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Warum Empathie von Pädagogen gerade heute so wichtig ist – ein Gastbeitrag

OLCHING. Im Falle der Digitalisierung von Schule sprächen Trendforscher wohl von einem „Key-Trend“, also einem dominierenden Wandlungsprozess besonderer Wichtigkeit. Fast scheint es so, als sei es heute die Hauptaufgabe von Lehrern, auch persönlich für den globalen Digitalisierungswettlauf fit zu bleiben. Darüber darf aber die eigentliche Pädagogik nicht auf der Strecke bleiben, erklärt unser Gastautor Peter Maier.

In den letzten Jahren geht es in der Pädagogik nur noch um Digitalisierung. Man bekommt den Eindruck, diese beiden Begriffe seien synonym. Die Bildungspolitik in Deutschland wird im Augenblick von der Aufgabe dominiert, die Digitalisierung in den Schulen voranzutreiben: Anschaffungen von interaktiven Whiteboards in jedem Klassenzimmer, Bereitstellung nur noch digitaler Arbeitsmittel statt gedruckter Bücher, funktionsfähiges WLAN in jedem Raum, reine Tablet-Klassen u.v.m. Man möchte nicht, dass der Bildungsstandort Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern, besonders im Vergleich mit China, abgehängt wird. Was aber in dieser ganzen Debatte vollkommen auf der Strecke bleibt, ist die eigentliche Pädagogik, die auch im dritten Jahrtausend eine Bindungsbildung sein muss.

Schüler sind Jugendliche in der Entwicklung und keine kalten Lernroboter. Foto: Alexas_Fotos / Pixabay (P.L.)

Digitalisierung versus Pädagogik?

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Denn unsere Schüler* sind eben keine kalten, digitalisierten, nur hirnig ausgerichteten Lernroboter, sondern Jugendliche in ihrer Entwicklung: in ihrer bisweilen mühsamen und langwierigen Persönlichkeitsentwicklung, ihrer Charakterbildung und ihrer Werteerziehung. Und das in Zeiten einer als immer unsicherer empfundenen globalisierten Welt, die von Terrorangst, Handelskriegen, einem sich völlig egozentrisch gebärdenden Donald Trump und neuerdings von der berechtigten Angst ums Weltklima beherrscht wird. Gerade Schüler haben hier mit ihren Schulstreiks „Fridays for Future“ eine neue Sensibilität gezeigt und – hoffentlich – eine nicht mehr abreisende Diskussion bei den Mächtigen dieser Welt entfacht.

Natürlich wird von uns Lehrern erwartet, dass wir uns der digitalen Entwicklung an den Schulen stellen und die uns anvertrauten Schüler Wissens-fit und Technik-kompetent für die Zukunft in einer sich immer schneller drehenden Welt machen. Der Bildungsstandort Deutschland muss Zukunfts-fähig bleiben. Als Pädagoge mit nunmehr 38-jähriger Berufserfahrung möchte ich jedoch einen leidenschaftlichen Appell an meine Lehrer-Kollegen, sowie an alle Bildungspolitiker und „Lehrplan-Macher“ richten: „Vergesst die Pädagogik nicht!“

Umfrage: Die meisten Schüler halten ihre Lehrer für digital inkompetent

Weiche Faktoren in der Pädagogik bleiben gefragt

Unter „weichen“ Faktoren in der Pädagogik meine ich vor allem „Soft Skills“ wie Mitgefühl, Liebe und Empathie unseren Schülern gegenüber. Diese Eigenschaften sind mehr gefragt denn je, auch wenn sie schlecht messbar und schon gar nicht operationalisierbar sind. Gerade in uns Lehrern suchen die Schüler einen Menschen,

Kurzum: Unsere Schüler brauchen im Lehrer vor allem einen Menschen, der ihnen im Klassenzimmer gegenüber steht, der sie liebt, sie als Individuen wahrnimmt, ihnen zugewandt ist und ihnen Mut macht. Wie sehr diese Überlegungen zutreffen, soll folgendes Beispiel aus dem Schulalltag eines Physik-Kollegen in einem Nürnberger Gymnasium zeigen:

Der Fall Maria (Name geändert)

„Ich unterrichte Physik in einer 8. Klasse. Zu Beginn der Stunde Anfang Dezember bat ich eine Schülerin (Maria) zur Tafel. Leider konnte die 13-jährige Maria, die an sich eine leistungsstarke und ehrgeizige Schülerin ist, nur einen Teil meiner Fragen beantworten. Sie wirkte irgendwie nervös und geistesabwesend. Ich notierte die Note „ausreichend“ in meine Schülerliste. Als Maria nach der Stunde nach ihrer Leistung fragte, die ich nur mit „Vier“ bewerten konnte, fing sie heftig an zu weinen. Ja, es schüttelte sie so richtig durch. Betroffen fragte ich sie, was mit ihr denn los sei.

Da brach es aus ihr heraus: Am Wochenende hatte sie nachts wach in ihrem Bett gelegen. Vom benachbarten Schlafzimmer ihrer Eltern konnte sie deren Auseinandersetzung hören. Sie hatten beschlossen, sich zu trennen. Das war ein heftiger Schock für Maria. Da sie sich irgendwie schuldig an den Partnerproblemen ihrer Eltern fühlte, hatte sie es bisher nicht gewagt, mit ihnen darüber zu sprechen. Daher war sie mit ihrer großen seelischen Not und ihren Verlustängsten allein. Sie fühlte sich isoliert.

