Streit um Studie: Bieten die Schulen wirklich keine Gerechtigkeit?

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GÜTERSLOH. Um die Deutung der Bertelsmann-Studie zur Chancengerechtigkeit in den Schulsystemen der Bundesländer ist ein heftige Debatte entbrannt. „Es ist kaum erträglich, dass fast gebetsmühlenartig die Arbeit der Pädagogen beschädigt und schlechtgeredet wird“, meint etwa der Verband der Realschullehrer. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht hingegen die Studie als Bestätigung, dass die Länder zu wenig für Chancengerechtigkeit in den Schulen unternehmen.

Die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden, stehen in Deutschland schlecht. Foto: apdk / Flickr (CC BY 2.0)
Die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden, stehen in Deutschland schlecht. Foto: apdk / Flickr (CC BY 2.0)

Die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen, unterscheiden sich laut „Chancenspiegel“ der Bertelsmann Stiftung und des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund von Bundesland zu Bundesland deutlich. Ergebnis: Kein Land ist überall spitze, kein Land überall Schlusslicht – aber alle  Bundesländer haben Nachholbedarf in Sachen Chancengerechtigkeit.

In der Studie werde die Perspektive einseitig auf die Schulform Gymnasium ausgerichtet und die Realschule mit den sich anschließenden Wegen über die berufliche Bildung erst gar nicht erwähnt. „Der verengte Blick auf Gymnasial- und Abiturquoten sagt gar nichts aus. Entscheidend und gerechtigkeitsrelevant ist doch der erfolgreiche Übergang der Jugendlichen ins Berufsleben. Angesichts von Abiturquoten bis zu 80 Prozent in Frankreich und einer gleichzeitigen Jugendarbeitslosigkeitsrate von über 30 Prozent fragt man sich schon, ob dies gerechter ist“, sagte der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Realschullehrer, Jürgen Böhm. Mehr als 95 Prozent aller Jugendlichen schafften zum Beispiel in Baden-Württemberg und Bayern den Übergang ins Berufsleben, und sehr viele Schüler mit Migrationshintergrund und aus Familien mit schwierigen sozialen Verhältnissen erreichten auch ohne das Gymnasium, zum Beispiel über den Realschulabschluss, den Sprung an die Hochschulen oder in eine anspruchsvolle Berufsausbildung. Ein Blick auf die vorgelegten Statistiken zeige auch, dass in Bundesländern mit einem klar leistungsdifferenzierten Schulwesen eine deutlich höhere Bildungsqualität erreicht werde.

Der Deutsche Philologenverband stieß ins gleiche Horn. Die Studie biete nur ein Recycling bereits altbekannter Daten und früherer Studien und vermenge diese zu einer wenig überzeugenden neuen Gesamtschau, kritisierte der Verbandsvorsitzende Heinz-Peter Meidinger. Er bemängelte auch die inhaltliche Konzeption der Studie. Gemäß dem Qualitätskriterienkatalog der Studie sei das gerechteste Bildungssystem das, welches 100 Prozent Abiturquote, 100 Prozent Inklusionsquote und 100 Prozent Ganztagsschulquote aufweise. Quoten sagten aber nichts über Qualität aus. Damit, so Meidinger, werde die Fragwürdigkeit der inhaltliche Anlage der Bildungsstudie deutlich. „Es ist auch unredlich, als Kriterium für Durchlässigkeit nach oben lediglich die Schulformwechsler heranzuziehen. Entscheidend ist nicht, wie viele Schüler jeweils von der Realschule zur Hauptschule oder zum Gymnasium wechseln, sondern entscheidend ist, wie viele Jugendliche nach dem Hauptschulabschluss noch eine Mittlere Reife und wie viele nach der Mittleren Reife noch ein Abitur erwerben. Da steht Deutschland mit jeweils einem Drittel Aufsteiger sehr gut da“, sagte Meidinger.

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„Brüsten kann sich kein Land“

Die GEW sieht sich dagegen in ihrer kritischen Haltung bestätigt. „Elf Jahre nach der ersten PISA-Studie zeigt sich, dass die Länder immer noch nicht in der Lage sind, die Chancen der Kinder und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern. Statt hauptsächlich auf Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten und zentrale Prüfungen zu setzen, hätten die Kultusminister längst eine gemeinsame konsequente Strategie für mehr Gerechtigkeit entwickeln können“, sagte Marianne Demmer, stellvertretende GEW-Vorsitzende der GEW. Die Schulexpertin der Gewerkschaft unterstrich, dass keines der 16 Bundesländer bei allen Chancengleichheitsindikatoren gute Wertungen erhalte. „In manchen Ländern ist es die starke Benachteiligung der Arbeiterkinder, in manchen die regelrechte Verriegelung der Gymnasiums, in anderen die hohe Förderschulquote, die besonders heraus sticht. Brüsten kann sich hier wirklich kein Land“, betonte Demmer. Dass Leistung und Chancengleichheit zwei Seiten einer Medaille sind, habe sich in der deutschen Bildungspolitik immer noch nicht als Philosophie durchgesetzt.

Die SPD-Bundestagsfraktion nahm die Studie zum Anlass, eine Abschaffung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern in der Schulpolitik zu fordern. „Das deutsche Bildungssystem ist ungerecht und nimmt vielen jungen Menschen Bildungs- und damit Lebenschancen“, sagte der bildungs- und forschungspolitische Sprecher Ernst Dieter Rossmann. „Ohne Chancengleichheit in der Bildung kann keine Gesellschaft sozial gerecht sein. Deshalb braucht Deutschland mehr Lehrerinnen und Lehrer, mehr verlässliche Ganztagsangebote, mehr frühkindliche Bildung und moderne und besser ausgestattete Schulen.“ Was Deutschland aber bekomme seien immer mehr Schulformen und mehr Schulbürokratie, wie zuletzt bei der Debatte zum deutschen Qualifikationsrahmen oder zur Vergleichbarkeit beim Abitur. Rossmann: „Eine echte individuelle Förderung braucht natürlich zusätzliche Mittel, und genau hier sind dem Bund wegen des Kooperationsverbots in der Verfassung die Hände gebunden. Ohne dessen Überwindung werden wir aber keine Fortschritte zu mehr Chancengleichheit erreichen.“ NINA BRAUN
(14.3.2012)

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