BERLIN. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) lässt derzeit an einem bemerkenswerten Projekt arbeiten: OER – freien Bildungsmedien also, die von Lehrern gratis und unter Beachtung bestimmter Regeln im Unterricht eingesetzt werden können. Den Auftrag von Wanka zu einer ersten Studie bekam Wikimedia, die Trägergesellschaft des Online-Lexikons Wikipedia. Kann dessen Entwicklung Vorbild sein? Und: Was haben die Schulen davon?
Der Vertrag zum Urheberrecht an Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien war bereits unterzeichnet worden, als das Kleingedruckte für Aufsehen sorgte. Darin war zwischen den 16 Bundesländern und Verlagen sowie der für die Autoren zuständigen Verwertungsgesellschaft Wort festgelegt worden, dass eine sogenannte „Plagiatssoftware“ stichprobenartig durch die IT-Systeme der Schulen laufen soll, um „digitale Kopien von für den Unterrichtsgebrauch an Schulen bestimmten Werken auf Speichersystemen“ zu identifizieren. Der Vorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, sprach von einem Skandal – und forderte eine sofortige Annullierung dieser Vertragspassagen. Meidinger schimpfte: „Während bei den so genannten ‚Staatstrojanern‘ wenigstens Gerichtsbeschlüsse vorliegen müssen, soll an Schulen verdachtsunabhängig ermittelt werden.“
Damit war der Begriff in der Welt: Schultrojaner, und eine Welle der Empörung lief durch die deutschen Lehrerzimmer. Sogar die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) schaltete sich ein und nannte es ein „Ärgernis“, dass „die Schulgemeinschaft unter Generalverdacht“ gestellt werde – und tatsächlich, nach einigen Monaten hitziger Diskussion, verschwand die geplante Spionage-Software in der Versenkung.
Die Regelungen, die Lehrer beim Umgang mit urheberrechtlich geschützten Material zu beachten haben, sind kompliziert. (Hier geht’s zu einer Übersicht.) Schulen und Hochschulen dürfen ihren Schülern und Studenten bis zu zwölf Prozent eines urheberrechtlich geschützten Werkes zur Verfügung stellen – aber nur dann, wenn es die Nutzer keine Möglichkeit zur Speicherung der Texte gibt. Ausdrucken oder kopieren ist Ordnung, herunterladen (und damit speichern) aber nicht.
Gängelung von Schulen
Immer wieder wurden Fälle bekannt, in denen Kultusministerien Lehrer und Schulleiter gängeln, um nur ja keine Verstöße gegen das Urheberrecht zu ermöglichen – in Thüringen gab es eine Dienstanweisungen, die Lehrkräfte verpflichtete, sämtliche Kopien zu protokollieren. In Niedersachsen forderte die Landesschulbehörde alle Schulleitungen im Land auf, „zu überprüfen, ob sich auf den von den Schulen genutzten lokalen und externen Rechnern und Speichersystemen, ob eigen- oder fremdbetrieben, keine Digitalisate von für den Unterrichtsgebrauch an Schulen bestimmten Werken befinden“. Der Hintergrund: Die Bundesländer zahlen an die Verlage für die Genehmigung, das Material im beschriebenen Umfang nutzen zu können, rund eine Million Euro im Jahr – ohne die vereinbarten Beschränkungen wäre die Pauschale deutlich teurer.
Der Ärger und das Geld haben die KMK und das Bundesbildungsministerium offenbar ins Grübeln gebracht – wie schön wäre es doch, wenn die Schulen Materialien und Schulbücher frei und unbeschränkt durch leidige Urheber- und Autorenrechte nutzen könnten. Zumal die absehbare Digitalisierung der Schulen die Regelungen weltfremd erscheinen lässt – kopieren ja, herunterladen nicht? Wie soll das in einer vernetzten Schule funktionieren? Da kam eine Bewegung aus den USA offenbar gerade recht: OER – „Open Educational Resources“ – so heißt das Zauberwort.
Gemeint sind damit freie Lern- und Lehrmaterialien mit einer offenen Lizenz, die von jedermann (also auch von Lehrern und Schülern) für Bildungszwecke genutzt werden können. Eine Art Wikipedia für Unterrichtsmaterialien also, unentgeltlich, nicht-kommerziell, nur der Bildung – und nicht dem Mammon – verpflichtet. OER wurden dann tatsächlich in den Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD auf Bundesebene aufgenommen: „Schulbücher und Lehrmaterial (…) sollen, soweit möglich, frei zugänglich sein, die Verwendung freier Lizenzen und Formate ausgebaut werden“, so heißt es darin.
