Im Schadenersatzprozess eines früheren Förderschülers gegen das Land Nordrhein-Westfalen hat eine Gutachterin den Schulaufsichtsbehörden schwere Versäumnisse vorgeworfen. Beim Schulwechsel von Bayern nach NRW im Jahr 2008 hätte es für den Schüler ein «ordentliches Diagnoseverfahren» mit Intelligenz-Überprüfung, Einschätzung der Lernentwicklung und einer Prognose geben müssen, sagte die Erziehungswissenschaftlerin Irmtraud Schnell vor dem Kölner Landgericht. Dann wäre nach ihrer Auffassung auch deutlich geworden, dass gar kein spezieller Förderbedarf wegen geistiger Behinderung bestanden habe.
Der heute 21 Jahre alte Nenad Mihailovic hatte bis zu seinem 18. Lebensjahr eine Förderschule für geistige Behinderung besucht, zunächst in Bayern, dann in Köln. Aus seiner Sicht hatte er zu Unrecht an der Schule in Nordrhein-Westfalen bleiben müssen. Dadurch seien ihm Bildungschancen entgangen. Mihailovic holte später als einer der Klassenbesten den Hauptschulabschluss auf einem Berufskolleg nach. Im Gespräch sagte er am Rande der Verhandlung, er strebe nun eine Ausbildung als Einzelhandelkaufmann an.
“Ohne Begründung, ohne Diagnose”
Die Sachverständige sagte, in Bayern habe man lediglich von einer «momentanen» leichten geistigen Behinderung gesprochen. In NRW sei 2008 beim Schulwechsel eine Überprüfung eigentlich rechtlich verpflichtend gewesen. Spätestens 2011/12 hätten Schule oder Aufsichtsbehörden eingreifen müssen, kritisierte Schnell. Damals sei «ohne Begründung und ohne Diagnose» zusätzlich zur fragwürdigen Bewertung einer geistigen Behinderung ein besonderer Förderbedarf im Bereich «emotional-soziale Entwicklung» attestiert worden.
Die Anwältin des beklagten Landes betonte, die gut ausgebildeten Lehrkräfte hätten regelmäßig in den Zeugnissen Einschätzung vorgenommen. Die Sonderschule habe der Junge bis zum 18. Lebensjahr besuchen können, während er auf einer Regelschule nach Ansicht der Pädagogen «nicht förderlichen» Einflüssen ausgesetzt gewesen wäre und schon mit 16 Jahren hätte abgehen müssen.
Baden-Württemberg hat 2015 als letztes Bundesland die Sonderschulpflicht im Rahmen der Inklusion abgeschafft. Seitdem stellen alle Länder es den Eltern beeinträchtigter Kinder schon frei, an welcher Schule sie ihr Kind anmelden – im Prinzip jedenfalls. Aufgrund von fehlenden Kapazitäten an Regelschulen werden in Deutschland noch immer Kinder mit Förderbedarf gegen den Willen ihrer Eltern an Sonderschulen geschickt. Das dürfte schwieriger werden, sollte der Kläger im aktuellen Fall Recht bekommen – müssen die Behörden doch dann Schadenersatzklagen fürchten. Ohnehin droht dann eine Klagewelle, wurde in den vergangenen Jahrzehnten doch durchgängig im Schnitt jeder 20. Schüler auf eine Förder- bzw. Sonderschule geschickt. News4teachers / mit Material der dpa
News4teachers-Dossier – gratis herunterladbar: „Das Inklusions-Chaos”
Gibt es eigentlich Erhebungen, wie viele Kinder entgegen dem Willen der Eltern eine Regelschule besuchen müssen, weil die Förderschulen entweder bereits geschlossen sind oder auslaufen?
“Aufgrund von fehlenden Kapazitäten an Regelschulen werden in Deutschland noch immer Kinder mit Förderbedarf gegen den Willen ihrer Eltern an Sonderschulen geschickt.”
Das ist deutlich zu allgemein gehalten: In Hessen wird – mit einem Nord-Süd-Gefälle, im Norden im Grunde jede Nickbewegeung von Eltern als Hinweis auf die beschulung an einer Regelschule angesehen – jedes Kind kommt an eine Regelschule, derzeit mit einer maimalen Abdeckung der Mindestförderressource von nur . max. 40%. Das ist die Inklusion mit der Brechtsange, die in Landtagsdebatten immer verneint wird. In anderen Schulamtsbezriken erfolgt durchaus eine Differenzierung, wo einen inklusive Beschulung möglich ist und wo derzeit noch nicht.
