Nach dem Iglu-Schock: Land will Brennpunkt-Grundschulen fördern – GEW: Kleine Brötchen

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STUTTGART. Viele Grundschülerinnen und Grundschüler können nicht richtig lesen, andere nicht rechnen. Dies hat die Iglu-Studie in dieser Woche einmal mehr bestätigt. Schwierig ist die Lage vor allem an sogenannten Brennpunkt-Schulen. In Baden-Württemberg sollen sie künftig mit einem Sozialindex identifiziert und gezielt unterstützt werden. Dafür stehen aber nur 1,1 Millionen Euro pro Jahr bereit. Das reicht hinten und vorne nicht, sagt die GEW. Sie spricht von einem «Mini-Modellversuch».

Iglu hat ergeben, dass 25 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler nicht ausreichend lesen können – mit einer Million Euro dürfte das Problem nicht aus der Welt zu schaffen sein. Foto: Shutterstock

Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) hat versprochen, sogenannte Brennpunkt-Schulen gezielt mit Personal und mehr Geld zu unterstützen. Nun ist auch klar, wie diese genau identifiziert werden sollen. Aus einer Antwort des Kultusministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion geht hervor, aus welchen Kriterien der geplante Sozialindex konkret bestehen soll. Einigen reichen die Planungen aber bei weitem nicht aus. «Bisher will die Landesregierung nur kleine Brötchen backen», kritisiert zum Beispiel die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Nach den Plänen des Landes sollen vier Indikatoren bestimmen, ob eine Schule besonders unterstützt werden muss: Demnach zählen der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, die Zahl der Bücher im Haushalt der Kinder und Jugendlichen, die durchschnittliche Kaufkraft pro Einwohner im Schulbezirk sowie der Anteil der Haushalte ohne Schulabschluss.

Zum Einsatz kommen soll der neue Index ab dem Schuljahr 2023/2024. Im Bezirk der Schulämter Biberach, Lörrach und Tübingen sollen Schulen mit besonders hohen Indexwerten in einem Modellversuch mit zusätzlichem Geld unterstützt werden. Nach Angaben des Kultusministeriums werden dafür in den nächsten zwei Jahren rund 690.000 Euro pro Jahr an die Schulen in diesen Bezirken verteilt. Sie können damit zum Beispiel weiteres Personal anstellen oder mit Lerntherapeuten kooperieren. Insgesamt stehen laut Ministerium im Haushalt 1,1 Millionen Euro pro Jahr für den Modellversuch bereit.

Darüber hinaus hat das Ministerium der Anfrage zufolge fünf weitere Städte identifiziert, in denen der Bedarf nach zusätzlicher Unterstützung besonders hoch ist: Mannheim, Pforzheim, Stuttgart, Singen und Heilbronn. Auch aus diesen Städten sollen besonders stark benachteiligte Grundschulen in den Modellversuch aufgenommen werden.

«Wir können es uns weder gesellschaftspolitisch noch volkswirtschaftlich leisten, all die Potenziale von Kindern und Jugendlichen ungenutzt zu lassen»

Hintergrund sind mehrere Bildungsstudien, bei denen Schülerinnen und Schüler im Land schlecht abgeschnitten hatten. So wurde im Herbst bekannt, dass immer mehr Grundschüler die Regelstandards beim Lesen, Schreiben, Rechnen und Zuhören nicht mehr erreichen. Erst am Dienstag ergab die internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu), dass jeder vierte Viertklässler in Deutschland beim Lesen nicht das Mindestniveau erreicht.

Laut Ministerium sollen auch weitere Maßnahmen mithilfe des Sozialindex gezielt im Land verteilt werden. «Der vorläufige Sozialindex dient als Grundlage für die Auswahl der Schulen für den Einsatz Pädagogischer Assistentinnen und Assistenten, der Erprobung multiprofessioneller Teams an Grundschulen sowie der Auswahl der für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im pädagogischen Bereich der Schulen in Frage kommenden Einsatzstellen», schreibt das Ministerium.

Aus Sicht der Grünen-Fraktion ist diese Form der Zuweisung ein guter Anfang, es brauche aber weitere Maßnahmen, darunter eine flächendeckende Einführung multiprofessioneller Teams und verpflichtende Sprachtests für Vierjährige. Zustimmung auch aus der Wirtschaft: Für den Hauptgeschäftsführer des Dachverbands Unternehmer Baden-Württemberg (UBW), Oliver Barta, ist die Zuweisung ein längst überfälliger Schritt. «Wir können es uns weder gesellschaftspolitisch noch volkswirtschaftlich leisten, all die Potenziale von Kindern und Jugendlichen ungenutzt zu lassen», sagte er.

Der GEW reicht das nicht: Statt eines ernsthaften Stufenplans präsentierte die Regierung einen «Mini-Modellversuch», um Zeit zu gewinnen bis zur nächsten Landtagswahl. «Mutige Bildungspolitik findet man derzeit nur in anderen Bundesländern», sagte die GEW-Landesvorsitzende Monika Stein in Freiburg. Um Ressourcen sozialindexbasiert verteilen zu können, müssten die entsprechenden Ressourcen erst einmal vorhanden sein, kritisierte sie weiter. «Derzeit gibt es an den Grundschulen nicht einmal genug Lehrkräfte für den Pflichtbereich.» Zwar seien multiprofessionelle Teams und der Sozialindex die richtigen zentralen Vorhaben. Für beides seien aber bisher nur völlig unzureichende Ansätze erkennbar.

