Als der erste MNU-Bundeskongress tagte, flog Otto Lilienthal – heute (beim 110. Kongress) dreht sich alles um digitalen MINT-Unterricht

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HANNOVER. Der MNU-Verband ist eine altehrwürdige Institution. Bereits seit 1891 tritt sie für Qualität und Fortschritt in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Schulfächern ein. Dass künftig auch dort an der Digitalisierung kein Weg vorbei führt, machte der mittlerweile 110. MNU-Bundeskongress deutlich, der unlängst in Hannover stattfand und die Digitalisierung zum Schwerpunktthema ausgerufen hatte: Lehrer stellten dort ihre Erfahrungen mit dem digitalen Lernen vor.

Für den MINT-Unterricht bieten digitale Medien breite Anwendungsmöglichkeiten – bis hin zur „augmented reality“, der erweiterten Realität. Foto: Shutterstock

Als 1890 in Jena der „Kongress von Lehrern der Mathematik und Naturwissenschaften höherer Unterrichtsanstalten“ stattfindet, hat der Flugpionier Otto Lilienthal gerade seine ersten Flugversuche in Planung, die ihn kurz darauf 25 Meter weit durch die Luft befördern. Reichskanzler Otto von Bismarck reicht nach Unstimmigkeiten zur Sozialgesetzgebung seinen Rücktritt bei Kaiser Wilhelm II. ein. Die neue Allianz Versicherungs-AG lässt sich in Berlin ins Handelsregister eintragen. Und im bayerischen Reichenhall nimmt das erste mit Wasserkraft betriebene Wechselstrom-Kraftwerk Deutschlands seinen Betrieb auf. Die 1.200 eingeladenen Lehrer und Lehrerinnen diskutieren derweil die geplanten Reformen des preußischen höheren Schulwesens und nehmen an Fortbildungskursen der Universität Jena teil.

Zeitsprung ins Jahr 2019. „Wir müssen die Schüler in der digitalisierten Alltagswelt abholen, um sie nach draußen zu bringen.“ Das fordert Christian Dietz, einst Biologielehrer und heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Didaktik der Biowissenschaften der Uni Frankfurt/Main Ausbilder von angehenden Lehrkräften. Wie das gehen kann, stellt er am Beispiel der Otto-Hahn-Schule Hanau jetzt auf dem Bundeskongress des Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts (MNU) in Hannover vor.

Mit der von einer Berliner Firma entwickelten App Actionbound können Schüler bei einer digitalen Schnitzeljagd Naturschätze rund um ihre Schule entdecken. Wie beim Geocaching bekommen sie Aufgaben, um die nähere Umgebung zu erforschen: Wie hoch ist der große Baum auf dem Schulhof? Um was für einen Baum handelt es sich? Wie sieht der Flechtenbewuchs aus? Für welche Vogelarten wurden Nistkästen angebracht? Welche Pflanzen und Lebewesen findet man in Mauerritzen des Schulgebäudes? „Mit dem Smartphone kann man über verschiedene Apps Bestimmungshilfen bekommen, Messungen durchführen und vieles mehr, um solche Aufgaben zu lösen“, sagt Dietz.

„Mit Lehrerunterstützung können Schüler zudem selber Aufgaben für eine Rallye für andere Klassen gestalten und so ihre eigenen Interesse einbringen“, ergänzt Dietz‘ Kollege Sebastian Nolof. Dabei sollten Aufgaben so gestellt werden, dass sie zu verschiedenen Zeiten und wetterunabhängig gelöst werden können und weder Tiere noch Pflanzen dabei zu Schaden kommen. „Durch Biocaching, also die biologische Schatzsuche, wird die Motivation der Schüler erhöht und ihr Blick für die tägliche Umwelt geschärft“, ist Dietz überzeugt – ob sie im Vergleich mit dem herkömmlichen Unterricht zusätzliche Dinge lernen, hänge von der jeweiligen Aufgabe ab.

Escape-Rooms für den Mathe-Unterricht

Auch Jenny Charon und Nils Manuel Krause präsentierten auf dem MNU-Kongress ein populäres Spielprinzip: Sie nutzen Escape-Rooms für den Mathematikunterricht. Die beiden Lehrer berichteten von ihren Mathe-AGs an den Gymnasien in Landsberg bzw. in Halle/Saale, in denen 10. Klässler Escape-Rooms für jüngere Schüler entwickelt und gebaut haben. Ziel war es, dass die Schüler etwas über das Leben und Werk des Mathematikers Georg Cantor erfahren. Sie mussten unter anderem den Raum als Koordinatensystem begreifen, Ideen für die Entschlüsselung von Symbolen entwickeln oder durch entsprechende Hinweise das Licht ausschalten, um einen Artikel in Leuchtschrift lesen zu können und so Informationen über das Cantorsche Diagonalverfahren zu bekommen.

