„didacta“-Nachlese: Wann kommt die digitale Revolution in den Schulen an? Eine Analyse

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HANNOVER. Der Stand der Initiative „Digitale Bildung neu denken“, eine von Samsung gesponserte Aktion, war einer der größten und chicsten auf Europas größter Bildungsmesse „didacta“ in Hannover. Doch selbst am rummeligen Samstag, als an den Ständen mit gedruckten Schulbüchern großer Andrang herrschte, verloren sich auf dem edlen Teppichboden zwischen den großformatigen Bildschirmen jeweils nur wenige Lehrer. Einer davon (ein durchaus junger Pädagoge) trug ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Das soziale Netzwerk meiner Jugend war draußen.“ Symptomatisch für ein Thema, bei dem die Diskrepanz zwischen Schein und Sein so groß wie bei kaum einem anderen Bildungstrend zu sein scheint: Alle reden davon; viele Unternehmen richten ihre Angebote entsprechend aus – nur die Kundschaft, die Schulen, scheint das weitgehend kalt zu lassen. Kein Wunder allerdings, hapert es in vielen Schulen hierzulande doch an praxistauglicher Ausstattung. Wie stehen denn nun die Chancen, dass die Schulen in absehbarer Zeit den Anschluss ans digitale Zeitalter bekommen? Eine Analyse als „didacta“-Nachlese.

Auf der Messe präsent, in der Praxis (noch) eher weniger: das virtuelle Klassenzimmer. Foto: Deutsche Messe
Auf der Messe präsent, in der Praxis (noch) eher weniger: das virtuelle Klassenzimmer. Foto: Deutsche Messe

Deutschland herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass Schulen mit digitalen Medien arbeiten sollen. Allerdings: In den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD im Bund vor einem Jahr wurde in letzter Minute das Vorhaben gestrichen, alle Schüler mit mobilen Endgeräten auszustatten. Aus dem alten Traum vom flächendeckenden Laptop-Einsatz in den Schulen wird auf längere Zeit wohl nichts werden. Aber: CDU/CSU und SPD verständigten sich darauf, die Digitalisierung im Bildungswesen voranzutreiben. Hierzu gehört unter anderem, gemeinsam mit den Ländern und weiteren Akteuren des Bildungswesens eine Strategie für das digitale Lernen, das heißt für die Entwicklung und die Nutzung von neuen Medien im Bildungsbereich, zu entwickeln. Auch strebt die Bundesregierung eine Stärkung der Kostenfreiheit bei digitalen Lernmitteln und den freien Zugang zu (bildungsrelevanten) wissenschaftlichen Inhalten im Internet an. Ähnlich wie im MINT-Bereich sollen Kinder und Jugendliche frühzeitig an Informatik- und IT-Themen herangeführt und für diese begeistert werden. Ziel ist es, auf diesem Wege junge Menschen für Ausbildungen und Studienfächer im Informatik- und IT-Bereich zu gewinnen. Zusätzlich plant die Bundesregierung die Einführung von Profilschulen „IT/Digital“ mit dem Schwerpunktprofil Informatik. Als Vorbild soll hier das Konzept der Eliteschulen des Sports dienen.

Angela Merkel wurde dann konkret: In deutschen Schulen sollte aus Sicht der Bundeskanzlerin mehr über die Herausforderungen des Computerzeitalters gesprochen werden. Die digitale Welt halte immer mehr in unser normales Leben Einzug, sagt Angela Merkel (CDU) im vergangenen Herbst in einem Video-Podcast – wohl nicht ganz zufällig im Vorfeld der Veröffentlichung der ICILS-Studie, bei der die Medienkompetenzen von Schülern international verglichen wurden. Die Vermittlung von Kenntnissen über Computer sei, so die Kanzlerin – „gegebenenfalls auch über Computersprachen, über die Nutzung digitaler Medien, aber auch die Nutzung der eigenen Persönlichkeitsrechte – was gebe ich preis, wie ist das mit den dauerhaften Verfügbarkeiten von Informationen?“ – die größte Herausforderung für die Schulen. „In welcher Form das in die Lehrpläne eingearbeitet wird, ist dann wieder die Entscheidung der jeweiligen Bundesländer“, fügte die Kanzlerin hinzu. Auch für die Lehrer sei die Digitalisierung vieler Lebensbereiche eine Herausforderung. Gemeinsam mit dem Ländern habe man deshalb eine Ausbildungsoffensive für Lehrer gestartet. Dazu trage der Bund in den nächsten zehn Jahren 500 Millionen Euro bei.

