Welchen Beruf soll ein junger Mensch ergreifen? Angesicht von mittlerweile rund 330 Ausbildungsberufen und mehr als 6000 möglichen Studiengängen sei diese Frage für Schüler immer schwieriger zu beantworten, meint Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) einem Bericht der „Wolfsburger Allgemeinen“ zufolge. Deshalb wird jetzt die Berufsorientierung auch im Lehrplan der Gymnasien und Integrierten Gesamtschulen in Niedersachsen stärker verankert. Die Zahl der verpflichtenden Praxistage steigt von zehn auf 25. Dabei bleibt es den Schulen selbst weitgehend überlassen, wie – und vor allem in welchen Jahrgängen – sie diese vorsehen. Möglich sind Besuche in Firmen oder bei Ausbildungsmessen, Zukunftstage, Kompetenzanalysen und Praktika.
Den Philologen kritisieren, dass sich die Anzahl der Praxistage der Schüler mehr als verdoppelt – was einschließlich der erforderlichen Vor- und Nachbereitung „eine deutliche Begrenzung des allgemein bildenden fachlichen Unterrichts nach sich ziehe“. Zudem würden Schulen aller Schulformen des Sekundarbereichs verpflichtet, sowohl ein schuleigenes fächerübergreifendes Konzept zur Durchführung von Maßnahmen zur Beruflichen Orientierung zu erarbeiten als auch ein detailliertes Kompetenzfeststellungsverfahren verbindlich einzuführen und dies kontinuierlich zu dokumentieren. „Die Berufsorientierung in solch überbordendem Maß zu Lasten des Fachunterrichts zu erhöhen ist auch angesichts der zahlreichen bestehenden Probleme wie Unterrichtsversorgung, Lehrermangel und Stundenausfall gegenüber Schülern und Lehrern unverantwortlich. Dies lässt nur den Schluss zu, dass der Kultusminister und sein Haus den Fachunterricht nicht mehr als wesentliches Element schulischer Bildung betrachten“, meint Audritz.
“Fragwürdiges Verfahren”
Besondere Kritik üben die Philologen insbesondere an dem vorgesehenen Kompetenzfeststellungsverfahren. Alle Schüler sollen künftig ihre Stärken und Fähigkeiten in einem solchen Verfahren kennenlernen. Lehrer könnten das Verfahren „Profil AC“ nutzen, das an Haupt- und Realschulen in Niedersachsen bereits erfolgreich eingesetzt werde, erklärte Tonne laut Bericht in Hannover. Möglich sei eine entsprechende Potenzialanalyse bereits für Siebtklässler. Die Philologen fragen nun, welchen nachhaltigen Nutzen „ein derart komplexes und arbeitsaufwändiges, vor allem aber auch fragwürdiges Verfahren“ haben solle. „Schüler im siebten Schuljahr haben noch ganz andere Vorstellungen von ihrer Berufswahl als in Jahrgang 11 oder 13. Welchen Sinn also eine aufwändige Potenzialanalyse in dieser Form hat, ist für uns nicht nachvollziehbar“, sagt Audritz.
Die Vielzahl der offensichtlich neuen Erfordernisse an die zeitlichen und personellen Ressourcen der Schulen würde durch die Ankündigung von 1000 Anrechnungsstunden zusammen für alle Schulen völlig unzureichend in Rechnung gesetzt. „Gemessen an den neuen Aufgaben für Schulen und Lehrkräfte sind diese Stunden weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein, die die zusätzlichen Belastungen in keiner Weise auch nur ansatzweise zeitlich ausgleichen können; gleichzeitig gehen dadurch aber wieder Stunden für den Fachunterricht verloren, was zu weiterem Unterrichtsausfall führt“, erläutert Audritz.
Dabei stehe außer Frage, dass eine angemessene Berufs- und Studienorientierung an allgemein bildenden Schulen erforderlich sei, um Schülern eine begründete Wahl weiterführender Ausbildungswege in Studium und Beruf zu ermöglichen. Diese Maßnahmen müssten aber den spezifischen Bildungsauftrag der jeweiligen Schulform berücksichtigen – was hier nicht der Fall sei. Deshalb habe der Philologenverband in einer ausführlichen Stellungnahme den Erlassentwurf abgelehnt. „Eine dem gymnasialen Bildungsauftrag entsprechende schulformspezifische Differenzierung der Beruflichen Orientierung fehlt in dem neuen Erlass. Die nun durch Minister Tonne gepriesenen Maßnahmen werden die viel zu weit gesteckten realitätsfernen Ziele nicht erreichen können und sie sind daher schon deswegen zur Vermeidung von Frustrationserlebnissen ungeeignet; sie werden im Gegenteil neue schaffen, und zwar bei Schülern wie Lehrern“, betont Audritz. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus
Das Thema wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.
Schüler wünschen sich mehr Berufsorientierung – so können Lehrer sie unterstützen
