„Vier Kiesel bedeuten vier Überlebende“: Wie eine Holocaust-Überlebende Schülern von ihrer Zeit im KZ Bergen-Belsen berichtet

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HANNOVER. Marion Blumenthal hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten. Als Kind überlebte sie das KZ Bergen-Belsen.

Marion Blumenthal berichtet Kindern und Jugendlichen vom Holocaust, hier ein Foto von 2007. Foto: Brandy Shaul / flickr (CC BY-NC 2.0)
Marion Blumenthal berichtet Kindern und Jugendlichen vom Holocaust, hier ein Foto von 2007. Foto: Brandy Shaul / flickr (CC BY-NC 2.0)

Als Neunjährige kam Marion Blumenthal mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder nach Bergen-Belsen – die Familie hegte die Hoffnung, von dort aus nach Palästina ausreisen zu können. Über ihre Ängste, den Hunger und die Krankheiten hat sie Jahrzehnte geschwiegen, doch mittlerweile reist die 82-jährige Amerikanerin mit ihrem Ehemann Nathaniel Lazan um die Welt und sucht das Gespräch mit Jugendlichen. «Ich habe zwei Botschaften: Der Holocaust ist tatsächlich geschehen, und seid mitfühlend und respektvoll zueinander», sagt Marion Blumenthal Lazan.

An diesem Montag in Hannover ist sie bei der Vorstellung ihrer für den Schulunterricht überarbeiteten Autobiografie dabei. Das Buch für Neun- bis Zwölfjährige erzählt die Geschichte von Marions Familie vom Beginn der Verfolgung durch die Nationalsozialisten, über die Flucht nach Holland und gescheiterte Auswanderungsversuche bis zur Internierung im Lager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. Zahlreiche Fotos und Dokumente veranschaulichen das Schicksal der jüdischen Familie aus Hoya an der Weser. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde ihr zuvor angesehenes Schuhgeschäft gemieden, die Novemberpogrome erlebten die Blumenthals in Hannover.

Das Foto zeigt Frauen und Kinder bei der Befreiung von Bergen Belsen - draußen türmten sich die Leichenberge. Foto: Imperial War Museum / Wikimedia Commons
Das Foto zeigt Frauen und Kinder bei der Befreiung von Bergen Belsen – draußen türmten sich die Leichenberge. Foto: Imperial War Museum / Wikimedia Commons

«Für unsere Eltern war es viel schlimmer als für uns Kinder. Sie haben versucht, meinen Bruder und mich zu schützen», erinnert sich die zierliche 82-Jährige, die eine fesselnde Erzählerin ist. In Bergen-Belsen sei Angst ihr dominantes Gefühl gewesen. Wird meine Mutter von der Arbeit in der Küche wiederkommen? Was wird aus meinem Vater, der von Aufsehern angebrüllt wurde?

Das Mädchen flüchtete sich in seine Fantasien. «Ich hatte die Idee, dass alle vier aus unserer Familie überleben werden, wenn ich nur jeden Tag vier ganz gleiche Kieselsteine finde.» Aberglauben sei der Versuch, das Unkontrollierbare zu kontrollieren. «Dieses Spiel gab mir etwas, woran ich mich festhalten konnte.» Mit den Lichtreflexen einer Glasscherbe habe sie sich zudem ein Haustier – ein Hündchen – ausgedacht.

In Bergen-Belsen waren allein in den letzten Kriegsjahren etwa 3000 Kinder unter 14 Jahren untergebracht, daher gibt es noch relativ viele Zeitzeugen. Die Gedenkstätte hat insgesamt bereits 470 Interviews mit Überlebenden gesammelt, ein Teil von ihnen ist im 2007 neu eröffneten Dokumentationszentrum zu sehen.

„Ich wog 13 Kilo“

Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste Familie Blumenthal mit etwa 2500 anderen Häftlingen in einen Zug steigen, 13 Tage waren sie zusammengepfercht unterwegs. Am 23. April 1945 wurde der Zug von den Russen im brandenburgischen Tröbitz befreit. Die zehnjährige Marion hatte eine stark eiternde Wunde am Bein. «Ich wog bei der Befreiung 13 Kilo, meine Mutter 35 Kilo», berichtet sie. Etwa sechs Wochen später starb ihr Vater Walter an Fleckfieber, mit dem sich viele im Zug infiziert hatten.

Marion Blumenthal ist voller Bewunderung für ihre Mutter Ruth, die «ohne Geld, ohne Heimat und mit zwei kranken Kindern» den Neuanfang schaffte. 1948 kamen die drei in New York an. Die 13-Jährige besuchte erstmals eine richtige Schule, heiratete mit 18 Jahren Nathaniel und ist heute stolz auf ihre drei Kinder, neun Enkel und zwei Urenkel. Ruth Blumenthal starb 2012 kurz vor ihrem 105. Geburtstag.

Vor zwei Jahren wurde Marion Blumenthal in Hoya zur Ehrenbürgerin ernannt, eine Schule in dem 3700-Einwohner-Ort im Landkreis Nienburg trägt ihren Namen. «Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Hoya hat Heike Huth aufgeschrieben, eine wunderbare Frau», sagt die 82-Jährige. «Sie war es auch, die mich dazu gebracht hat, 1995 Hoya erstmals zu besuchen. Eigentlich wollte ich mit Deutschland nichts zu tun haben.» Jetzt will sie so lange mit den Vorträgen weitermachen, wie es geht. «Wir sind nicht mehr viele Überlebende. Es ist eine Verpflichtung.» Von Christina Sticht, dpa

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Ignaz Wrobel
7 Jahre zuvor

Die wahren deutschen Helden der neueren Geschichte, waren Menschen wie, Kurt Tucholski, Berthold Brecht,Sebstian Haffner und Menschen wie Otto Pankok (versteckte Zigeuner vor den Nazis) und Oskar Schindler (1200 jüdische Zwangsarbeiter gerettet) und all jene anderen, die Menschen vor den Nazis versteckten.
Erschreckend ist für mich, dass alle Juristen ohne Probleme aus der Diktatur in die Bundesrepublik Deutschland und die DDR wechseln konnten.
1980 hatte ich in meiner Kriegsdienst-Verweigerungsverhandlung sogar einen ehemaligen Richter Herr von Z…, der selbst noch in den letzten Kriegstagen fahnenflüchtige Soldaten hatte hinrichten lassen. Das teilte mir kurz vor der ersten Verhandlung mein begleitender Pfarrer, der im Krieg Anhänger Dietrich Bonhöfers war, mit.