Das sollten Sie über das Spiel „Pokemon-Go“ wissen – 10 Fakten für nichtspielende Pädagogen

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OBERHAUSEN. „Spiel doch mal draußen!“ – das brauchen Eltern ihren Kindern im Augenblick nicht ausdrücklich zu sagen. Horden von Computerspielern bevölkern urplötzlich öffentliche Plätze, den Blick starr auf das Smartphone gerichtet und stoßen Jubelschreie über Eier, Bälle und Heiltränke aus, begegnen sich in „Arenen“ und sammeln Wesen mit Namen wie Pixi, Quaputzi oder Relaxo. „Pokémon GO“ heißt der neueste Schrei unter den Computerspielen und wurde blitzschnell zum Massenphänomen.

Schon rufen die ersten Erwachsenen: „Spielt doch lieber drinnen!“ und wollen die Pokemon-Spieler zumindest von Friedhöfen, Krankenhäusern, Kirchen oder Flughäfen verbannen und sie vor blindem Umherirren auf belebten Straßen bewahren. Andere wittern ein Geschäft und organisieren Bus-Touren für Spieler.

Was hat es mit diesem Spiel auf sich? Unser Autor Marco Fileccia wagt den Versuch einer Erklärung für alle nichtspielenden Lehrerkolleginnen und –kollegen.

Erklären wir das Phänomen anhand der Vokabeln, ohne die ein Gespräch über das Spiel nicht möglich sein dürfte:

„Pokémon“ Pokémon gibt es nicht. Nicht in echt. Ihr Name ist ein Portmanteauwort aus „Pocket“ und „Monster“, mithin sind Pokémon Taschenmonster. Erfunden wurden sie von der japanischen Spielefirma Nintendo (genauer: von der Softwareschmiede Game Freak Inc. für den Publisher Nintendo). Es gab zu Beginn im Jahre 1996 davon 151 verschiedene, heute sind es über 700. Und sie müssen gefangen werden. Alle! Und sie müssen trainiert werden, um gegen die gefangenen Monster anderer Spieler kämpfen zu können. Das ist das Ziel des gleichnamigen Spiels „Pokémon“. Nicht in echt natürlich. Ursprünglich mit den Handheld-Geräten von Nintendo, so dem Nintendo DS. Das berühmteste Pokémon, das knallgelbe, heißt übrigens „Pikachu“, den Namen sollte man kennen (übrigens Nummer 25 im Nationaldex, vom Typ Elektro mit den Fähigkeiten Blitzfänger und der Fangrate 190… fragen Sie besser nicht!). Wer alle lernen möchte, schaut hier: http://pokewiki.de/Pok%C3%A9mon-Liste. Die Auflistung kann gleichzeitig Hoffnung für Lateinlehrer und der Beweis sein, dass Schülerinnen und Schüler sehr wohl lange, komplizierte und für sie sinnfreie Listen auswendig lernen können.

Pokémon GO. Der Name soll es suggerieren: Mit den Pokémons ist man nun unterwegs. Damit folgen die Taschenmonster einem technologischen Trend und sind von eigenen, speziellen 1-Zweck-Geräten in die Smartphones gewandert. Das haben sie gemein mit Navigationsgeräten, Taschenrechnern, Videokameras, Fotoapparaten und mehreren Dutzend weiteren digitalen Medien. Am 6. Juli 2016 erschien das Spiel in den U.S.A. Australien und Neuseeland, am 13. Juli in Deutschland, jeweils einen Tag später in Großbritannien, Italien / Spanien / Portugal und dann dem Rest der EU sowie Norwegen und Schweiz, dann in Kanada, Japan, Frankreich, Hongkong und in ganz Südamerika sowie weiten Teilen Südostasiens und und und… kurz die Pokémon-Weltkarte hat nur noch weiße Flecken in Afrika, auf der arabischen Halbinsel (in Saudi-Arabien besteht eine Fatwa gegen Pokémon, die für Pokémon GO erneuert wurde) und Russland / China / Indien. Der Anbieter „The Pokémon Company, Nintendo“ hat ein atemberaubendes Tempo der Veröffentlichung hingelegt.

