Inklusion nach Gutsherrenart: Warum die Hamburger Schulbehörde nun einen Schüler mit Asperger-Syndrom verklagt

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HAMBURG. Die Inklusion – genauer: die schlechte Personalausstattung der Schulen für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern und Jugendlichen – läuft zunehmend aus dem Ruder. Und wird auch für Betroffene immer mehr zum Albtraum. Ein krasser Fall aus Hamburg: Das Verwaltungsgericht der Hansestadt watscht die Schulbehörde im Fall eines Schülers mit Asperger-Syndroms wegen unzureichender individueller Förderung ab. Doch die Behörde schlägt zurück – und verklagt nun ihrerseits den Schüler.

Welche Rechte haben behinderte Schüler in Deutschland? Fotomontage: pixabay

Das Verfahren kann durchaus als Präzedenzfall für den juristischen Umgang mit der Inklusion gelten – das Hamburger Verwaltungsgericht hatte die Sicht von Eltern eines Schülers mit Asperger-Syndroms, einer leichten Form von Autismus, gestärkt. Seit Jahren kämpften diese für einen Platz an der Regelschule, wie die „Welt“ berichtet. Der Jugendliche besucht zurzeit ein Gymnasium, an dem es früher eine Autistenklasse gab. Doch die individuelle Förderung dort ist aus Sicht der Eltern unzureichend. Zuletzt sei der Junge allein von einer Schulbegleiterin betreut, letztlich nur mit Arbeitsblättern versorgt worden, heißt es. Darüber hinaus sei dem mittlerweile 18-Jährigen von der Schule attestiert worden, lediglich auf dem Wissenstand eines Sechstklässlers zu sein.

Doch so einfach geht das nicht, befand nun das Gericht: Der zugrundeliegende Förderplan weise „derart gravierende und offensichtliche Mängel auf, dass von vorneherein ausgeschlossen ist, dass die ihm nach der gesetzlichen Konzeption zukommende Aufgabe als das zentrale Instrument bei der Entscheidung über die schulische Förderung zukommen kann“, heißt es dort dem Bericht zufolge.  Ein Förderplan müsse Aufschluss darüber geben, auf welchem Leistungsstand der Schüler tatsächlich sei – und zwar für jedes der Fächer, die für das aktuelle Schuljahr anstehen.

Inklusion: Schulbehörden unter Druck! Gericht weist Regelschul-Förderplan für behinderten Schüler zurück – zu unkonkret

Die Beschreibung des Leistungsstandes, vom Gericht Lernausgangslage genannt, habe sich „an den Anforderungen der Bildungspläne der Grundschule, Stadtteilschule oder Gymnasium zu richten“. Dasselbe gelte auch für die individualisierten Ziele. Auch diese müssten jeweils in Bezug zu den Bildungsplänen gesetzt werden. Auch in einem weiteren – für die Eltern zentralen Punkt – bekamen die Eltern Recht. Im Förderplan müsse deutlich gemacht werden, welche konkreten Schritte notwendig wären, damit ein Schüler seinen angestrebten Schulabschluss schaffen kann. Dazu müsse festgelegt werden, welche Lernziele im jeweiligen Schuljahr zu erreichen seien. Jetzt müsste eigentlich ein neuer Förderplan erstellt werden, der eine genaue Soll-/Ist-Analyse sowie konkrete Maßnahmen enthält, wie sich Bildungsziele erreichen lassen. Ein Zwangsgeld von 2.000 Euro hat das Gericht der Schulbehörde angedroht.

Doch weit gefehlt. Die Eltern haben sich nun an News4teachers gewandt. Denn die Schulverwaltung ist nach ihren Angaben keineswegs gewillt, den Richterspruch zu akzeptieren. „Hallo, es ist kaum zu glauben, aber leider wahr. Die Behörde verklagt nun unseren Sohn“, so schreibt uns die Mutter. Zur Begründung heißt es: Es gebe die Autistenklasse an dem Gymnasium ja gar nicht mehr und die Vereinbarung, die dem Jungen 2015 das Recht auf Besuch der Regelschule zugestanden hatte, sei damit gegenstandslos. Die Schulbehörde meint offenbar, ihre Pflicht bei dem mittlerweile Volljährigen getan zu haben. Die mögliche Konsequenz: Der Schüler muss die Schule ohne Abschluss verlassen. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

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22 Kommentare
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xxx
6 Jahre zuvor

Für mich ist es bezeichnend, dass die Klage der Behörde auf eine formale Rahmenbedingung basiert, während die (erfolgreiche) Klage der Eltern inhaltlicher Natur ist. Die Behörde weiß somit ganz genau, was schief gelaufen ist und wahrscheinlich bei sehr vielen anderen Inklusionsschülern auch noch immer schief läuft. Durch die Gegenklage will die Behörde die Eltern wohl in die Knie zwingen, um weitere Folgeklagen oder gar Grundsatzurteile zu verhindern. Die finanziellen Möglichkeiten des Landes Hamburg dürfte für gute Anwälte und viele Distanzen reichen, bei den Eltern hängt es vom Deckungswillen der Rechtsschutzversicherung ab.

