Studie zur Jugendarbeitslosigkeit in Krisenzeiten – Ist die duale Ausbildung so gut wie ihr Ruf? – Forscher fordern Diskussion um Neuordnung des Ausbildungssystems

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BERLIN. Trotz gesunkener Jugendarbeitslosigkeit werde es für Jugendliche mit Haupt- oder Realschulabschluss immer schwieriger, einen qualifizierten Ausbildungsplatz zu finden. Bereits jetzt werde die reale Jugendarbeitslosigkeit durch wenig wirksame Bildungsangebote kaschiert. Eine Analyse des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) kommt zu alarmierenden Befunden.

Nachdem die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland in den vergangenen fünfzehn Jahren deutlich gesunken ist, könnte sie jetzt um bis zu 40 Prozent ansteigen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Analyse des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) zur Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland in Krisenzeiten. Die Analysen zeigten zudem, wie sehr die Jugendarbeitslosigkeit durch wenig wirksame Bildungsangebote kaschiert werde.

Um eine „Generation Corona“ zu verhindern, bedarf es nach Ansicht von Dieter Dohmen einer grundlegenden Diskussion über die Neuordnung des Ausbildungssystems. Foto: lechenie-narkomani / Pixabay (P. L.)

Betrachte man die vergangenen fünfzehn Jahre, dann zeigt sich ein deutlicher Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit, bezogen auf die 15- bis 24-jährigen jungen Menschen in Deutschland von 15,5 (2005) auf unter 6 Prozent im vergangenen Jahr. Dieser Trend gelte für alle Gruppen von den Un- oder Geringqualifizierten bis hin zu den beruflich und Hochqualifizierten. Allerdings sei das Niveau an Arbeitslosigkeit bei den Geringqualifizierten mit fast 9 Prozent mehr als doppelt so hoch wie bei den beruflich Qualifizierten und Akademikern (3,9 bzw. 3,1 Prozent).

Gleichzeitig sei die Arbeitslosenquote der jungen Frauen in allen Qualifikationsgruppen niedriger als die der jungen Männer; besonders groß zeigte sich der Abstand bei den Geringqualifizierten (2019 – Frauen: 7,6 Prozent, Männer: 9,7 Prozent). Das tendenziell höhere Qualifikationsniveau der jungen Frauen spiele bei dieser Betrachtung keine Rolle, allerdings beeinflusse es die durchschnittliche Arbeitslosigkeitsrate der Frauen, deren durchschnittliche Arbeitslosenquote mit 4,8 Prozent um ein Drittel niedriger sei als das der jungen Männer (6,6 Prozent).

Besonders auffallend sei gewesen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in der Wirtschafts- und Finanzkrise, aber vereinzelt auch anschließend, lediglich bei den jungen Männern (von 11,0 auf 12,5 Prozent) und nicht bei den jungen Frauen angestiegen sei (Rückgang von 10,0 auf 9,8 Prozent). Auch diese Entwicklung habe sich übergreifend für alle Qualifikationsgruppen gezeigt, sei jedoch bei den beruflich und akademisch Qualifizierten besonders ausgeprägt (relativer Anstieg um 24 bzw. 42 Prozent). Das Vorkrisenniveau wurde demnach übergreifend seinerzeit innerhalb von weniger als zwei Jahren wieder erreicht.

Corona-Krise und Jugendarbeitslosigkeit

Ausgehend von Analysen der Auswirkungen der vorhergehenden Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 rechnen die FiBS-Wissenschaftler mit einem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf 6,9 Prozent; gegenüber 2019 wäre dies ein Anstieg um 18 Prozent. Dabei gebe es jedoch erhebliche Unterschiede in Abhängigkeit von Geschlecht und Qualifikationsniveau: Überdurchschnittlich betroffen wären dann qualifikationsübergreifend vor allem junge Männer (8,3 vs. 5,6 Prozent bei den jungen Frauen), wobei, relativ gesehen, diejenigen mit abgeschlossener Berufsausbildung besonders stark betroffen wären. Bei jungen Menschen mit einer beruflichen Qualifikation zeigen sich Anstiege von 4,3 auf 6,0 Prozent (+38 Prozent) bei den Männern bzw. 3,4 auf 4,0 Prozent (+17 Prozent) bei den Frauen. Bei den Hochschulabsolventen ist mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf knapp 4 Prozent zu rechnen.