Pokémons (2). Pokémons findet man theoretisch überall. Man muss sie nicht einmal suchen, das Handy wackelt, wenn eines der Monster in der Nähe ist. ABER… anders als bei anderen Spielen, muss der Spieler tatsächlich physisch in der Nähe sein. Apropos „Spielt doch mal draußen!“ Welches der 151 möglichen Pokémons nun auftaucht und eingefangen werden kann (dazu benötigt man die Pokébälle… siehe unten) , das steht zwar fest, ist aber weltweit ungleich verteilt. Einige sind Allerwelts-Monster, an jeder Straßenecke auf ihre Kescher wartend, einige sind so selten und hochbegehrt wie dunkle Materie für Physiker! Unnötig zu erwähnen, dass der Spieler für eine erfolgreiche Suche das Smartphone nicht nur eingeschaltet haben muss (das ist ja heute eine Binse), sondern auch das Spiel gestartet und die GPS-Ortung eingeschaltet sein muss. Wie sonst wüsste der Spieleanbieter, wo der Spieler herkam, wo er ist und wohin er geht… Das erklärt das häufige Phänomen, dass Spieler neben dem Handy einen weiteren Akku mit sich herumtragen, denn das Spielen mit GPS verbraucht eine Menge Strom.

GPS. Hierin liegt aber auch der Clou und die Besonderheit des Spiels: Die Spielorte (Pokémon-Fundstellen, Pokéstops, Arenen) gibt es dank Google Maps in der Realität. Es sind tatsächliche Orte im öffentlichen Raum. Und das sind Hotels, Schulen, Wohnhäuser, Sportanlagen, Fußwege, Statuen, Flüsse, Parks, Einkaufszonen, Wälder, Bauernhöfe, Gärten, Kinos, Krankenhäuser, Sehenswürdigkeiten, Burgen, Spielplätze, Gebäude, Läden und und und. Und eben auch Friedhöfe. Die zur Zeit rund 16 Millionen Fundstellen weltweit werden nicht zufällig verteilt, sondern mit System. Ein Geister-Pokémon wie Nebulak findet sich logischerweise auf einem Friedhof, ein Gift-Pokémon wie Smogon in einem Moor, ein Gestein-Pokémon wie Onix auf einem Parkplatz, ein Wasser-Pokémon wie Lapras an einem Flussufer, ein Pflanzen-Pokémon wie Tangela auf einem Golfplatz… soweit so in sich logisch. Die Spieler müssen sich also – das im Gegensatz zu allen anderen Pokémon-Spielen im heimischen Kinderzimmer – tatsächlich zu diesem Ort begeben, um dort das dort vorkommende Pokémon fangen zu können. Und welcher Monsterjäger nimmt schon gerne Rücksicht auf die Gefühle anderer, wenn ein Pokéstop ausgerechnet im Konzentrationslager Auschwitz eingerichtet ist, oder im Holocaust-Museum in Washington oder am Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas? Die Verantwortlichen dort bemühen sich um Löschung dieser unsensiblen Okkupation durch die Spieleentwickler, andere wiederum werben für Reisen zum Pokéstop in ihrer Region.

Pokéstops, Pokébälle, Eier und Tränke. Pokéstops so heißen wenig originell – die Orte, zu denen die Spielerinnen und Spieler massenhaft pilgern. Dort – nun wird es ein wenig unübersichtlich für Nicht-Spieler – können über Spielmechanismen die Dinge (Spieler nennen sie „Items“ = Artikel, Ware, Gut)  wie Pokébälle, Eier und Heiltränke eingesammelt werden, ohne die die Pokémons nicht gefangen, trainiert oder geheilt werden können. Doch der Reihe nach.