Auch der SPD-Vorsitzende, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, forderte beim Thema Digitales einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel. So schlug er vor, Programmiersprachen in den Stundenplan an Schulen zu integrieren. „Programmiersprachen gehören zu den Sprachen des 21. Jahrhunderts“, erklärte Gabriel. „Für mich wäre eine der Möglichkeiten, Programmiersprachen als zweite Fremdsprache in Schulen anzubieten.“

Kurz darauf wird klar: Deutsche Achtklässler liegen im internationalen Vergleich bei den computer- und informationsbezogenen Kompetenzen nur im Mittelfeld – vergleichbar mit Russland und damit deutlich von der Spitze entfernt. Die Bundesrepublik belegt unter den 21 Bildungssystemen, die in die Studie ICILS (International Computer- and Information Literacy Study) einbezogen waren, lediglich Platz 11. Rund 30 Prozent der Jugendlichen in Deutschland erreichen nur die unteren beiden Kompetenzstufen. „Diese Schülergruppe wird es voraussichtlich schwer haben, erfolgreich am privaten, beruflichen sowie gesellschaftlichen Leben des 21. Jahrhunderts teilzuhaben“, so heißt es in dem Bericht. Der Anteil der leistungsstarken Schüler ist hingegen nicht groß. Nur 1,5 Prozent der Jugendlichen in Deutschland erreichen hingegen die höchste Kompetenzstufe V.

„Die Ergebnisse machen deutlich, dass die weit verbreitete Annahme, Kinder und Jugendliche würden durch das Aufwachsen in einer von neuen Technologien geprägten Welt automatisch zu kompetenten Nutzerinnen und Nutzern digitaler Medien, nicht zutrifft“, so schreiben die Autoren des deutschen Teils der Studie, ein wissenschaftliches Konsortium unter Leitung der Bildungsforscher Wilfried Bos (Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund) und Birgit Eickelmann (Universität Paderborn).

„Computer-Kompetenzen lassen sich nun mal nicht mit dem ‚Faustkeil‘ vermitteln“, sagt Udo Beckmann, Landesvorsitzender NRW und Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Die zuständige Politik müsse dringend ihre Verweigerungshaltung aufgeben und das Geld für eine zeitgemäße IT-Ausstattung aller Schulen einschließlich der Grundschulen bereitstellen. „Die Bereitstellung der notwendigen Rahmenbedingungen für die Schulen gehört ganz oben auf die digitale Agenda des Staates.“

Notwendigen Handlungsbedarf im Bereich der Fortbildung und der technischen Ausstattung der Schulen sieht auch der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands (DPhV), Heinz-Peter Meidinger. Zudem ergänzt er, dass eine professionelle Wartung von schulischen Netzwerken vielerorts noch nicht gegeben sei. „Was nützt die beste Computerausstattung an unseren Schulen, wenn sie nicht professionell betreut wird?“, sagt Meidinger. Darüber hinaus gebe es eine Gerechtigkeitslücke. Reiche Kommunen böten ihren Schulen ganz andere IT-Ausstattungen als finanziell klamme. Das führe zu Benachteiligungen, die nicht zu rechtfertigen seien.

Zwar können  Deutschlands Schulen bislang von einer zeitgemäßen IT-Ausstattung nur träumen. Trotzdem nutzen neun von zehn Lehrkräften das Internet im Unterricht. Die Kenntnisse dafür haben sich die Lehrer vor allem privat angeeignet. Das ergibt eine repräsentative Umfrage unter Lehrern, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) bei forsa in Auftrag gegeben hat. Befragt wurden dafür bundesweit Lehrkräfte von der Grundschule bis zur berufsbildenden Schule. „Die IT-Ausstattung der Schulen ist mittelalterlich“, kritisierte Udo Beckmann. Schulen seien weit davon entfernt, dass der PC für Lehrkräfte zum alltäglichen persönlichen Arbeitsgerät am Arbeitsplatz Schule zähle. PCs ständen in der Regel als Einzelexemplar im Lehrerzimmer, bei der Schulleitung oder in Computerräumen. „22 Prozent aller befragten Lehrer haben nicht einmal Zugang zu einem solchen PC. Von den befragten Grundschullehrkräften haben 27 Prozent keinerlei Zugang zu einem Dienst-PC“, sagte Beckmann.