Nochmals der Hinweis: Eine inklusive Beschulung mit Ressourcen unterhalb des GU-Standards – also mindestens 4 Förderlehrerstunde je Woche je Kind – missachten die Konvention. Gerade in Hessen peinlich, wo ein Prof. der Juristerei das HKM führt.
In Niedersachsen ist die FöS Lernen in der Grundschule abgeschafft, in der SekI war sie fast ausgelaufen, wird nun wieder aufgenommen.
Weitere Kinder anderer Schwerpunkte müssen bei Elternwillen in die Schulen aufgenommen werden.
In der SekI gibt es pro Kind Stunden, bei allen Schwerpunkten.
In der Grundschule sind per Erlass 2 Stunden pro Woche pro Klasse vorgesehen (Sprache, Lernen, ESE) und weitere Stunden bei anderen Schwerpunkten (3-5 Stunden pro Kind).
Dabei sind die Erlasse fein formuliert und niemandem steht wirklich eine pro-Kopf-Förderung zu, die einklagbar wäre, sondern immer ist es eine pauschale Zuweisung an die Schule, deren nähere Bestimmung der SL obliegt.
Durch den Lehrermangel gibt es diese Stunden gar nicht, weder die Grundversorgung wird vollständig gewährt oder zumindest mit ins Soll genommen und durch Stunden anderer Lehrkräfte aufgefangen, noch die pro Kopf Stunden für andere Schwerpunkte.
Zuschläge für Schulen mit vielen sozial benachteiligten SuS oder vielen Förderschülern wurden jetzt ersatzlos gestrichen, Sprachförderung vor der Einschulung auch, allgemeine Förderstunden gibt es nicht in den Grundschulen.
Angesichts des Lehrermangels müssen SL alle Stunden, die irgendwie im System sind, in den Unterricht stecken, um überhaupt die Stundentafel abdecken zu können.
Die Inklusion, wie sie nun durchgesetzt wird, muss OHNE Ressourcen bewältigt werden.
Dabei haben auch die FöS nicht genügend Lehrerstunden und suchen händeringend nach Personal, auch für den Unterricht in ihren Klassen.
Von 4 Förderlehrerstunden je Woche je Kind ist die GroKo in Niedersachsen NIE ausgegangen, nicht bei der Einführung der Inklusion und heute auch nicht.
@Palim
Zitat: “Die Inklusion, wie sie nun durchgesetzt wird, muss OHNE Ressourcen bewältigt werden.”
Das ist zwar bedauerlich und ein dicker Schönheitsfehler, aber die Inklusionsidee ist prinzipiell doch trotzdem gut, oder? Jedenfalls habe ich Sie immer so verstanden, dass Sie nach wie vor hinter ihr stehen.
Eine gute Idee sollte allemal wert sein, auch ohne Zusatzkräfte durchgezogen zu werden, zumal bei der Einführung von mehr Personal nicht die Rede war. Zum edlen Gedanken gehörte, dass alle Beteiligten profitieren und voneinander lernen würden.
Ich kann Inklusionsgegner verstehen, die der Inklusion von Anfang an skeptisch gegenüber standen und massiv behinderte Kinder in Sonderschulen besser betreut und gefördert sahen. Die auch bedachten, dass sie die anderen Kinder würden vernachlässigen müssen, weil die behinderten Kinder ihre ganze Kraft brauchten. Für diese wohlüberlegte Meinung nahmen sie sogar üble Schelte in Kauf.
Nicht verstehen kann ich hingegen die Jasager, die (vielleicht auch aus Imagegründen) noch immer die Idee loben, aber in der Praxis um Hilfe schreien, die nun mal nicht zur gelobten Idee gehört.
Auf eine Idee hereinzufallen, besonders dann, wenn sie exzellent verkauft wird, ist keine Schande. An ihr aber festzuhalten, wenn sich die Wahrheit herausstellt, werde ich nie verstehen.
Ihnen möchte ich sagen: Solange Sie die Inkusionsidee vor anderen gutheißen, sollten Sie sie in der Praxis so akzeptieren, wie sie nun mal ist und von Anfang an auch in der Umsetzung gedacht war.
Ansonsten ringen Sie sich doch bitte zum Eingeständnis eines Irrtums durch.
Das würde auch den Hilferufen von Schulen und Lehrern mehr Dringlichkeit durch Glaubwürdigkeit verschaffen. Kein Mensch ist glaubwürdig, wenn er weiterhin eine Idee hochhält, die ihn durch eigenes Erleben ins Unglück gestürzt hat. Das können sich nur gut informierte Theoretiker leisten, die mit Praxis wenig zu tun haben, aber als Praktiker argumentieren.