Ein einfaches Einfangen der Pokémons im Vorbeilaufen wäre auf Dauer wohl doch zu langweilig. Also gibt es Spielelemente, die es spannend gestalten sollen. Dazu gehören „Pokébälle“ (erkennen Sie eine gewisse Konsistenz der Benennungen?), die zum Fangen der Pokémons benötigt werden, Eier (Biologie-Kolleginnen und -Kollegen aufgepasst!), die man in „Inkubatoren“ ausbrüten muss, damit daraus Pokémons schlüpfen. Die Eier werden durch Bewegung des Spielers bebrütet (anders als bei vielen Vögeln, die auf dem Nest sitzenbleiben müssen). Es gibt 2-, 5- und 10-Kilometer-Eier. Was die Sportkolleginnen und -kollegen freuen dürfte: Erst wenn der Spieler diese Strecke (gemessen natürlich vom Smartphone) zurückgelegt hat, ist das Ei ausgebrütet. Unnötig zu sagen, dass es erste Angebote gibt wie Straßenbahnen, die eine solche Strecke bewusst langsam fahren, damit dem Gerät vorgegaukelt wird, der Spieler würde laufen! Es gibt weitere Elemente wie Bonbons und Sternenstaub und Erfahrungspunkte des Spielers, die das Spiel spannend halten sollen.

Versuchen wir ein Beispiel: Ich finde ein wildes Pokémon (zuvor war ich an einem Pokéstop und habe mein Arsenal an Hilfsmitteln aufgefüllt). Leider bleibt es nicht einfach still stehen, ich muss es mit einem Ball (oder mehreren) abwerfen. Dabei besteht immer die Möglichkeit, dass es doch noch entkommt. Fange ich ein Monster, so erhalte ich als Spieler drei Bonbons, 100 Sternenstaub und noch mindestens 100 Erfahrungspunkte, die meine Chancen beim nächsten Mal verbessern. Ein übliches Spielprinzip, mit dem Spieler im Flow gehalten werden können. Damit ist der berühmte „Flow-Kanal“ zwischen Unterforderung (das Spiel ist zu einfach und wird langweilig) und Überforderung (das Spiel ist zu schwierig und wird auch langweilig) gemeint, der ein gutes Spiel auf Dauer interessant hält. Wer bis jetzt durchgehalten hat, muss sich mit Tränken (können Pokémons stärken), Beleber (heilen), Rauch (wilde Pokémons anlocken), Himmihbeere (kein Rechtschreibfehler!) (erleichtert das Fangen) auskennen, um weiterspielen zu können…

Arenen. Hier ist der Name Programm. Jeder Spieler wählt sich zu Beginn nicht nur seine Spielfigur (seinen „Avatar“), seinen virtuellen Stellvertreter, sondern – nach einer kurzen Zeit als Novize (Spieler sprechen von Level 1 bis 4) – auch eine der Mannschaften Rot, Blau und Gelb (Freunde wählen oft die gleiche). Eine „Arena“ (wie Pokéstops wild über den Globus verteilt) sollte man mit einem eigenen Pokémon so lange wie möglich besetzt halten. Je länger, desto höher ist der Gewinn im Spiel. Leider gibt es zahlreiche Neider, die eine einmal gefundene Arena angreifen und das eigene Pokémon zum Hausherren machen wollen. Verliert das eigene Pokémon, kehrt es geschwächt zum Spieler zurück. Jetzt ist es Zeit für den Müller-Wohlfahrt im Spiel, das schwache Monster muss mit Tränken oder Belebern (vorher am Pokéstop eingesammelt!) wieder aufgepäppelt werden. Gewinnt das eigene Pokémon, darf man die Arena besetzen (oder besetzt halten) und gewinnt dadurch zum Beispiel Erfahrungspunkte, Kraftpunkte und Wettkampfpunkte, das kampferprobte Monster wird beim nächsten Mal noch besser kämpfen können. Wer angesichts des martialischen Szenarios und der wenig monsterfreundlichen Konfliktlösungsstrategien Sorge vor einem Killerspiel in Kinderhänden hat, sei beruhigt: Pokémon GO hat die USK-Empfehlung ab 6 Jahren und ist in der Darstellung mehr niedlich als furchterregend.

