„Ich lebe, wenn ich spiele“: Ukrainische Schüler lernen an deutschen Musikgymnasien

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BERLIN. Am Berliner Musikgymnasium Carl Philipp Emanuel Bach gehen elf musikalisch besonders begabte Kinder aus der Ukraine zur Schule. Dort können sie ihre Ausbildung fortsetzen. Auch andere Spezialschulen haben junge Flüchtlinge aufgenommen. Musik hilft, den Krieg für einen Moment zu vergessen.

An Musikgymnasien werden besondere Talente gefördert. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Jaroslawa zückt ihre Violine und übt schon einmal das Stück «Scherzo-Tarantelle» des polnischen Komponisten Henryk Wieniawski. Ein schnelles und schwieriges Stück. Ihre Haare hat die Zwölfjährige zum Zopf gebunden. Sie spielt Anfang April am Musikgymnasium Carl Philipp Emanuel Bach in Berlin-Mitte bei einem Benefizkonzert für ukrainische Kinder. An der Schule hat Jaroslawa vor mehr als einem Monat ein neues Leben begonnen.

Die Fünftklässlerin kommt aus der ostukrainischen Stadt Charkiw, die seit Wochen von russischen Truppen belagert wird. Jaroslawa ist musikalisch besonders begabt. Anfang März ist die Geigenschülerin geflüchtet und besucht nun mit zehn anderen Kindern aus der Ukraine das kleine Berliner Musikgymnasium. 145 Kinder gehen dort zur Schule.

Das Abitur wird  nach 13 Schuljahren abgelegt, um genug Freiraum für die musikalische Ausbildung zu ermöglichen

Das Berliner Musikgymnasium ist eine „Schule besonderer pädagogischer Prägung“. Der Status sichert ihr Privilegien zu, darunter ausreichende Lehrerstunden für kleine Klassen, die Möglichkeit der Einbringung von Leistungen aus „Jugend musiziert“ in die 5. Prüfungskomponente im Abitur sowie eine sechssemestrige gymnasiale Oberstufe mit zeitlich gestaffelten Abiturprüfungen. Das Abitur wird nach wie vor nach 13 Schuljahren abgelegt, um genug Freiraum für die musikalische Ausbildung und die nötigen Übezeiten zu ermöglichen. Dozenten und Professoren der beiden Berliner Musikhochschulen überrichten Schülerinnen und Schüler der Schule; die musikalische Ausbildung ist in den gymnasialen Bildungsgang integriert.

«Wir haben das Gefühl, das können wir noch stemmen», sagt Schulleiterin Ina Timreck. Die Schüler seien aus den Städten Lwiw, Odessa, Kiew und Charkiw gekommen, dort gebe es Spezialschulen für musikalisch besonders begabte Kinder. Viele haben ihre Instrumente mitgenommen.

«Musik bedeutet für mich sehr viel, und ich liebe sie sehr», sagt Jaroslawa, die Deutsch schon in der Ukraine gelernt hat und seit sechs Jahren Geige spielt. Ihr Traum sei es, später einmal Musik in Deutschland zu studieren. Ihre Geige habe sie daher zuerst gegriffen, als sie Charkiw wegen des Kriegs verlassen musste – «und dann noch mein Frettchen». Mit ihrer Mutter und Großmutter sei die junge Musikerin nach Berlin gekommen.

Einige ihrer Mitschüler seien ebenfalls nach Deutschland geflüchtet, ein anderes Mädchen lebe jetzt in Frankreich. Jaroslawa vermisse sie, untereinander stünden sie aber im Kontakt. «Ein Mädchen ist in der Ukraine und sie sagt jedes Mal: Es gibt viele laute Bomben, die landen dort. Das ist alles schrecklich», erzählt sie.

Eine ganz andere Welt in Berlin. Bei Geigenlehrerin Zoya Nevgodovska steht ein 90-minütiger Violin-Unterricht pro Woche auf dem Plan – und natürlich reguläre Schulfächer. Dazu üben die Kinder regelmäßig auf ihren Instrumenten. Neben den Musikstunden bekommen die Neuankömmlinge Deutschunterricht.

