BERLIN. Die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin beraten heute in einer Videokonferenz, wie es in der Corona-Krise weitergehen soll. Die Landesregierungen haben allerdings schon deutlich gemacht, dass sie nicht gewillt sind, ihren Kurs bei den Kitas und Schulen zu ändern (News4teachers berichtet aktuell). Trotz steigender Infektionszahlen soll in der Regel weiterhin Präsenzunterricht erfolgen – die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (RKI), Schutzmaßnahmen wie eine generelle Maskenplicht oder die Abstandsregel im Klassenraum ab einem Inzidenzwert von 50 einzuführen, lehnen sie ab. Im Vorfeld des Gipfels sprachen wir mit Jürgen Böhm, dem Bundesvorsitzenden des Verbandes Deutscher Realschullehrer (VDR). Er kritisiert die Haltung der Länder scharf.
News4teachers: Wie erleben Sie die aktuelle Situation in den Schulen? Ist der Kurs „Wir behalten Regelunterricht bei!“ noch länger haltbar?
Böhm: Absolut nicht, es fehlt die Linie. Allein die Äußerung, wir halten die Schulen offen, löst das Problem nicht. Es geht nicht darum, dass die Lehrkräfte keine Lust haben zu arbeiten, es geht nicht um „Corona-Ferien“, wie manche uns Lehrkräften unterstellen. Wir brauchen abgestufte Angebote, um auf die Herausforderungen durch Corona reagieren zu können, differenzierte Lösungen je nach Infektionsgeschehen. Ich glaube, dass die Gesellschaft nicht so richtig begriffen hat, dass Distanzunterricht, Hybridunterricht oder Präsenzunterricht alles Formen von Unterricht, von Bildung also, sind – und dass wir den Schulbetrieb entsprechend anpassen müssen. Das Offenhalten von Schulen um fast jeden Preis verstärkt nur das Chaos.
Böhm: Das kann man nur differenziert beantworten. Es gibt Bereiche, da ist es nur sehr schlecht möglich, aus der Ferne zu unterrichten – an den Grundschulen zum Beispiel. Da muss man sich schon verstärkt Gedanken um Präsenz-Elemente machen. Aber an den weiterführenden Schulen gibt es sogar hervorragende Ansätze für Hybrid- und Distanzunterricht. Wir haben im Frühjahr alle gemerkt, dass wir die Digitalisierung vorantreiben mussten, da ist einiges auf dem Weg und vielleicht noch nicht 100prozentig, aber da läuft auch Vieles. Also: Die Situation ist sehr unterschiedlich. In meinem Bereich, den bayerischen Realschulen, haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Dort konnten die Schüler während der Schulschließungen sehr gut erreicht werden und es wäre durchaus möglich, auch in der zweiten Welle mit Distanzunterricht Bildungsinhalte zu vermitteln. Anders sieht es aus, wenn man es laufen lässt – und immer mehr Schülerinnen und Schüler in Quarantäne gehen müssen. Das wird ein Chaos vor Ort erzeugen.
“Es geht leider vielen Kultusministern primär um Betreuung”
News4teachers: Sie sprechen von Bildung – geht es überhaupt um Bildung, oder geht es um Betreuung?
Böhm: Einem Kultusminister sollte es immer um Bildung gehen. Klar, Betreuung ist ein Aspekt. Es darf aber nicht allein wichtig sein, dass wir die Kinder in den Schulen nur aufbewahren. Deshalb halte ich zum Beispiel überhaupt nichts von einer Verlängerung oder Verkürzung von Ferien. Wir müssen in einer gewissen Regelmäßigkeit weiter agieren, um den Schülern ein Bildungsangebot liefern zu können. Das müssen die Kultusminister im Fokus behalten. Aber leider, da haben Sie wohl recht, geht es vielen Kultusministern derzeit leider primär um Betreuung.
News4teachers: Wie erleben Sie die Stimmung in der Lehrerschaft?
Böhm: Das ist ein weites Feld: von extrem verärgert über die chaotischen Regelungen, über Ängstlichkeit, bis hin zu sehr viel Energie, sich dieser Situation zu stellen. In den letzten Tagen und Wochen ist die Verunsicherung angesichts der steigenden Inzidenzien aber sehr viel größer geworden. Viele sind sich der hohen Infektionsgefahr bewusst geworden, in der sie arbeiten müssen.
News4teachers: Werden Lehrer nicht ausreichend geschützt?
Böhm: Nein. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Sicherheitsmaßnahmen in der Schule optimieren müssen. Wir brauchen FFP2 Masken, wir benötigen mobile Luftfilter. Die vielerorts maroden Gebäude sind nach wie vor ein riesiges Problem, das uns jetzt auf die Füße fällt. In vielen Klassenräumen lassen sich Fenster nicht öffnen und Lufreinigungsgeräte sind nicht vorhanden.
“Wir müssen die Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte und deren Familien schützen”
News4teachers: Die KMK hatte zum kalendarischen Herbstanfang eine Expertenanhörung zum Thema Lüften angesetzt – die kalte Jahreszeit scheint in diesem Jahr überraschend schnell gekommen zu sein. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Kultusminister den Sommer ungenutzt verstreichen ließen?