OMG
6 Jahre zuvor

An Peinlichkeit nicht zu überbieten. Mehr kann man dazu nicht sagen.

drd
6 Jahre zuvor

Ich hatte vor zwei jahren einen jungen mit asperger in meiner zehnten klasse. Er schaffte den abschluss ganz normal.. allersings hatten wir bei den hilfeplangesprächen einen „fachmann“ des schulamts dabei, der uns meinte vorzuschreiben, wie nun der tafelaufschrieb in geschichte auszusehen habe. Faktenorientiert und sehr gegliedert. Da bin ich als pd für geschichtsdidaktik an die decke. Ich sollte für 23 schüler keinen geschichtsubterricht mehr machen und deren kompetenzerwerb vernachlässigen, damit einer was versteht? Ich dachte inklusion heißt in der normalen welt leben und nicht diese komplett umbauen bis es passt.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  drd

Asperger-Autisten sind halt etwas eigenwillig, die mit diagnostiziertem Förderbedarf sogar extrem. Nicht umsonst findet man eine ganze Menge (gemäßigter) Asperger-Autisten in den harten Naturwissenschaften. Ihre Inselbegabung in abstrakt-logischem Denken erfordert Faktenorientierung.

Wie wenn nicht faktenorientiert ziehen Sie eigentlich Ihren Unterricht auf? Die Erarbeitung geschichtlicher Zusammenhänge sollte doch irgendwie auf Fakten basieren, aber natürlich nicht loser Aufzählung von Jahreszahlen und Ereignissen.

(Eine gesunde Portion Asperger würde der Gesellschaft gut tun, weil sie Ordnung in die Denkstrukturen bringt und insbesondere die mathematische Grundbildung erheblich erleichtert. Allerdings nicht zu viel, weil eine Gesellschaft aus Dr. Sheldon Coopers ganz schnell untergeht.)

drd
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Schon mal was von Re- und Dekonstruktionskomnpetenz gehört? Von narrativer Kompetenz? Der Inhalt des Geschichtsunterrichts sind die Geeschichten, die aus den Zusammenhänbgen der Fakten z.B. perspekjtivisch konstruiert werden können. Bevor Siue mich blöd anmachen, wie ich Geschichtsunterricht „aufziehe“ (das Wort spricht Bände), sollten Sie vielleicht nochmal einen Grundkurs besuchen, woruzm es bei historischem Denken eigentlich geht.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  drd

Ich meinte das nicht böse, mein eigener Asperger hat wohl in die Wortwahl dominiert. Als Naturwissenschaftler habe ich es nicht so mit perspektivischen Konstruktionen (schon in der Schulzeit nicht), eher mit Fakten und Strukturen.

(Nebenbei habe ich nichts gegen Aufzüge. Ich ziehe den Unterricht immer so theoretisch auf, wie es die Lerngruppe zulässt. In letzter Zeit lassen sie leider immer weniger zu, was einem Abitur im Sinne von Studierbefähigung oder einer Mittelstufe im Sinne von Vorbereitung für die Sek II leider schadet.

drd
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Ach ja: Tippfehler dürfen Sie behalten.

drd
6 Jahre zuvor

Im Geschichtsunterricht geht es hauptsächlich um die Deutung der Fakternbeziehung, die von Zeit zu Zeit und Rolle und Gesellschaft verschieden sein kann. Deshalb existieren unterschiedliche Geschichten zu denselben Ereignissen. Diese Deutung zu visualisiueren ist mit einer Gliederung nicht möglich, da die Geschichten ja bereits eine Theorie über die Ereignisbedeutung enthalten und die Fakten (die es laut dem Metahistriker Haydn White in Geschichte gar nicht gibt) lediglich funktiuonal für die Konstruktion der Geschichte (s. W. Kosselleck) sein können. Das bedeutet nun, dass die Fakten nicht der Lerninhalt sind, sondern der Lerninhalt sind die Konstruktionsvorgänge der Geschichten. Steht so nin jedem geschichtsdidaktischen Grundlagenwerk.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  drd

Danke <3

SFert
6 Jahre zuvor
Antwortet  drd

@drd hoffentlich unterrichten Sie nie meine Kinder. Dermaßen verbohrte, besserwisserische und überhebliche Aussagen qualifizieren Sie meiner Meinung nach nicht unbedingt für den Lehrerberuf.

unverzagte
6 Jahre zuvor
Antwortet  SFert

@sFert …dann bleibt mir zu hoffen übrig, dass menschen mit derartig verkürztem (ver-)urteilungsvermögen, wie ihr kommentar hier aufzeigt, keinerlei einfluss im lehrerinnenprüfungsamt erhalten werden bzw. meine kolleginnen von vergleichbaren elternteilen verschont bleiben mögen.