Politischer Druck kommt nicht nur von den Lehrerverbänden. Die Internetbotschafterin der Bundesregierung, Gesche Joost, fordert eine Digitalstrategie für die Schulen. „Wir sind weit davon weg, in Deutschland eine Strategie zur Vermittlung digitaler Kenntnisse in der Schule zu haben – dabei brauchen wir sie dringend”, sagt  Joost. Es gehe bei der Gestaltung des Unterrichts nicht nur um Programmieren und Informatik, „sondern auch um den richtigen Umgang mit Online-Medien wie Sozialen Netzwerken”, meint Joost. Die Netzbotschafterin sieht dabei den Bund in der Verantwortung. Denn: „Bildung ist Sache der Länder, aber die kämpfen mit leeren Kassen.”

Auch die Unternehmen im Bildungssektor fordern die Politik auf, stärker in neue Technologien für die Schule zu investieren. Zum Auftakt der „didacta“, Europas größter Bildungsmesse, sagt der Präsident des Didacta-Verbandes, Wassilios Fthenakis: „Das interaktive Whiteboard wird die Kreidetafel verdrängen.“ Das Internet biete eine Chance, Lernprozesse zu erweitern. Andere Länder seien aber schon sehr viel weiter bei der Technologisierung. Die Politik sollte mehr in solche Entwicklungen investieren, fordert  Fthenakis.

Und die Politik reagiert – zumindest punktuell, zumindest in einzelnen Bundesländern. Im Rahmen eines Modellversuchs soll in den Klassen 3 und 4 der Grundschulen in Nordrhein-Westfalen „Programmieren” auf den Stundenplan kommen. Dies hat Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) in einer Regierungserklärung angekündigt. Darüber hinaus würden in Schulen des Landes derzeit – bundesweit einmalig – zwei Prototypen digitaler Schulbücher entwickelt, ein  “mBook” für Geschichte und ein „BioBook” für Biologie. Nordrhein-Westfalen soll laut Kraft Vorreiter beim digitalen Wandel werden – auch in den Schulen. Innerhalb des Sachunterrichts werde„Programmieren“ in den an dem Versuch beteiligten Grundschulen thematisiert. „Damit soll auch jüngeren Schülerinnen und Schülern spielerisch die Softwareseite der digitalen Welt näher gebracht werden“, erklärt Kraft.

Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat die digitale Bildung zu einem Schwerpunkt seiner Regierung erklärt. „Wir wollen die Fähigkeiten fördern, die junge Menschen für die Jobs der Zukunft oder für die Gründung eines Start-ups brauchen“, sagt er in einer Regierungserklärung. Deshalb werde die Medienbildung prominent im neuen Bildungsplan verankert. Sie spiele künftig eine wichtige Rolle von der Grundschule bis zum Abitur. Konkreter wird Bayerns Ministerpräsident Seehofer: Er verspricht, bis 2018 alle öffentlichen Bildungseinrichtungen digital auszustatten. „Virtuelle Unterrichtsplattformen, E-Books und eine entsprechende Lehrerausbildung gehören dazu.“

Fazit: Der politische Druck auf die Bundesländer, die digitale Bildung voranzubringen, ist groß wie nie zuvor. Angesichts sprudelnder Steuereinnahmen – der Arbeitskreis Steuerschätzungen sagt angesichts blendender Konjunkturdaten in Deutschland eine Entwicklung von 640,9 Mrd. Euro im Jahr 2014 auf rund 760,3 Mrd. Euro im Jahr 2019 voraus – sind Investitionen in die IT-Infrastruktur der Schulen sehr wahrscheinlich. Das wird in Deutschland  allerdings mit ungleicher Geschwindigkeit geschehen: Reiche Länder und wohlhabende Kommunen gehen voran. So wird es in den nächsten fünf Jahren dabei bleiben, dass digitale Inhalte für die Schulen von vielen Lehrkräften zunächst am Rechner zu Hause erschlossen werden. Daran hat auch die am Wochenende zu Ende gegangene „didacta“ nichts geändert. Jedenfalls noch nicht. News4teachers

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