„Die AG-Teilnehmer haben viel zu Cantor recherchiert und sich sehr viele Gedanken gemacht, welche Inhalte sie auf welche Weise vermitteln wollen und wie die jüngeren Schüler diese Aufgaben in 30 Minuten schaffen können“, erzählt Charon. Es geht nicht darum, mathematische Aufgaben zu lösen – vielmehr müssen die Schüler zusammenarbeiten, um überhaupt verstehen zu können, worin die genaue Aufgabe besteht.

„Escape Rooms fördern Kollaboration, Kommunikation, Kreativität und kritisches Denken. Der große Reiz für die Schüler liegt darin, dass sie ein Rätsel lösen wollen, das können wir für die Mathematik nutzen“, sagt Krause und Charon fügt an: „Gerade Schüler mit einer Matheunlust waren besonders engagiert im Escape Room dabei und haben später im normalen Unterricht mehr mitgearbeitet als vorher.“ Für sie ist es besonders interessant, mit welchen Strategien die Schüler vorgehen: „Durch die Beobachtung verstehen wir besser, wie sie denken.“ An Krauses Georg-Cantor-Gymnasium ist der Escape Room eine dauerhafte Einrichtung und wird für viele Klassen eingesetzt. Alternativ könne auch ein digitaler Escape Room angelegt und mit dem Smartphone genutzt werden.

Monika Möschke, Stefan Krämer und Reimund Goss vom Institut für Biologie der Uni Leipzig gehen in einem MNU Journal-Aufsatz der Frage nach, ob die Mikro-Fotografie mit dem Smartphone eine Alternative zur Zeichnung von mikroskopischen Objekten im Unterricht ist. Sie haben festgestellt, dass die hohe Qualität der Bilder beim Einsatz des Smartphones bei Studierenden die Motivation erhöht hat, pflanzliche Objekte intensiver über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Vor übertriebenen Erwartungen warnen die Autoren: Das Fotografieren könne genauso lange dauern wie das Mikroskopieren und Zeichnungen seien weiterhin nötig, da sie das Verständnis förderten.

„Digital ist nicht automatisch besser“, sagt Ira Diethelm, Professorin für Didaktik der Informatik an der Uni Oldenburg, die auf dem Kongress in Hannover mit Kollegen über die MINT-Bildung im Zeitalter der Digitalisierung diskutiert.

Die Digitalisierung bietet aber gewaltige Chancen für den Unterricht, wie Martin Fugmann betont. Fugmann muss es wissen: Er ist Leiter des Evangelisch Stiftschen Gymnasiums Gütersloh, an dem jeder Schüler ein digitales Endgerät im Unterricht einsetzt – und er war bis 2017 Leiter der deutschen Schule im kalifornischen Silicon Valley, wo die Internet-Giganten sitzen (was natürlich auf die Schulen vor Ort durchschlägt). „Gerade in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern sollte ein digitaler Unterricht für Entdeckungsreisen genutzt werden“, sagt Fugmann und fordert: „Allerdings müsste die Lehrerausbildung dafür im Kern reformiert werden.“ Nach seiner Überzeugung brauchen Schüler heute grundlegende Kenntnisse über Informationstechnologien, damit sie zum Beispiel Algorithmen beurteilen und auch darüber entscheiden können, wann sie eingesetzt werden sollen und wann nicht.

Um Schülerinnen und Schüler nachhaltig für die naturwissenschaftlichen Fächer zu motivieren, entwickeln Lehrkräfte zahlreiche methodisch und didaktisch innovative Unterrichtsstunden. Dass sie auch oft auf digitaler Basis stehen, liegt nahe. Diese zu identifizieren und anderen Lehrkräften bekannt zu machen, das ist Ziel des Nachwuchs-Wettbewerbs „Innovative MINT-Unterrichtsideen“, zu dem der Ernst Klett Verlag und der  Bundesverband MNU in diesem Jahr bereits zum achten Mal aufgerufen hatten. Den ersten Platz erzielte die netzwerkbasierte Lernumgebung „InstaHub“ für das Fach Informatik, in dem praxisnah der sichere Umgang mit Daten und Datenbanken vermittelt wird. Joachim Göres / Klett Themendienst

Deutscher Schulleiterkongress: Digitalisierung? Ja, bitte – aber nur auf der Grundlage einer neuen Lernkultur

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