Wenig überzeugt ist auch die SPD. Die Oppositionsfraktion wirft der Regierung eine «Umsetzung im Schneckentempo» vor, die daran zweifeln lasse, dass sie den Ernst der Lage wirklich erkannt habe. «Mini-Modellversuche, von denen auf Jahre gesehen nur ein Bruchteil der Schülerinnen und Schüler profitieren, sind schlicht und ergreifend zu wenig», sagte die schulpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Katrin Steinhülb-Joos. News4teachers / mit Material der dpa

„Auch künftig passgenau“: Wie sich die Bildungspolitik mit Iglu lächerlich macht

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9 Kommentare
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Dil Uhlenspiegel
11 Monate zuvor

An die Experten: Gibt’s noch Schulen, wo’s nicht brennt?
(Bin Lehrkraft und frage somit als Unwissender.)

dickebank
11 Monate zuvor
Antwortet  Dil Uhlenspiegel

Selbstredend – der natürliche Feind der brennenden Schule ist der Burn-out bei allen an Schule beteiligten.

Dil Uhlenspiegel
11 Monate zuvor
Antwortet  dickebank

Die Strategie des Gegenfeuers … kenne ich von „Grisu, der kleine Drache“.

Lehrer_sachsen
11 Monate zuvor
Antwortet  Dil Uhlenspiegel

Elite – Gymnasien? Werden auch gerne von der Presse besucht oder für irgendeine Reportage in Szene gesetzt. Erinnere mich noch immer herzhaft schmunzelnd an einen Bericht im MDR 2020 über den komplett und problemlos laufenden Online – Unterricht.

Hilli
11 Monate zuvor

Wenn Katrin Steinhülb-Joos feststellt, dass Mini-Modellversuche, von denen auf Jahre gesehen nur ein Bruchteil der Schülerinnen und Schüler profitieren, schlicht und ergreifend zu wenig sind, hat sie sicher recht. Die Grundschulen müssen sich wieder auf die Kernkompetenzen, also auf Lesen, Schreiben und Rechnen konzentrieren. Unnötiger Ballast muss weg. Das gilt sicher für Englisch, Informatik oder auch Religion.

Palim
11 Monate zuvor
Antwortet  Hilli

Kernkompetenzen, dazu gehörte schon immer Religion,
der heutige Religionsunterricht ist jedoch mit damaligem Lesenlernen aus Bibeltexten und Singen aus dem Gesangbuch nicht gleichzusetzen.
Englisch und Medienbildung gehören heute dazu, weil sie zum Leben gehören und dazu eine Grundbildung wichtig ist, um Teilhabe zu gewähren.

Richtig ist aber, dass das, was vorgeschlagen wird, von den Grundschulen allein bewältigt werden soll: einmal mehr kostenlose Mehrarbeit auf dem Rücken der Grundschullehrkräfte, denen wir weiterhin A13 verwehren.

Last edited 11 Monate zuvor by Palim
Kerstin Galinski
11 Monate zuvor

Die SPD und CDU sollen mal gaaanz leise sein. Sie hatten das Ministerium vor den Grünen inne…da wurde auch nur geredet und nix getan…
Einfache Lösungen gibt es nicht!
Alle Schularten sollten sich wieder mehr auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren, mit Freude Lernen vermitteln, Sozialkompetenz, Impulskontrolle…ausreichende Krippen-Kitaplätze… und, es geht nur gemeinsam mit den Eltern…wer hat welche Verantwortung, verbindliche Vereinbarungen, Erziehungspartnerschaften…

Konfutse
11 Monate zuvor
Antwortet  Kerstin Galinski

Das, was Sie da aufzählen, ist leider zu teuer! Das ganze Geld muss erst in Prestigeobjekte oder in neu eingerichtete Ministerien investiert werden. Da braucht man dann immerhin wichtigeres Personal sls Erzieher oder Lehrer.
Haben Sie bitte Verständnis dafür und fordern Sie bitte nicht utopische Konstrukte!

Georg
11 Monate zuvor
Antwortet  Kerstin Galinski

Das „nur gemeinsam mit den Eltern“ ist das Problem. Das außerschulische lernen, vorlesen, selber laut lesen, Hausaufgaben machen usw. liegt außerhalb der Kontrolle und Verantwortung der Lehrer.

Leider ist die Politik als Geldgeber für eine wirklich Ergebnis offene Forschung nicht bereit. Bildungsferne, Migrationshintergrund (welcher?), Kultur, sozialer Brennpunkt usw. sind ja keine Ursachen, eher Korrelationen oder (da besonders beliebt bei den Politikern) Ausreden. Zuhause lernen an sich und im Unterricht aufpassen kostet kein Geld und funktioniert auch in jeder Sozialisation. Es braucht nur Eltern, die die Notwendigkeit davon einsehen und ggf. durchsetzen – daran scheitert es leider.