War früher alles besser? