KIEL. Nach dem Wirbel über eine Äußerung auf Twitter hat die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, ihren Account in dem Dienst vorläufig deaktiviert. „Ich nehme mir einige Wochen Zeit, um darüber nachzudenken, ob und wie ich Twitter als Medium weiter zur Kommunikation nutze“, begründete die CDU-Politikerin am Montag diesen Schritt. Selbstkritik kommt bei ihr nicht auf. Dabei hatte Prien mit ihrem Post über die in der Pandemie verstorbenen Kinder ein Tabu gebrochen – und eine Grundsatzdiskussion ausgelöst, die auch den Ethikrat beschäftigt.
Auf Twitter sorgt eine Äußerung der KMK-Präsidentin im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nach wie vor für Wirbel. Worum geht es? Eine Nutzerin hatte geschrieben: „Wir haben in den letzten 4 Wochen 17 tote Kinder gehabt. 17 – in VIER Wochen. Und es geht immer schneller. Bis Oktober 21 hatten wir 27 tote Kinder, seit Oktober 38. Also in 4,5 Monaten mehr als in 18 Monaten. Insgesamt sind 65 Kinder verstorben. FÜNFUNDSECHZIG.“ Prien antwortete am Freitagabend: „Bitte differenzieren: Kinder sterben. Das ist extrem tragisch. Aber sie sterben mit COVID_19 und nur extrem selten wegen COVID_19.“ Diese Antwort zog zahlreiche – teils auch beleidigende – Reaktionen nach sich. Viele werfen der Politikerin nun Empathielosigkeit vor und verlangen eine Entschuldigung.
„Man darf Dissens haben, aber man darf nicht als Kultusministerin tote Kinder verhöhnen. Frau Prien, treten Sie zurück!“
So schreibt der Arzt Dr. med. Marc Hahnefeld: „Puh Frau Prien. Echt Hardcore. Dass Sie ideologisch verblendet sind, war klar. Dass Sie hier tote Kinder verhöhnen, das ist eine neue Qualität.“ Der Familienanwalt Thorsten Frühmark postet: „Ein Schlag in das Gesicht von Eltern mit vorerkrankten Kindern, darauf hinzuweisen, dass Kinder nicht an, sondern mit Covid-19 sterben.“ Der Mediziner Dr. med. Christian Kröner meint: „Man darf Dissens haben, aber man darf nicht als Kultusministerin tote Kinder verhöhnen. Frau Prien, treten Sie zurück!“ Der Hashtag #Prienruecktritt trendete.
Politisch ein cleverer Schachzug. Deaktiviere dein Konto, stilisiere dich als Opfer, lass das deine Supporter moralisieren und den Rest erledigen die Medien.
— Flori Kohl |BY (@FloriKohl) February 14, 2022
Bislang tut er das – und scheint dabei, so jedenfalls legt es Priens Tweet nahe, sich kaum um die berechtigten Sorgen der Betroffenen zu scheren. So wenige sind das nicht: Zwischen 3,2 und 3,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland weisen nach einer AOK-Erhebung Vorerkrankungen auf, die ein erhöhtes Risiko für schwere Covid-19-Verläufe mit sich bringen – das wären rund 400.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland. Wie viele Kinder mit vorerkrankten Vätern, Müttern oder Geschwistern zusammenleben, wird nirgends erfasst. Die Zahl der betroffenen Schülerinnen und Schüler dürfte aber insgesamt siebenstellig sein. Die Familien nennen sich selbst „Schattenfamilien“ – weil sich für ihre Sicherheitsbedürfnisse kaum jemand in der Krise interessiert.
„Wir haben Angst: Angst um die Gesundheit und das Leben unserer Kinder, von denen viele lebenszeitverkürzend erkrankt sind und eines besonderen Schutzes bedürfen. Angst um unsere Gesundheit und unser Leben, ständige Sorge zu erkranken und für unsere Kinder nicht da sein zu können“, so erklären Eltern.
Grundsätzlich gilt zwar, dass Kinder mit Vorerkrankungen vom Präsenz-Unterricht befreit werden können; eine ärztliche Empfehlung genügt meist. Einen Anspruch auf Distanzunterricht haben sie allerdings nicht, sodass den Familien faktisch nur die Wahl zwischen Gesundheitsschutz und Bildung bleibt. Noch schlechter sieht es für Schüler aus, deren Angehörige an einer Vorerkrankung leiden, die das Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf erhöht. Sie sind nicht automatisch vom Präsenzunterricht befreit. Anträge werden nur im Ausnahmefall und befristet genehmigt.