Sehr guter Kommentar, der aufzeigt, wie sehr sich einige Menschen in der Praxis verbiegen, um sich gewisse von Außen aufdiktierte Veränderungen wie auch immer schön zu reden.
Ach ja: Der Vorteil der Theoretiker ist, dass sie sagen können, was sie wollen, die Überprüfung sollen die Praktiker übernehmen und das (üppige oft Professoren-) Gehalt landet trotzdem jeden Monat auf dem Konto.
“zumal bei der Einführung von mehr Personal nicht die Rede war.”
Doch. Die Konvention sieht vor, die Ressourchen für die optimale Förderung sicherzustellen.
Danke für den guten Kommentar.
Die Behauptung, es sei vor der Einführung nicht um Personal gegangen, ist schlichtweg falsch. Richtig ist, dass die GroKo in Niedersachsen genau diesen Passus möglichst lange zurückgehalten hat und lange unklar war, an welchen Werten eine Orientierung erfolgen würde: GU, Umsetzung in HB oder SH oder im schlechtesten Fall am Vorläufer des RIK, bei dem neben der Grundversorgung ebenfalls immer Zusatzbedarfe bestanden.
Des Weiteren ist ja sogar per Erlass geregelt, welche Stunden zugewiesen werden sollen. Diese kommen in den Schulen aber nicht an, die betreffenden Schüler aber schon.
Würden Sie den Lehrkräften in NRW, die demnächst 6 Stunden zusätzlich erteilen sollen, auch bescheinigen, dass sie die „gute Idee“ des Unterrichts ruhig unterstützen dürfen?
Es ist definitv klar: Die Konvention baut auf der Erklärung von Salamanca von 1993 auf und schreibt diese weiter. Der GU-Standard muss zumindest garantiert sein. Aber wer kann schon das Bundesland Hessen oder Niedersachsen verklagen!?
@Palim at 15:51
Mit Ihrer Abschlussfrage verdrehen Sie meine Aussage.
Ich versuche es noch einmal und hoffe, dass Sie mich jetzt richtig verstehen (wollen):
Lehrkräfte, die erleben, wie katastrophal die Inklusion in der Praxis für sie und die Schüler läuft, sollten sich nicht länger bemüßigt fühlen zu sagen, dass sie die Idee ja weiterhin gut fänden und dass diese nur mehr personelle Unterstützung brauche.
So äußerten Sie sich zu meiner Verwunderung noch vor Kurzem als „Grundschullehrerin in Niedersachsen“.
Nur GEW-Vertreter, „Experten“ vom Grundschulverband oder andere Außenstehende können meiner Meinung nach an der Verteidigung dieser von ihnen mitpropagierten Idee interessiert sein, auch wenn sie inzwischen erhebliches Unglück über viele Schulen gebracht hat.
„Wir haben uns nicht geirrt, die Idee ist gut, aber sie braucht viel mehr Personal“, lautet die Aussage, mit der man Schuld abwälzt.
Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass die glühenden Vertreter der radikalen Inklusionsidee anfänglich von viel mehr nötigem Personal gesprochen hätten. Stattdessen wurde immer wieder auf die richtige Einstellung verwiesen, die Lehrer fürs Gelingen haben müssten.
Was ist eigentlich mit Lehrerinnen, die bei den derzeitigen Ansätzen von Inklusion feststellen, dass es durchaus Kinder mit Beeinträchtigungen gibt, die selbst bei der derzeitig schlechten Umsetzung, die vorher nicht bekannt war, in der Regelschule recht gut zurecht kommen und erstaunliche Lernfortschritte machen? Darf man das feststellen und äußern?
Der derzeitige Lehrermangel zeichnete sich ab, die Ausmaße waren aber m.E. nicht überschaubar, die zusätzlichen Anforderungen durch Migration könnte man nicht vorhersehen. Ebensowenig weitere Faktoren und noch viel weniger die Auswirkungen des Zusammenspiels.
Auf wie viel Inklusion in welchem Bundesland schauen Sie, wenn Sie darlegen, dass es um „massiv behinderte“ Kinder geht, die allein die ganze Kraft der Lehrerin benötigen. Wie konnte das dann zuvor in einer Förderschule mit 16 Kindern mit Förderbedarf gelingen?
Zusatzbedarfe, die von Beginn an im Gespräch waren und in den Erlassen stehen, könnten zusammengeschlossen werden und würden die Schulen erheblich besser ausstatten. Ähnliche Bedarfe könnten auch Förderschulen geltend machen für besonders Beeinträchtigte. Der Ruf nach Hilfe bezieht sich damit auf die Erlasslage! Meiner Meinung nach gehen das Recht und die Pflicht zur Inklusion einher mit der Pflicht, Förderung angemessen zu ermöglichen und Lehrkräfte entsprechend zu unterstützen. Das Land Niedersachsen ist aber offenbar derzeit nicht in der Lage oder nicht gewillt, die Voraussetzungen entsprechend der Erlasse zu schaffen oder Alternativen auch nur im Ansatz zu bedenken.