„Musik ist wie so ein Häuschen einer Schnecke, das man überall mitnehmen kann“

Mit vielen ukrainischen Schülern hatte Nevgodovska schon während der Flucht schriftlich per Handy Kontakt. Die Spezialschulen in der Ukraine und in Deutschland seien gut vernetzt. «Für die Eltern ist das wie eine Hoffnung, dass die Kinder hier auf die Schule gehen können», erzählt die gebürtige Ukrainerin. Musik sei für die Schüler auch ein Weg, den Alltag und den Schrecken der Flucht zu verarbeiten: «Wie so ein Häuschen einer Schnecke, das man überall mitnehmen kann. Das ist so eine Welt, in die man sich immer zurückziehen kann, wo man auch meditiert».

Die Schule in Berlin ist nicht die einzige, die musikalisch besonders begabte Kinder aus der Ukraine bei sich aufgenommen hat. Am Musikgymnasium Schloss Belvedere in Weimar gehen fünf junge Flüchtlinge nun zur Schule. Nach einer Eignungsprüfung – Zeugniskopien, Bewerbungsbogen, Vorspiel auf dem Instrument und einem Gespräch – besuchen sie nun laut der Schulleitung jeweils unterschiedliche Klassen.

Am Landesgymnasium für Musik in Dresden sind zwei geflüchtete Kinder vor knapp drei Wochen in die Regelklassen aufgenommen worden. «Die beiden sprechen auch schon Deutsch und verstehen Deutsch, daher fällt es ihnen leichter», erzählt Schulleiter Joachim Rohrer.

Nach den Osterferien soll dort zudem eine Integrationsklasse starten, für die sich etwa zehn bis zwölf Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine bald in einer Eignungsprüfung vorstellen. Es spiele eine große Rolle für sie, sich mit ihren Instrumenten ausdrücken zu dürfen, sagt Rohrer: «Das gemeinsame Singen und Musizieren, das hat ja eine positive und seelische Kraft».

Auch die elfjährige Anastassija aus Charkiw sieht das so. «Musik ist für mich das Leben selbst», beschreibt die Schülerin ihre Gefühle, wenn sie auf ihrer Querflöte spielt. Genau wie Jaroslawa geht die Fünftklässlerin nun am Berliner Bachgymnasium zur Schule. Anastassija ist als erste bei dem Benefizkonzert an der Reihe. Ein Piano begleitet sie. «Ich lebe dabei, wenn ich spiele», sagt sie und betritt mit ihrer Flöte die Bühne. News4teachers / mit Material der dpa

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Carsten60
2 Jahre zuvor

Was natürlich nicht gesagt wird: Dieses Gymnasium ist der Inbegriff einer elitären Schule, grundständig ab Klasse 5 (bei einer im Prinzip 6-jährigen Grundschule). Die musikalischen Ansprüche sind so hoch, dass dort gewissermaßen der Philharmonikernachwuchs unter sich ist (was nicht heißt, dass alle wirklich Berufsmusiker oder gar Philharmoniker werden). Die Schüler bekommen am Instrument Einzelunterricht von Dozenten der Musikhochschule! Eine Inklusion von Unmusikalischen gibt’s natürlich nicht.
Das ist wie bei den Sport-Eliteschulen: die Verfechter der „einen Schule für alle“ sagen dazu aber nichts. Ansonsten sind in Berlin die grundständigen Gymnasien unter „bildungsbürgerlichem Segregationsverdacht“ und werden von den Regierungsparteien gar nicht gern gesehen. Beim Volke sind sie aber beliebt.

Schröder aus A.
2 Jahre zuvor
Antwortet  Carsten60

Dito.

Julia
2 Jahre zuvor
Antwortet  Carsten60

Ja und? Bei uns gibt’s auch ein Musikgymnasium.
Wer was leisten will, der soll auch das Umfeld dazu erhalten. Nicht immer nur die schwachen Schüler ziehen und mitschleppen!

Georg
2 Jahre zuvor
Antwortet  Julia

Korrekt. Nur kommen Sie damit bitte nicht bei allen Fächern außer Musik und Sport an. Kognitive Leistungsorientierung ist soziale Selektion, rassistisch, x-phob usw..

Georg
2 Jahre zuvor

Wohnort, Herkunft, Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, allgemeine Begabung der Schülerschaft im Vergleich zu gewöhnlichen Berliner Gymnasien, allen Berliner Schülern, allen Berlinern würden mich mal interessieren. Ich prognostiziere etwas in Richtung Standortfaktor -5.