Landkarte zu den OER
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka schritt unlängst zur Tat. „Offene Bildungsmaterialien bieten die Möglichkeit, das innovative Potenzial der Digitalisierung für das Lehren und Lernen zu erschließen. Digitale Medien bieten die Chance, die Qualität und Vielfalt in der Bildung zu erhöhen”, sagte sie – und gab laut einem Bericht der FAZ an Wikimedia, die Trägerorganisation von Wikipedia also, den Auftrag, eine „Landkarte“ zu den OER zu erstellen. Wo sind sie zu finden? Wie kann man ihre Qualität sichern? Und welche Regeln müssen Nutzer beachten?
600.000 Euro wandte das Ministerium dafür auf. Der Ertrag, so legt der Artikel in der FAZ nahe, war eher dünn. „Die Workshops von ‚Mapping OER‘ etwa waren schwach besucht. Über zwei Dutzend Teilnehmer kam Wikimedia kaum hinaus, obwohl es immerhin um den Kanon eines Schulsystems mit mehr als acht Millionen Schülern geht. Lehrer waren in den Workshops praktisch keine zu sehen“, so heißt es. Heraus kam laut Bericht ein Bändchen von 177 Seiten und die Homepage http://mapping-oer.de/ mit einem spärlich gefüllten Blog.
Das Projekt wirft grundsätzliche Fragen auf. Wikipedia hat als Gratis-Online-Lexikon sämtliche etablierten deutschsprachigen Lexika bis hin zum Brockhaus vom Markt verdrängt – mit der Folge, dass beispielsweise den Schulen immer weniger von Wissenschaftlern geprüftes Wissen zur Verfügung steht. Als offenes, weitverbreitetes Kompendium ist Wikipedia – unbestritten eine gute Anlaufstelle für die erste, schnelle Recherche – zum Angriffsziel für Lobbyisten geworden, die Beiträge in ihrem Sinne beeinflussen möchten. Im Informationsangebot der Wikipedia spiegeln sich die Interessen der (immer weniger werdenden, meist männlichen) ehrenamtlichen Autoren – Computer-Technik ist über-, Soziales unterrepräsentiert und Politisches häufig unausgewogen. Fazit von Wissenschaftlern kürzlich aus Anlass des 15-jährigen Bestehens: Die Informationen in Wikipedia müssen stets hinterfragt werden – nur wo, wenn doch alle anderen Quellen dummerweise wegen Wikipedia versiegt sind?
Kann diese Entwicklung als Vorbild dienen für Unterrichtsmaterialien und Schulbücher? Überhaupt: Wer schreibt, lektoriert und gestaltet die denn künftig, wenn eine große OER-Plattform – angeschoben vom Bundesbildungsministerium – die Verlage vom Markt verdrängt hat? Wer sortiert nach Relevanz? Wer sorgt für die Qualitätskontrolle? Wer für die Lehrplankonformität? Und wer verhindert, dass sich Interessenvertreter, die ohnehin die Schulen als Tummelplatz für sich entdeckt haben, auch hier breitmachen?
Auch eine Frage des Geldes
VBE-Chef Udo Beckmann betonte seinerzeit im Zusammenhang mit dem Schultrojaner, dass die Wurzel allen Übels in der unzureichenden finanziellen Ausstattung für die Anschaffung zeitgemäßer Lehr- und Lernmittel liegt. Beckmann: „Die Schulträger stehen in der Pflicht, endlich die Etats den Erfordernissen anzupassen, ganz gleich, zu welchen vertraglichen Alternativen man kommt“, sagte er. Dies meinte auch Marianne Demmer, Leiterin des GEW-Vorstandsbereichs Schule: „Die Schulträger müssen endlich ihrer Aufgabe gerecht werden und ausreichend Gelder für die Anschaffung von Lehr- und Lernmaterial bereitstellen. Dieser Haushaltposten ist in der Vergangenheit von Jahr zu Jahr gekürzt worden. Hier liegt der Hund begraben.“
Erstaunlich auch, dass eine funktionierende Lehrer-Gemeinschaft zum Austausch von geprüften und freien Unterrichtsmaterialien mit einer Million Mitgliedern überhaupt nicht auf dem Radar des Bundesbildungsministeriums zu sein scheint: Bei 4teachers, der Partnerseite von News4teachers, laden im Schnitt 45.000 Besucher täglich 100.000 Materialien herunter, ohne sich Sorgen um Urheberrecht oder dubiose Quellen machen zu müssen. Eine Anfrage aus Berlin, wie eine solche Plattform denn auf die Beine gestellt und entwickelt werden konnte, hat es bislang nicht gegeben, berichtet 4teachers-Mitgründer Bernd Dumser. Und betont: „Wir sind gerne bereit, unsere Erfahrungen einzubringen.“ News4teachers