4 Kilogramm. Foto: lightingtheirwayhome.wordpress.com
Wie kann das mitten in Deutschland passieren? Die fünfjährige Lea-Sophie wog bei ihrem Tod nur noch 7,4 Kilogramm. Foto: lightingtheirwayhome.wordpress.com

«Warum?» – Zwischen Kerzen und Plüschtiere vor einem Plattenbau im Schweriner Stadtteil Lankow stellte jemand im November 2007 ein Pappschild mit dieser Frage. In dem Haus war Lea-Sophie verhungert. Der Vater der Fünfjährigen rief in letzter Sekunde den Notarzt, doch der konnte nicht mehr helfen. Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen. Was war da passiert, wie konnte das passieren? Nach Justiz und Politik haben in den vergangenen drei Jahren auch Wissenschaftler nach einer Antwort auf diese Fragen gesucht.

Der Soziologe Kay Biesel von der Fachhochschule Nordwestschweiz (Basel) und der Sozialpädagoge Reinhart Wolff reisten immer wieder nach Mecklenburg-Vorpommern. Sie interviewten die Eltern im Gefängnis, die Großeltern, die Mitarbeiter des Jugendamts. Sie organisierten Werkstattgespräche. Dort sollten die Beteiligten (bis auf die inhaftierten Eltern) möglichst ohne persönliche Schuldzuweisungen zusammen aufarbeiten, was warum schiefgelaufen war.

Biesel und Wolff legen eine enorme Komplexität der Tragödie offen. Das sei ein Merkmal aller gescheiterten Kinderschutzfälle, schreiben sie in ihrer Studie, die kürzlich im transcript-Verlag Bielefeld erschienen ist. Es gebe nie nur eine Ursache für das Versagen von Erziehenden. Und bei Fehlentscheidungen von Amtsmitarbeitern spiele das Umfeld in der Behörde eine große Rolle.

Lea-Sophie kommt als Frühchen in der 34. Schwangerschaftswoche zur Welt. Sie wird anfangs künstlich ernährt, bleibt später schmächtig, isst wenig. Von einem schüchternen Wesen ist die Rede. Das Kind hat wenig emotionalen Halt in der Familie, rekonstruieren die Wissenschaftler.

Aus den Interviews wird deutlich, dass die Beziehung der jungen Leute von Anfang an auf wackeligen Beinen steht. Sie wurde von deren Eltern quasi arrangiert. Schnell wird die junge Frau, noch nicht 20 und mitten in der Ausbildung, schwanger. Ihr Freund sei nicht gerade erfreut gewesen, berichtet sie. Weil er bei der Bundeswehr ist, wohnt sie erst einmal mit dem Baby bei ihren Eltern. Erst später, nach Konflikten mit ihrer Mutter, zieht sie zusammen mit dem Freund in eine eigene Wohnung. Doch Oma und Opa geben Lea-Sophie nicht her, sie glauben nicht, dass die jungen Leute es schaffen. Schließlich holen die beiden ihr Kind – da ist es zwei Jahre alt – doch noch zu sich. Lea-Sophie verliert ihr vertrautes Umfeld.

Und es funktioniert nicht gut. Das junge Paar, so rekonstruieren die Forscher, ist eifersüchtig aufeinander, es wird viel gestritten. Das Geld ist äußerst knapp. Die beiden nehmen Lea-Sophie aus dem Kindergarten, ziehen sich zurück. Eine richtige Familie werden sie nicht miteinander, sagt Lea-Sophies Mutter rückblickend dem Interviewer.

Die Großeltern sorgen sich um das Kind, das sie immer seltener sehen, und gehen wiederholt zum Jugendamt. Dort ist man chronisch überlastet und sieht den Fall nicht als akut an. 2006 wollen sich die beiden jungen Leute trennen, versöhnen sich wieder, die Frau wird erneut schwanger. Im Herbst 2007 wird ein kleiner Junge geboren. Lea-Sophie fühlt sich nun komplett an den Rand gedrängt und verweigert in ihrer seelischen Not das Essen und Trinken, so Biesel und Wolff.

Die Eltern, so ihr Befund, sehen das sich zuspitzende Problem. Doch die Angst, beide Kinder zu verlieren, als gescheiterte Familie dazustehen, auch vor den Großeltern, lähmt sie und macht sie unfähig, Hilfe zu suchen. «Und so werden sie unschuldig (weil emotional verstrickt und handlungsunfähig) schuldig», heißt es in der Studie.

Beide stammen aus schwierigen Familienkonstellationen: Der Vater der Frau nahm sich an ihrem siebten Geburtstag das Leben, ihre Mutter verschwand einfach. Sie erfuhr erst mit 13 durch Zufall, dass sie bei Onkel und Tante aufgewachsen war – sie hielt die beiden bis dahin für Vater und Mutter. Er ist ein Trennungskind.

Die einzelnen Befunde an sich sind nicht neu. Vieles wurde bereits im Mordprozess gegen die Eltern bekannt. Auch ein Ausschuss der Stadtvertretung ermittelte. Die gemeinsame Rekonstruktion des Falls empfanden die Beteiligten dennoch als sehr hilfreich. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes stellt am Ende der Studie fest: «Um den Fall zu verstehen, ist es notwendig, die eigene Fachpraxis auf Fehler, aber auch die Familien-, Organisations- und Hilfesystemgeschichte zu untersuchen.»

Das geschieht nach Meinung von Biesel und Wolff in Deutschland viel zu selten. Eine wissenschaftliche Untersuchung problematischer Kinderschutzfälle sei die Ausnahme, sagen sie. Ein Grund sei Angst vor Strafverfolgung, denn das geltende Recht schütze die von einer Falluntersuchung betroffenen Fachkräfte und Familienmitglieder nicht genügend vor dem Zugriff durch Ermittler. «Aus diesem Grund scheuen sich viele Jugendämter und Kommunen davor, solche Untersuchungen in Auftrag zu geben.» Jedoch sei eine Aufarbeitung nötig, um Fehler zu erkennen und Lehren daraus zu ziehen. In Schwerin wurde das Jugendamt nach dem Fall Lea-Sophie umorganisiert.

Auch der Familie hat das Wissenschaftsprojekt gut getan. In einer Mail an die Forscher schreibt der Großvater: «Sie sind die Einzigen, die bereit waren, einen echten Dialog mit den Beteiligten, besonders aber auch den Eltern, aufzubauen und durchzuführen. Das gab uns das Gefühl, als Menschen (und nicht nur als Fall) wahrgenommen zu werden.» Iris Leithold, dpa

Zum Bericht: Forscher: Misshandlung hinterlässt Narben im Gehirn

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