Besorgte Mutter
6 Jahre zuvor

Leider ist dieser Schüler zwar der bisher bekannte krasseste Fall, den sich die Hamburger Schulbehörde leistet, aber sie hat nindestens einen anderen autistischen Schüler fallen lassen, der jetzt ohne Abschluß in einer Ausbildungsvorbereitungsklasse ist, da wird kein Wert auf einen Abschluss gelegt und wenig Wert aufs lernen, wichtig ist die Schüler irgendwie auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen zur Not ungelernt und als Hilfsarbeiter.

Ein weiterer autistischer Schüler, läuft immer mit seinem Schulbegleiter andeeswo Intergrationshelfer genannt, mit und der Sbgl. erledigt die Aufgaben, also auch Lernerfolg=Null.
Das sind die beiden weiteren Fälle die mir bekannt sind und wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs.

OMG
6 Jahre zuvor

Das Problem liegt bei der Konvention selbst: Inklusion ist zwar ein subjektives Recht, also für das einzelne Kind einklagbar, systemisch wird den Vertragsstaaten gebilligt, dass das inklusive System sich erst über die zeit entwickeln muss.
Dass eine Klasse mit Autisten eine Separation darstellt, ist erstaunlich, dass gerade Hamburg mit der Inklusionsquotengeilheit sich die Peinlichkeit erlaubt, so auf den wirklichen Geist in der Hansestadt hinzuweisen, ist erstaunlich – und verräterisch zugleich. Inklusion scheint demnach nur eine Worthülse zu sein in Hamburg zumindest.

xxx
6 Jahre zuvor

besonders, weil asperger-autisten noch zu den angenehmsten inklusionsschülern gehören. man muss als lehrer allerdings mit ihrer sehr direkten art und ihrer inselbegabung im mathematisch-naturwissenschaftlichen bereich klar kommen. das gilt allerdings auch für die therapeuten, deren tipps in den hilfeplangesprächen leider viel zu oft über inhaltsarmes blabla oder nicht umsetzbare forderungen nicht hinausgehen.

Palim
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

„besonders, weil asperger-autisten noch zu den angenehmsten inklusionsschülern gehören.“
… sagt wer?

„das gilt allerdings auch für die therapeuten, deren tipps in den hilfeplangesprächen leider viel zu oft über inhaltsarmes blabla oder nicht umsetzbare forderungen nicht hinausgehen.“
Ja, das ist nicht immer leicht!

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  Palim

Sagt wer? Sage ich aus eigener Erfahrung mit Aspergern ab Klasse 7 aufwärts.

Ich gebe allerdings zu, dass ich mit harten naturwissenschaftlichen Fächern den Talenten von Aspergern entgegen komme und vielleicht auch deshalb nur positive Erfahrungen mit Aspergern gemacht habe. Sie sollten sich nicht ungerecht behandelt fühlen und Interesse für den aktuellen Unterrichtsgegenstand haben. Bei Fächern oder Themen, die aus deren Sicht „bla bla“ sind, wozu nach Meinung der Asperger weite Teile der Geisteswissenschaften und Sprachen gehören (Gedichtinterpretation & co), kann es zu Diskussionen mit wenig empathischen Reaktionen der Asperger kommen. Ob sie die auch genau so meinen oder darüber aufgrund ihrer Schwierigkeiten mit Gefühlsäußerungen nicht weiter nachdenken, hängt immer vom Einzelfall ab.

Küstenfuchs
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Diese Generalisierung, dass Asperger-Kinder in den Naturwissenschaften gut zurecht kommen und in anderen Fächern nicht, stimmt doch nicht.

Das kommt zwar öfter vor, aber ich habe auch einen Schüler, der kann gut Sprachen, versagt aber in Mathe völlig und das seit Jahren bei unterschiedlichsten Lehrern.

Reni
6 Jahre zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

Stimmt!! Über diese Generalisierung von naturwissenschaftlicher Begabung habe ich mich auch schon gewundert.
Asperger müssen keine besondere Begabung auf irgendeinem Gebiet haben. Sie können sie haben oder auch nicht haben wie jedes andere Kind auch. Das Asperger-Syndrom geht nicht zwingend Hand in Hand mit einer besonderen Begabung.

Kylling
6 Jahre zuvor

Bitte mal den Grammatikfehler in der Überschrift korrigieren.

„Die Behörde verklagt nun seinerseits den Schüler.“ Es muss „ihrerseits“ heißen.

Axel von Lintig
6 Jahre zuvor

Asberger ?

Detmers
6 Jahre zuvor

Bin weder Lehrerin noch Mutter eines behinderten Kindes. Meine eigenen Kinder sind inzwischen Mitte 30.
Ich verfolge dennoch überall die Diskussionen…..und kann mich in keinster Weise für das bisherige Inklusionsdogma erwärmen. Mir tun die LehrerInnen – so allein gelassen mit diesem heftigen Anspruch – oft leid. Meine Nachbarin hat eine behinderte Tochter. Für diese sehnt sie sich die Förderschule zurück, ich vermag das nicht zu beurteilen. Ich finde die Idee, alle unter einem Dach, toll.