Petra Bahr, evangelisch-lutherische Bischöfin von Hannover und Mitglied des Deutschen Ethikrates, zeigt trotzdem Verständnis für Prien. „Die Pandemie erinnert daran, dass das Leben fragil ist. Vielleicht ist das die eigentliche Kränkung: es gibt keine Sicherheit. Das Virus ist aber nicht das einzige Lebensrisiko. Ich wünsche mir einen klügeren Umgang mit Ungewissheit als den der wechselseitige Diffamierung“, so schreibt sie auf Twitter. Ein User antwortet: „Ich glaube nicht, dass es darum geht. Natürlich gibt es verschiedene Lebensgefahren, auch andere gefährliche Viren, aber kein anderes Virus mit einer so hohen und ja auch politisch geduldeten Inzidenz. ‚Wir kriegen es ja jetzt eh alle‘ ist für manche sehr bedrohlich.“
Bahr daraufhin: „Es geht um einen fairen Umgang mit unterschiedlichen Risikoeinschätzungen und – auch wissenschaftlichen – Bewertungen wegen der multiplen Folgen des jeweiligen Handelns. So oder so. Die Unterstellung, irgendwer wolle den Tod von Kindern, finde ich infam.“ Der Nutzer antwortet: „Aber was hier sichtbar wird, ist ja pure Verzweiflung angesichts politisch geduldeter Zustände, für die Zuständige in Verantwortung genommen werden. Das verstehe ich auch.“ Bahr fragt zurück: „Was würdest Du tun? Schattenfamilien brauchen deutlich mehr Unterstützung. Arme Kinder aber auch! Ich starre morgens vor der Schule auf die Tests. Sehe nur, dass mein Kind die Peer genau so braucht wie meine Umarmung.“
Eine betroffene Mutter mischt sich in den Dialog ein – und zählt auf, was politisch zu tun wäre: „Langfristig Online-Schule durch die Schule für Kranke, v.a. in Zeiten sehr hoher Infektionsgefahr. Recht auf Hybridunterricht. Kurzfristig #PraesenzpflichtAussetzen auch für Geschwisterkinder. Stattdessen werden Atteste in Frage gestellt, Zwangsgelder erhoben, Sorgen negiert. Wenn offiziell vom Jugendamt vorgeschlagen wird, die Risikoperson solle sich im Haushalt isolieren, damit der Rest in Präsenz soziale Kontakte haben kann, dann ist das zynisch. Zugang zu PCR-Tests hat man als Kontaktperson nicht mehr. Bis der Schnelltests anschlägt, ist es zu spät.“
Bahr antwortet daraufhin: „Hier ist das genau so möglich. Ich begleite Schattenfamilien und es gibt individuell zugeschnittene Lösungen.“ Woraufhin eine Mutter schreibt: „Überrascht es irgendjemanden, dass es für Familien, die von der Frau Bischöfin begleitet werden, individuelle Lösungen gibt? Wäre vielleicht schön, wenn man dafür keine Bischöfin bräuchte, sondern die Politik einfach ihre Arbeit machen würde.“
Das passiert aber nicht – im Gegenteil: Prien hat am Wochenende erklärt, „wir müssen raus aus einer Kultur der Angst an den Schulen.“ Wenn ab Mitte Februar, Anfang März geöffnet werde, müsse auch an Schulen gelockert werden. Konkret stellte sie ein Ende der Maskenpflicht im Unterricht sowie der Corona-Tests an Schülern in Aussicht. Von Schutz für „Schattenfamilien“, in deren Ohren das Gerede von einer „Kultur der Angst“ zynisch klingen muss, war dabei keine Rede.
Dafür räsoniert die Politikerin über ihre eigene Befindlichkeit. „Ich nehme mir einige Wochen Zeit, um darüber nachzudenken, ob und wie ich Twitter als Medium weiter zur Kommunikation nutze“, so begründet die CDU-Politikerin, dass sie sich zunächst von Twitter zurückzieht. Bei ihren Terminen im Land, in den Schulen, mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedenster Interessen erlebe sie eine andere Kultur als im Netz. „Auch kritisch und mit anderen Vorstellungen von den richtigen Lösungen, aber zivilisiert und mit Respekt im Umgang und an guten Lösungen interessiert.“ Wer sie erreichen wolle, dem stehe sie weiter über viele Wege zur Verfügung.
Erfolg durch Bildung: Nachdem die bislang eher tatenlos unbekannte, vor sich hinschwurbelnde KMK Präsidentin Prien den Kurs „Social Media erfolgreich nutzen“ absolvierte stieg ihr Bekanntheitsgrad rasant und sie wurde sogar das neue Gesicht des beliebten Feingebäcks“Opferrolle“ pic.twitter.com/If3Asus2W4
— Guido Kühn (@ProfGuidoKuehn) February 14, 2022
„Übergewichtige und Menschen mit Vorerkrankungen haben genauso ein Recht auf Gesundheitsschutz wie Gesunde“
Die Virologin Prof. Isabella Eckerle, Leiterin des Zentrums für Neuartige Viruserkrankungen an den Universitätskliniken in Genf (wo sie die Rolle der Kinder bei der Übertragung von Corona erforscht), schrieb hingegen schon vor Monaten auf Twitter: „Die Diskussion um schwere SarsCoV2-Infektionen & Todesfälle unter dem Vorzeichen ‚aber die waren ja vorerkrankt‘ finde ich höchst verstörend. Ganz besonders, wenn man über Kinder spricht. Ich kann dazu nur sagen, dass die kurze Zeit, in der ich selbst als klinisch tätige Ärztin gearbeitet habe, mich dankbar und demütig zugleich gemacht in Bezug auf die eigene Gesundheit. Nur ein paar Wochen Hospitation in einer Klinik würde vielen hier gut tun.“ Zudem betont sie: „Übergewichtige und Menschen mit Vorerkrankungen haben genauso ein Recht auf Gesundheitsschutz wie Gesunde.“ News4teachers
Familien mit vorerkrankten Angehörigen: Wenn die Schulpflicht lebensgefährlich wird