Als ich das hörte, war ich insgeheim froh, dass nun alles rauskam, was Maria offensichtlich so sehr belastete. Gleichzeitig berührte mich das Vertrauen von Maria in mich als einen ihrer Lehrer sehr. Da ich eine Freistunde hatte, hörte ich ihr einfach zu und sagte ihr, dass sie immer zu mir kommen und mit mir über alles reden könne, so wie jetzt gerade. Ich wusste, dass ich natürlich das Problem von Maria mit ihren Eltern nicht lösen konnte, aber ich konnte feststellen, dass es ihr danach ein bisschen leichter ums Herz war, weil sie ihre Ängste rausgelassen und zumindest einer erwachsenen Person anvertraut hatte. Der Lehrerin der nachfolgenden Stunde gab ich in der Pause Bescheid, warum Maria um fast eine Viertelstunde zu spät in ihren Unterricht gekommen war.

Eine Woche später war Elternsprechabend. Wie durch „Zufall“ kam auch die Mutter von Maria. Da wir nur maximal zehn Minuten Zeit hatten, konfrontierte ich die Mutter sofort mit der Not ihrer Tochter. Die Mutter fiel aus allen Wolken, weil sie davon nichts wusste und begann nun ihrerseits, heftig zu weinen. Ich bekam den Eindruck, dass nun einerseits ihr Partnerschaftsproblem zumindest bei mir als dem Physik-Lehrer von Maria öffentlich geworden war; das war ihr peinlich. Gleichzeitig war es wie ein Stich für sie, weil sie nun die große Not und die Ängste ihrer Tochter spüren konnte. Sie bedankte sich sehr für dieses Gespräch und für meine Information, bat mich aber gleichzeitig, Maria nichts von dieser Unterredung zu erzählen. Daran hielt ich mich natürlich.

Ende Januar stand Maria nach einer Physik-Stunde wieder vor mir – diesmal erleichtert, ja sogar ein bisschen strahlend. Sie teilte mir mit, dass ihre Mutter nun über alles mit ihr gesprochen hatte, auch über meine Unterredung mit ihr am Elternabend. Mit ihrem Vater hatte es ebenfalls eine offene Aussprache gegeben. Diese führte letztendlich dazu, dass die Eltern nun auf jeden Fall zusammen bleiben wollten. Die verständliche Not ihrer Tochter hatte sie anscheinend sehr erschüttert und ihnen bewusst gemacht, wie wichtig sie für ihr Kind seien, die gerade mitten in der Pubertät steckt und beide Eltern braucht.

Nun bedankte ich mich ausdrücklich bei Maria für ihre Offenheit, ihr Vertrauen, ihre Kraft, das alles durchzustehen und für diese Rückmeldung, die für mich wie der vorläufige Abschluss eines intensiven psychologischen und pädagogischen Prozesses war. Bleibt noch zu erwähnen, dass sie im weiteren Verlauf des Schuljahres nicht mehr zu mir kam. Maria wusste aber, dass sie jederzeit wieder mit mir reden konnte. Sie wirkte nun auf mich viel gelassener.“

Reflexion

Ich kann vor diesem Kollegen nur meinen Hut ziehen. Scheinbar hat er im Laufe seines Berufes eine tiefe Empathiefähigkeit entwickelt. Gleichzeit redete er nicht um den Brei herum, als „das Schicksal“ ihm die Mutter von Maria zum Elternabend schickte. Er scheute sich auch nicht, die Mutter sofort mit der vollen Ladung des Problems zu konfrontieren, wissend, dass diese Situation ein „Kairos“ war, also ein besonderer Augenblick, der so vielleicht nie mehr wiederkommen würde. Dass es der Mutter peinlich war, weil er zu ihrer Überraschung im vollen Bilde von ihren Partnerproblemen zu Hause war, musste er in Kauf nehmen. Der Lehrer ergriff also eindeutig Partei für Maria und wusste, dass er nun handeln und die Mutter direkt und schonungslos mit Marias Not ins Bild setzen musste. Das brachte wohl den Umschwung für die Lage von Maria und indirekt womöglich sogar für die Beziehung ihrer Eltern. Die Problematik Marias war nun auf dem Tisch ihrer Eltern gelandet.

Mit etwas Abstand betrachtet, musste mein Kollege sehr flexibel, einfühlsam und zupackend in kurzer Zeit verschiedene Rollen einnehmen:

Fazit: Mir ist klar, dass solch eine Situation wie die von Maria nicht so häufig vorkommt. Dennoch ist die Schule ein offenes System, in das auch immer wieder Probleme der Schüler von zu Hause hereingetragen werden. Es bedarf einer permanenten Präsenz im Schulalltag, um auch mit solchen Situationen wie der des Kollegen adäquat umgehen zu können. Grundkenntnisse in Psychologie können auch für uns Lehrkräfte nicht schaden…

Peter Maier
(Gymnasiallehrer für Physik und Religion, Supervisor, Autor)

* Natürlich sind mit „Schüler“ stets Schülerinnen und Schüler, mit „Lehrern“ Lehrerinnen und Lehrer und mit „Kollegen“ Kolleginnen und Kollegen gemeint. Ich wollte aber den Artikel nicht unnötig aufblähen.

Über den Autor
Peter Maier ist Gymnasiallehrer, Jugend-Initiations-Mentor und Autor. Weitere Infos und Buch-Bezug unter: www.initiation-erwachsenwerden.de

Bereits erschienene Bücher:
• „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“. ISBN 978-3-86991-404-6 (18,99 €, Epubli Berlin)

• „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen.“ ISBN 978-3-86991-409-1 (19,99 €, Epubli Berlin)

• „Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“. ISBN: 978-3-95645-659-6 (20,99 €, Epubli Berlin)

Das aktuelle Buch des Autoren ist im Epubli-Verlag erschienen.
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Persönlichkeitsbildung, Digitalisierung, Empathie, Peter Maier

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