Dritter Bildungsweg: Bis zu 80 Prozent der Bevölkerung sind (eigentlich) studienberechtigt

3

GÜTERSLOH. Knapp die Hälfe der Deutschen verfügt nach offizieller Statistik über eine Hochschul- oder Fachhochschulzugangsberechtigung. Tatsächlich liegen die Zahlen aber wohl noch deutlich höher. Durch die Nicht-Berücksichtigung des dritten Bildungsweges gebe es einen blinden Fleck, bemängeln Expertinnen des CHE Centrums für Hochschulentwicklung.

Der Präsenzbetrieb fährt in den Hochschulen wieder hoch. Foto: Shutterstock

Das Studium an einer deutschen Hochschule steht deutlich mehr Menschen offen, als die offiziellen Statistiken bisher nahelegen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Publikation der Bertelsmann Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz nahestehenden CHE Centrum für Hochschulentwicklung. Seit über einem Jahrzehnt sind in Deutschland nicht nur Personen mit schulischer Hochschul- und Fachhochschulreife studienberechtigt, auch Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung plus Berufserfahrung steht dieser Weg unter bestimmten Bedingungen offen. Deshalb müsste die offizielle Quote der Studienberechtigten deutlich nach oben korrigiert werden.

Der Anteil der Studienberechtigten in Deutschland lag nach amtlichen Angaben im Jahr 2020 bei rund 47 Prozent. Etwa jede zweite Person zwischen 18 und 21 Jahren hat mithin durch ihren Abschluss an einer allgemeinbildenden oder beruflichen Schule die Berechtigung erworben, sich an einer Hochschule einzuschreiben.

Eine realistische Quote müsse allerdings deutlich höher liegen, schreibt das CHE in einer neuen Publikation. Die Autorinnen Sigrun Nickel und Anna-Lena Thiele gehen davon aus, dass in Deutschland aktuell bis zu 80 Prozent der Bevölkerung studienberechtigt sein könnten. Die bisherige Art der Berechnung bilde die Situation nicht mehr ausreichend ab.

Uni in Deutschland: Ein Professor kommt im Schnitt auf 65 Studierende

Dies liege am sogenannten „dritten Bildungsweg“, der in der offiziellen Quote der Studienberechtigten nicht berücksichtigt wird. Seit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz im Jahr 2009 ist es überall in Deutschland möglich, auch über den beruflichen Weg an die Hochschule zu gelangen. So können Inhaberinnen und Inhaber von beruflichen Fortbildungsabschlüssen wie beispielsweise Meister oder Fachwirt unter bestimmten Voraussetzungen direkt in ein Studium einsteigen. Auch Personen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung und mehrjähriger Berufserfahrung können nach einem erfolgreichen Aufnahmeverfahren ein Studium aufnehmen. Betrachtet man eine Altersspanne zwischen 18 und 55 Jahren trifft Letzteres auf 41 Prozent der Bevölkerung in Deutschland zu. Da sich etwa in der Gruppe der Auszubildenden aber auch beispielsweise jeweils ein Anteil von Abiturientinnen und Abiturienten befindet, gebe es eine Schnittmenge der Bildungswege. Deshalb könne der Wert nicht einfach zu den offiziellen Studienberechtigten addiert werden.

„Durch die Nicht-Berücksichtigung des dritten Bildungsweges gibt es einen blinden Fleck in der offiziellen Statistik. Die Zahl der Studienberechtigten in Deutschland wird systematisch unterschätzt. Theoretisch haben deutlich breitere Teile der Bevölkerung das Potenzial und die Möglichkeit sich akademisch weiterzubilden“, konstatiert Sigrun Nickel.

Beim Begriff der „Studienberechtigung“ sieht Nickel vor diesem Hintergrund Reformbedarf. Die Berechnung der offiziellen Studienberechtigtenquoten, welche nur Personen mit schulischer Hochschul- und Fachhochschulreife berücksichtige, sei nicht mehr zeitgemäß. Der erhöhten Durchlässigkeit der Bildungswege sollte durch eine Einbeziehung von beruflich Qualifizierten Rechnung getragen werden. Hierzu werden geeignete Berechnungsverfahren benötigt, die noch entwickelt werden müssten. Bislang können hier nur Schätzungen vorgenommen werden.

Weitere Daten zeigten, laut Nickel und Thiele wie eng verknüpft die Hochschulwelt mit der Berufswelt bereits ist. So hatte etwa mehr als ein Fünftel der Studierenden bereits eine Berufsausbildung vor dem Studium abgeschlossen. Mehr als zwei Drittel der Studierenden seien neben dem Studium erwerbstätig, zwei Prozent studierten berufsbegleitend.

Die Expertinnnen plädieren deshalb für ein gemeinsames System nachschulischer Bildung. „Eine ehrliche Studienberechtigtenquote, welche die Zugangswege über den Beruf nicht ausklammert, wäre ein erster Schritt, das Lagerdenken zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu überwinden. Die Realität der nachschulischen Bildung, bei der Bildungsinteressierte allen Alters bereits das Beste aus beiden Welten mitnehmen, ist da deutlich weiter, als es die Strukturen und Diskussionen vermuten lassen“, so CHE Geschäftsführer Frank Ziegele. Die realistische Erfassung der Studienberechtigten würde eine gute Informationsgrundlage zur Gestaltung eines flexiblen, verzahnten Angebots aus beruflicher und akademischer Bildung durch Bildungsträger und Politik bieten. (zab, pm)

Studie: Chancengerechtigkeit in der Bildung hat sich verbessert – aber: „Deutschland verschenkt immer noch zu viel Potenzial“

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

3 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Georg
2 Jahre zuvor

Seltsames Forschungsgebiet. Sollen jetzt etwa 80% studieren gehen? Ich kann andere Themen aufzählen, in denen eine ehrliche Berechnung viel sinnvoller wäre, die Arbeitslosenquote zum Beispiel. Bestenfalls könnte man fordern, die schulische Hochschulzugangsberechtigung wieder zu einer Hochschulzugangsbefähigung zurückzubauen. Wer das nicht schafft, kann das Studium nach der Ausbildung beginnen.

Abgesehen davon hat Kellnern zur Studiumsfinanzierung entgegen der Aussagen der beiden Damen rein garnichts mit „neben dem Studium erwerbstätig“ sein zu tun in dem von den Damen gemeinten Sinne zu tun.

Lakon
2 Jahre zuvor

Studienberechtigt? ’s wär besser, wenn die „Expertinnnen“ untersuchten, wie viele Menschen studiergeeignet sind.

KARIN
2 Jahre zuvor

Genau,
es gibt so viele total überforderte Student *innen, welche auch mehrfach noch die Fächer wechseln und dann frustriert komplett abbrechen!
Diese finden sich dann mit Mitte/ Ende 20 im 1. Ausbildungsjahr eines Berufes wieder!
Manchmal mit größten Problemen überhaupt, in diesem Alter , einen Ausbildungsplatz zu bekommen, da das relativ hohe Alter oft ein “ Geschmäckle“ hat!
Alles Folgen des in allen Schularten, schon über viele Jahre zu sehende, immer niedriger werdende Bildungsniveaus. Wird zwar immer bestritten aber alte Hasen/ Häsinnen im Schuldienst, wissen genau was ich meine!