Böhm: Ich glaube, dass der Wunsch Vater des Gedankens war. Man hat offenbar gedacht, die zweite Welle kommt nicht, und wenn sie doch kommt, wird’s schon nicht so schlimm. Die Kultusminister haben die Situation nicht ernst genug genommen. Ja, man hätte bauliche Vorkehrungen im Sommer angehen können.
News4teachers: Was halten Sie von der Informationspolitik der Kultusminister?
Böhm: Das Vertrauen ist gestört. Wir haben ja unter unseren Kolleginnen und Kollegen auch Biologie-Lehrkräfte, die genau wissen, wie Viren wirken und sich verteilen. Lehrkräfte sind nicht ahnungslos. Ganz schlecht war, dass die Kultusminister lange ignoriert haben, dass auch Kinder, die nicht erkranken, durchaus Träger des Corona-Virus sein können. Erst in den letzten Tagen hat sich diese Erkenntnis wohl durchgesetzt. Leugnen lässt sie sich jedenfalls nicht mehr.
Was mich besonders ärgert an der ganzen Strategie, das ist, dass man gesamtgesellschaftlich diesen Lockdown light durchsetzt – mit harten Regeln – und gleichzeitig so tut, als ob die Schule von der Pandemie nicht berührt wäre. Das kann nicht sein. Schule ist ein Teil des gesellschaftlichen Lebens, und die Regeln, die außerhalb der Klassenräume gelten, können sich nicht innerhalb der Klassenräume folgenlos auflösen. Wir müssen die Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte und deren Familien schützen. Der Schulbetrieb wirkt immer auch in das gesellschaftliche Leben zurück, leider auch in der Pandemie. Es ist teilweise nicht nachvollziehbar, dass man das einfach ignoriert.
News4teachers: Wie glaubwürdig ist es für Sie, wenn die Kultusminister jetzt den Präsenzunterricht als einzige Möglichkeit für Chancengerechtigkeit beschwören – sich aber jahrzehntelang nicht um förderbedürftige Schüler gekümmert haben. Immerhin wissen wir seit der ersten PISA-Studie vor 20 Jahren, dass wir Schüler haben, die besondere Unterstützung nötig hätten. Passiert ist aber nicht viel.
Böhm: Differenzierte Förderung ist ein Riesenanliegen der Lehrkräfte. Es ist unsere Hauptintention, Bildung zu leisten. Der Bildungsauftrag, den wir haben, muss differenziert umgesetzt werden, um jedem Kind und jedem Jugendlichen gerecht werden zu können. Was wir gerade erleben: ein Präsenzunterricht mit der Brechstange – es muss weitergehen, egal wie. Und Sie haben recht: Für eine echte differenzierte Förderung hätte in den guten Zeiten mehr Lehrpersonal eingestellt werden müssen. Stattdessen räsoniert man heute darüber, dass Lehrkräfte fehlen. Wir haben in Deutschland über Jahre hinweg Lehrerarbeitslosigkeit gehabt. Damals hätte man einen Einstellungskorridor schaffen müssen. Das, was wir jetzt erleben, ist an einigen Stellen populistisch.
“Es war für mich wirklich ein Schock, dass man die RKI-Empfehlungen verworfen hat”
News4teachers: Es gab frühzeitig Warnungen von Virologen wie dem Charité-Institutsleiter Prof. Drosten vor einem Regelbetrieb in den Schulen. Wie erklären Sie sich, dass die Kultusminister die Fachwissenschaften ignoriert haben?
Böhm: Das ist eine gute Frage. Ich habe immer darauf gehofft, dass Stufenpläne in Kraft gesetzt werden, die – je nach Infektionsgeschehen – einen geregelten Ablauf erlauben. Aber man hat sich ja völlig von Inzidenzwerten entfernt, die irgendetwas nach sich ziehen. Es war für mich wirklich ein Schock, dass man die RKI-Empfehlungen verworfen hat. Das ist für mich kaum nachvollziehbar. Ich kann es mir nur so erklären, dass das Infektionsgeschehen, dass sich das Coronavirus so schnell ausbreitet, alle Kultusminister überrascht hat. Der Schuss geht nach hinten los, wenn man jetzt in hoch infektionsbelasteten Gebieten die Schulen weiterhin offenhält. Man reagiert ja nur punktuell. Ich wünsche mir hier eine klare Linie, mit klaren Vorgaben. Wir haben die Instrumente, die heißen: Maskenpflicht, Abstandsregel – Hybridunterricht. Man muss sie aber zum Einsatz bringen.
Wenn sich keiner mehr an Vorgaben hält, geraten wir in eine sehr schwierige Situation. Es muss etwas passieren. Die Gesundheitsämter vor Ort sind überlastet, und der Schulleiter vor Ort ist kein Infektiologe – der braucht klare Werte, nach denen er sich richten kann. Wir brauchen klare Regeln, und zwar nicht nur außerhalb der Schule. Alle Fitnessstudios mussten schließen – und in der Schule machen wir Sportunterricht mit 30, 40 Schülern. Das ist nicht vermittelbar. News4teachers
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