Kolumne „Boarderlines“ Teil 7: Lehrer Andi lernt Salsa lieben

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DÜSSELDORF/KÖLN. Lehrer Andreas Brendt hat viele Jahre damit verbracht, durch die Welt zu reisen. Heute unterrichtet er in Köln und hat sich einen weiteren Traum erfüllt: Ein Buch über seine Erfahrungen zu schreiben. Es geht um Reisen, um Begegnungen auf der ganzen Welt und wie diese den Blick auf Zuhause verändern. Für die News4teachers.de-Leser veröffentlicht er hier in den folgenden Wochen in elf Folgen Teile seiner Geschichte. Viel Spaß bei der Sommerlektüre.

Teil 7 Andi lernt Salsa lieben

Eine kleine Großfamilie ist »bei mir« eingezogen. Eine alte Dame, mit der ich furchtbar gerne ein paar Worte wechsele, bringt mir manchmal ein Glas Milch vorbei. Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf kommt, aber nehme dankend an. So ist sie halt. So süß, so liebenswert.

Ihre Tochter müsste Anfang dreißig sein. Martha ist ihr Name. Ihren Mann und seinen Kumpel oder Bruder oder Cousin oder Onkel oder Schwager sehe ich eigentlich nie. Ganz im Gegenteil zu ihren drei Töchtern. Celia ist vier Jahre alt. Ein zauberhaftes Geschöpf. In der Regel wartet sie vor meinem Zimmer, bis ich die Tür öffne. Dann blickt sie mich mit großen Augen an und möchte wissen, was ich mache und wie mein Zimmer aussieht. Ich zeige es ihr und sage, dass ich surfen gehe. Dann denkt sie nach und fragt schließlich, wie viele Wellen ich nehmen werde. Ich sage etwa zehn, woraufhin sie grübelt und schließlich nickt. Jeden Tag derselbe Ablauf. Sie ist so putzig dabei, dass ich mir zum ersten Mal die Frage stelle, ob ich eines Tages Kinder haben möchte.

Die Mittlere schätze ich auf elf Jahre. Sie ist eine furchtbare Nervensäge und kommt ebenfalls jeden Tag vorbei – weil sie irgendetwas von mir haben will. In der Regel ist sie sauer auf mich. Entweder weil ich ihr meine Sachen nicht schenke oder weil ich ihr viel zu schnelles Gebrabbel nicht verstehen kann. Blöde Göre. Damit ist die Kinderfrage auch wieder geklärt.
Die älteste Tochter heißt Amalia, ist 14, ein bisschen schüchtern und ohne Frage das schönste Mädchen unter der Sonne. Eine Entdeckung! Ich überlege, sie unter Vertrag zu nehmen, um in ein paar Jahren die Welt der Topmodels aufzumischen und über 100 Millionen Dollar zu verdienen.

Autor Brendt auf einer Lesung. (Foto: privat)
Autor Brendt auf einer Lesung. (Foto: privat)

Abends sitzen wir manchmal zusammen. Sie machen eine Woche Urlaub und erzählen mir alles über Peru. So in aller Ruhe und mit vereinten Kräften kriegen wir eine Menge Verständigung hin. Nächstes Wochenende findet eine Tanzveranstaltung in der Nähe statt. Eine, die ich sehen, die ich erleben muss: Es geht um Salsa.
Ich habe von dem Tanz gehört, aber nur eine vage Vorstellung. Auf einmal leuchten ihre Augen, denn an dieser Stelle ist Entwicklungsarbeit nötig. Sie versprechen mir eine Kostprobe mit anschließender Übungsstunde am morgigen Abend.

Es ist soweit. Die alte Frau hat irgendwo einen Rekorder aufgetrieben und bringt den Koloss vor meiner Zimmertür in Stellung. Welchen amerikanischen Gangster aus den 60ern sie dafür überfallen hat, kann ich nicht ergründen. Auch Martha, Amalia und Celia sind dabei. Die nervtötende Elfjährige läuft irgendwo in der Gegend herum. Ich stelle meinen Plastikstuhl im Flur zurecht und nehme Platz.
Die vier stehen vor mir. Oma, Mutter und die beiden Töchter. Drei Generationen, drei Meter entfernt und nebeneinander aufgereiht. Bereit für eine Kostprobe des lateinamerikanischen Mythos, der die pure Leidenschaft in einen Tanz verwandelt. Oder umgekehrt.
Die Anlage knistert und spannt den Bogen. Dann entlässt die Kassette die ersten Töne in den Orbit und die vier walten ihres Amtes. Ihr zaghaftes Wippen mausert sich zu einer schwingenden Fröhlichkeit, die mir die Sprache verschlägt – beim ersten Takt.