Szene aus der gleichnamigen Serie von 2007. (Screenshot Wikimedia)
Szene aus der gleichnamigen Serie von 2007. (Screenshot Wikimedia)

„Augmented reality“ und GPS. Die Technik hinter dieser Spielidee ist erst mit Smartphones massenhaft verfügbar. Durch die Kameras kann das Prinzip der „Augmented Reality“, der erweiterten Realität, umgesetzt werden. Die Bilder der Monster können in das reale Bild der Kamera eingefügt werden und der Blick auf das Smartphone lässt die virtuellen Monster in der Realität erscheinen. Die GPS (Global Positioning System)-Technik und die Mobilfunkortung jedes Smartphones erlauben eine metergenaue Standortangabe des Spielers. Somit weiß das Spiel immer ganz genau, wo der Spieler sich tatsächlich aufhält und kann die Pokéstops, Arenen und Pokémons einblenden.

Faszination. Kommen wir nach dieser langen Erklärung des Was? und Wie? endlich zum Warum? Worin liegt die Faszination von Pokémon GO? Es trägt sicherlich zum Erfolg bei jungen Menschen bei, dass das Spiel an sich kostenlos ist. Hier klingeln sofort die Alarmglocken der Politik-Lehrerinnen und –Lehrer, denn kein Unternehmen wird ein solches millionenteures Spiel anbieten, ohne daraus finanziellen Nutzen ziehen zu können. Wie in vielen anderen Spielen kann man von einem Datenschatz sprechen, die ein Spieler im Alltag den Firmen zu Verfügung stellt. Zum anderen finanziert sich das Spiel über die mittlerweile allgegenwärtigen In-App-Käufe, mit denen man im Prinzip Zeit sparen kann und bestimmte Items (s.o.) gegen echtes Geld (umgetauscht in Poké-Münzen) eintauschen kann.

Medienspielpädagogen nennen gerne „Interaktivität“, „Macht, Herrschaft und Kontrolle“, Balance zwischen Lust und Frust“, „Persönlicher Bezug zum Spiel-Thema“ und die „Soziale Dimension“ als Motivation zum Computerspielen. Genau dies erfüllt Pokémon GO kongenial. Jedes Handeln des Spielers führt interaktiv zu einer Reaktion, er / sie ist der allmächtige, omnipotente Spieler, der die Macht ausübt. Das Spiel ist mit zahlreichen Elementen (wie üblich mit „Leveln“ oder auch den „Erfahrungspunkten“) so ausbalanciert, dass es weder zu einfach noch schwierig ist bzw. im Laufe des Spiels schwieriger wird und dadurch spannend bleibt. Viele Spieler sind ehemalige „Pokémon“-Spieler und kennen „ihre“ Pokémons, sind mit ihnen groß geworden… es ist mehr als Nostalgie, es ist ein Nachhause-Kommen in die Wärme und Geborgenheit des ehemaligen Kinderzimmers. Nicht zuletzt hat das Spiel eine soziale Dimension, virtuell und real. Viele Spieler gehen gemeinsam auf Monsterjagd, sie können gemeinsam Arenen angreifen und an Pokéstops gleichzeitig sammeln.

Herausforderungen. Unnötig zu erwähnen, dass der fehlende Datenschutz (der Verbraucherzentrale Bundesverband hat im Juli eine Abmahnung an die Firma Niantic eingereicht), neben der rücksichtslosen Inanspruchnahme der Orte (das United States Holocaust Memorial Museum hat eine offizielle Beschwerde eingereicht) und der Unachtsamkeit im Straßenverkehr (es gibt die ersten Toten und auch Überfälle von Spielern), eines der Probleme des Spiels sind.

Harry Potter Go. Die Idee des Spiels ist übrigens nicht neu. Die Spieleentwickler, das Studio Niantic aus den U.S.A. haben ein ähnliches Spiel namens „Ingress“ 2013 für die Firma Google entwickelt. Aber erst die Kombination des Spiele-Klassikers Pokémon mit der Idee eines positionsbezogenen Spiels ermöglichte diesen Erfolg. Ähnlich erfolgreich wird wohl das bereits angekündigte Spiel „Harry Potter Go“ werden. Man darf vermuten, dass die Jagd auf Horkruxe und die Flucht vor Dementoren viele reizen wird.

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