Trotz allem zeige sich die Arbeitslosenquote von Geringqualifizierten mit 9,1 Prozent bei den jungen Frauen bzw. 11,3 Prozent bei jungen Männern doppelt bis dreimal so hoch. Dabei sei zu berücksichtigen, dass selbst in normalen Zeiten über 250.000 junge Menschen pro Jahr ins sogenannte Übergangssystem einmünden, da sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben oder als nicht ausbildungsfähig betrachtet würden. Würde man diese Jugendliche im weiteren Sinne als (ansonsten) arbeitslos ansehen, läge die allgemeine Jugendarbeitsquote mit 13 Prozent mehr als doppelt so hoch wie der offizielle Wert und die Quote der geringqualifizierten Jugendlichen sogar bei fast 26 Prozent. Das ist fast das Dreifache der offiziellen Wertes.

Beschäftigungsanstieg und Ausbildungssystem leisten nur geringe Beiträge zum Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit

Betrachtet man mögliche Ursachen für den starken Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit, dann werde deutlich, dass hierfür weder das duale System noch die ansonsten günstige Beschäftigungsentwicklung herangezogen werden können. Das gelte insbesondere bei den 15- bis 24-Jährigen. Vielmehr seien die Übergangschancen in die duale Ausbildung sowohl für Jugendliche mit und ohne Hauptschulabschluss als auch für Realschulabsolventen geringer als noch vor Jahren. Demgegenüber zeige sich eine höhere Übergangsquote in Ausbildung ausschließlich bei den Studienberechtigten. Zudem sei die Zahl der Ausbildungsplätze mittlerweile um rund 100.000 geringer als vor der Wirtschafts- und Finanzkrise; und es stehe zu befürchten, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in den kommenden Jahren weiter sinkt.

Im Gegenteil sei zu beobachten, dass Jugendliche mit und ohne Hauptschulabschluss deutlich häufiger als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren in das sogenannte Übergangssystem einmündeten; lediglich bei den Realschulabsolventen sei die Quote gesunken. Zwar könne das Übergangssystem zum Teil zur Verbesserung der Schulabschlüsse genutzt werden, vor allem aber sei es ein Auffangbecken für junge Menschen, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.

Übergang Schule-Ausbildung als Nadelöhr

„Wer sich die Hintergründe der positiven Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit der vergangenen 15 Jahre genauer ansieht, muss leider feststellen, dass das duale System, entgegen allen Mythen, für den Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit ebenso wenig verantwortlich ist wie die positive Beschäftigungsentwicklung,“ stellt Studienautor Dieter Dohmen, fest. „Zwar sind junge Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung deutlich seltener arbeitslos, allerdings ist und bleibt der Zugang zur qualifizierten Ausbildung das Nadelöhr für junge Menschen. Im Wettbewerb um knappe Ausbildungsplätze haben vor allem Jugendliche mit Abitur einen Vorteil, während diejenigen mit Haupt- oder Realschulabschluss immer weniger zum Zuge kommen,“ ergänzt der FiBs-Direktor. „Vielmehr ist die Zahl der Ausbildungsplätze deutlich geringer als noch 2008. Sollte sich dieser Trend infolge der Corona-Krise fortsetzen, dann ist mit einem sich weiter verschärfenden Wettbewerb um knapper werden Ausbildungsplätze zu rechnen.“

Dies gelte trotz der eigentlich für junge Menschen günstigen demografischen Entwicklung oder der sinkenden Zahl an Schulabgängern. „Entweder sind die Anforderungen der Ausbildungsbetriebe so sehr gestiegen, dass Haupt- oder Realschulabschluss zunehmend weniger als ausreichend gelten oder aber der Schulabschluss sagt immer weniger über die Kompetenzen der Jugendlichen aus,“ meint Dohmen. „Wenn das richtig ist, dann würde das umgekehrt bedeuten, dass große Teile der Jugendlichen mit Haupt- oder selbst Realschulabschluss so inkompetent wären, dass sie für eine berufliche Ausbildung nicht in Betracht kommen.“ Erstaunlich findet er dabei, dass rund 200.000 ausbildungsinteressierte junge Menschen in der Ausbildungsstatistik nur am Rande auftauchen und dadurch der Eindruck erweckt werde, es gäbe nur eine geringe Nachfrage nach Ausbildung oder eine Zahl an unversorgten Ausbildungsplatzbewerbern. „Unsere Befunde erfordern eine grundlegende Diskussion über die Neuordnung des Ausbildungssystems, wenn man verhindern will, dass es wirklich eine Generation Corona gibt,“ findet Dohmen. „Dabei darf nicht übersehen werden, dass faktisch seit Jahrzehnten große Teile der Jugendlichen keine Chance auf eine qualifizierte Ausbildung haben.“ (pm)

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