Dann geht alles furchtbar schnell. Der Rhythmus fließt durch sie hindurch und bringt sie in Bewegung. Nein, in Wallung! Es sieht aus, als wenn sie gar nichts tun müssen. Die Musik schwebt durch ihre Körper. So geschmeidig, wie es niemals ein Vorhaben oder ein Gedanke schaffen kann. So fließend, so frei, so harmonisch glänzend. Auf einmal lacht die Sonne aus ihren Herzen, aus ihren Händen und aus ihren Hüften. Die südamerikanische Melodie spielt mit ihnen und sie lassen es mit sich geschehen.

Die Oma haut mich gleich vom Hocker. Ihr Tanz ist weich und fließend. Einfach rund. Leicht und ohne Aufwand. Ihre Hüften ruckeln würdevoll im Takt und ihre Finger schnipsen dazu. Die Arme bleiben kontrolliert und dicht am Körper, der Rest ist einfach wolkenlos romantisch. Eine ewige Jugend ist erwacht, und sie kitzelt sie in jedem Schwung weiter an die gesegnete Oberfläche. Kleine Schritte, vor und zurück und wieder zur Seite. Sie lächelt in blutjunger Erinnerung an vergangene Tage und genießt die Musik und das Leben in seiner Gänze und Vollkommenheit dabei.

Ihre Tochter muss nicht ganz soweit zurück. Es sieht so aus, als wenn sie lange nicht getanzt hat und ihr Repertoire heute endlich wieder sprudeln darf. Sie glänzt durch perfekte Abstimmung aller Körperteile. Vom kleinen Zeh bis in die Haarspitzen. Sie vollführt eine Choreographie, die einem niemals endenden Lehrbuch entspringt. Und immer, wenn ich mich gerade an eine Welle ihrer Bewegungen gewöhnt, nein in sie verliebt habe, zaubert sie eine neue, kleine Extravaganz hervor. Sie kreuzt die Beine, windet sich in eine unbekannte Drehung, wirft den Kopf nach hinten und fängt den Ausbruch mit ihren Armen auf. Plötzlich führen die Hände, schwingen, kreisen, schweben und der Rest des Körpers folgt. Witz und Kreativität sprudeln aus einer ewigen Quelle. Meisterhaft aufeinander abgestimmt. Geschmeidig. Fesselnd. Atemberaubend.

Neben ihr windet sich die Blüte des Lebens. Amalia. Die junge Schönheit wirbelt herum. Wild und aufreizend. Voller Erotik und Appeal. Frech schwingt sie ihre Hüften auf mich zu, um dann wieder einen Schritt zurückzuschalten. Damit zieht sie mich in ihren Bann und raubt mir alle Sinne. Auf einmal ist die Kleine Lichtjahre voraus und voller Leidenschaft. Ihre Schüchternheit ist in den rehbraunen Augen versunken. Sie streift ihre Jungfräulichkeit ab und lässt die Knospen ihres jungen Alters in dem heißen Rhythmus der Musik zu einer verbotenen Reife gedeihen. Ihr Hintern schaukelt auf und ab und der Körper windet sich dazu in nahender Ekstase. Unterschiede zerfließen. Alles bewegt sich zwischen verlegenem Tanz und glühendem Sex. Als sie mir direkt in die Augen sieht, bin ich unanständig vorgeführt und wage keine einzige Sekunde länger ihren anzüglichen, viel zu jungen Bewegungen zu folgen.

Schnell schaue ich zu der Kleinsten rüber. Sie wirbelt durch die Gegend. Erfasst von einer unbekannten Energie, die sie vor Freude explodieren lässt. Fröhlich, ausgelassen, heiter. Sie hottet ab! Fällt fast zur Seite, springt umher und jubelt durch die Gegend. Ungestüm lässt sie den Rhythmen freien Lauf. Was immer geschieht, sie ist dabei und treibt es voran. Ein kleiner Vulkan, der grenzenlose Freiheit über sie ergießt. Sie tanzt ab, als wenn es kein Morgen, kein zweites Lied und keinen nächsten Takt auf diesem Planeten gibt.

Alle vier zusammen sind das ganze Leben. Leidenschaft und Musik. Nein, pure Freude. Sie tanzen eine Geschichte, die losgelöst von allen Zwängen ist. Eine Geschichte, welche die ursprüngliche Freiheit, die in jedem steckt, zu Tage fördert und so den Inbegriff von menschlicher Schönheit zurück in unsere verklemmte Welt geleitet. Dabei zu sein, ist die reinste Ehre. Das Stück geht zu Ende. Lautstärke und Temperatur nehmen ein paar Grad ab, aber alles vibriert nach. Die drei Generationen lächeln voller Stolz, denn sie wissen genau, was sie getan haben, was ihnen gelungen ist.