Im Übrigen können Sie aufhören zu munkeln und zu mutmaßen, ob ich Grundschullehrerin in Niedersachsen bin. Ich bin es. Auch muss ich mich hier nicht verbiegen und keine Unwahrheiten verbreiten und gehe davon aus, dass auch Sie dies nicht machen. Ich kann durchaus darlegen, was meiner Meinung nach am Schulsystem in meinem Bundesland gut und weniger gut ist und welche regionalen Gegebenheiten das eine oder andere fördern oder behindern.
Dabei kann ich das Recht auf Inklusion als Menschenrecht auffassen, die Pflicht der Lehrkräfte begreifen, bin aber dennoch der Meinung, dass diese Pflicht nur zu erfüllen ist, wenn das Land entsprechende Bedingungen schafft.
Die Praxis, nein, MEINE Praxis, ist, dass täglich in meinem Unterricht SuS mit unterschiedlichen Begabungen und Beeinträchtigungen sitzen und ich die, die mir nicht gefallen (könnten), nicht einfach auf den Flur stellen kann. In Niedersachsen kann ich sie meist nicht einmal an eine andere Schule verweisen – Ordnungsmaßnahmen vorbehalten – da es diese Schulen nicht gibt und zum Teil zuvor auch nicht gab. Da bekommt die Gewährung einer Grundversorgung im Vergleich zum vorherigen System eine andere Perspektive. Das ist der Stand der Dinge und zunächst einmal überhaupt keine Wertung, ob mir das gefällt oder nicht.
Die Probleme des Alltags gehören benannt, damit die Landesschulbehörde bzw. das Ministerium diese wahrnimmt und nicht einem Landesrechnungshof Glauben schenkt, der allein auf Zahlenmaterial eine Bewertung stellt, die fern der pädagogischen Realität ist, und behauptet, die Inklusion sei bei nicht vorhandener oder völlig unzureichender Grundversorgung sinnvoll umsetzbar, da günstig. Tatsächlich finden sich im Bericht des Landesrechnungshofes aber auch andere Aspekte, die deutlich zeigen, wie ungeplant die Inklusion in Niedersachsen eingeführt wurde und umgesetzt wird. Dem sollte sich das Land stellen.
Die Probleme gehören genannt, sie sollen aber nicht mit einigen Leuchtturmschülern klein geredet werden. Genau das wird Ihnen von verschiedener Seite hier vorgeworfen.
Man muss also zu dem Ergebnis kommen, dass kein Förderschüler an der Regelschule Erfolg hat, weil die Meinung dies so vorgibt, unbesehen der tatsächlichen Leistung von Schülern?
Sind also Schülerleistungen generell nach politischen Ansichten zu bewerten?
Was ist mit den Problemen an anderen Schulformen?
Darf man sich dort die Aufgaben als Lehrkraft aussuchen und die Schüler, die einem genehm sind, auswählen, den anderen aber die Tür weisen?
Jeder Schüler, der sozial wechselseitig in Großgruppen funktioniert und kognitiv das Bildungsziel der Regelschule gleich welchen Namens schaffen kann, soll diese auch besuchen. Alle anderen bitte nicht. Das sollte meiner Meinung auch schon für die Grundschule gelten, ggf. mit Probezeit in Klasse 1&2, vorausgesetzt, sie wird wieder so umgebaut, dass die Kinder danach so gut lesen, schreiben und rechnen können, dass die Spreu vom Weizen unterscheidbar ist.
Ungeplant? Ich glaube, dass alles sehr genau geplant war und die rasante Schließung weiterer Förderschulen nur durch Protest vorerst auf Eis gelegt wurde.
Im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Meinung, dass man über die Auslegung des Menschenrechts der UN-Kovention durchaus geteilter Meinung sein kann und m. E. Förderschulen diesem Menschenrecht bereits seit Jahrzehnten trotz hoher Kosten überaus gerecht wurden.
Erst die UN-Konvention und ihre umworbene Interpretation boten die Möglichkeit, behinderte Kinder auf billigere Art zu beschulen und dabei noch Lob zu ernten.
Das ist meine Meinung zur Inklusion und wie sie bei uns auf Grund der UN-Konvention von politischer Seite dankbar gehandelt wurde.