Ich drücke mich in meinen Plastikstuhl und stammele:
»Incredible, incredible, incredible!« (unglaublich), vor mich her.
»El fin de la semana, vamos a bailar, Andi!«, (Am Wochenende gehen wir tanzen) entscheidet die Großmutter.
»Todos juntos«, (Alle zusammen) ergänzt die Mutter.
»Si, Andi«, jauchzt die Kleine, während ihre Schwester zu mir hinüber lächelt. Wow! Ich werde zwar Unmengen Bier trinken müssen, um mich auf die Tanzfläche zu wagen, aber diese Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen.

Die folgenden Tage verbringe ich überwiegend auf dem Klo. Beschissene Scheißtage. Ich hänge den ganzen Tag im Bett und in den sprichwörtlichen Seilen. Oder mit ekelerregendem Dünnpfiff auf dem Pott. Wieder ein Geschenk dieses unergründlichen Lebens, Teil des Abenteuers – am ersten Tag kann ich es noch so sehen. Ab dem zweiten ist es reine Tortur, wie die erste Zahnspange oder wie ein Familienfest mit Tanten, die tolle Karrieretipps haben und die besten Ratschläge, wie man endlich auch mal eine Freundin findet. Mir ist kotzübel, aber das Schlimmste daran:
Mein legendärer Tanzabend fällt ins Wasser.
Oder in die Schüssel. Ich bin noch lange nicht offen für die Irrwege der Existenz oder frei von Verlangen, dafür grenzenlos enttäuscht. Die Mädels heitern mich auf, nicht traurig zu sein. Schließlich ist der Salsa immer da. Und für jeden.
Sie reisen ab. Und mit ihnen mein Salsa. An ihrem letzten Abend bricht ein großes Familiendrama aus. Zumindest den Geräuschen nach zu urteilen. Ich vegetiere mit Fieber im Bett und höre Geschrei, Poltern, splitternde Türen und auch Tränen. Am nächsten Morgen sind sie weg. Ohne Verabschiedung. Ich kann nicht glauben, dass ich sie nie wieder sehen werde.

Ich darbe vier endlose Tage im abgedunkelten Zimmer. Knapp 400.000 zähe Sekunden. Alleine mit meinem Tagebuch, aber zu schwach zum Schreiben. 96 Stunden ohne Essen, ohne Konversation, ohne Leben. Alle möglichen Theorien irren durch meinen Kopf. Muss ich einen Arzt aufsuchen? Gibt es einen? Wo ist er? Und wie komme ich dahin? Was geschieht mit meinem Körper ohne Nahrungsstoffe? Statt meinen Zustand wahrzunehmen, analysiere ich ihn. Klare Gedanken: Fehlanzeige. Nur schummrige Vorstellungen, die sich um das Elend drehen. Meine Bewunderung für Gesundheit steigt ins Unermessliche, meine Furcht, nie wieder auf die Füße zu kommen auch. Das wichtigste bei allem ist und bleibt das Wasser. Einziger Hoffnungsschimmer, Quelle des Lebens und so wichtig wie die Luft zum Atmen. Ich nippe alle paar Minuten an meiner Flasche und stoppe die Zeit bis zum nächsten Schiss. Viel vergeht nicht. Ich bin ausgetrocknet wie Schmirgelpapier, aber mein Körper weigert sich, Flüssigkeit anzunehmen. Die Dehydration führt zu einem dauernden, matten Kopfschmerz und einem stechenden Ziehen in der Lebergegend, was mir Angst einjagt. Jede Minute mehr, jeden Tag schlimmer. Kopfkarussel um Blutwerte, Biofunktionen und alle zum Verrecken mögliche Folgen. Als ich in den Spiegel schaue, glotzt mich ein Zombie an, der so elend krank aussieht, dass ich nur noch erschrocken zurück ins Bett wanken kann.
Am vierten Tag geschieht das Wunder: Ich kann Wasser halten. Es kommt nichts raus. Das muss gefeiert werden, also trinke ich weiter und versuche abends eine Banane zu essen, die mir Carlos vor die Tür gelegt hat (Er hat Angst vor dem schwarzen Tod in meinem Zimmer – er hat Angst vor mir). Damit geht es aufwärts. Aber langsam und von sehr weit unten.

 

Zum 6. Teil Andi trifft eine Entscheidung

Zum 5. Teil Andi findet Edelsteine auf Sri Lanka

Zum 4. Teil Andi landet auf Sri Lanka

Zum 3. Teil Heimaturlaub

Zum 2. Teil Andi reist nach Australien

 Zum 1. Teil Andi reist nach Bali

Hier geht es zur Webseite des Buchs „Boarderlines“

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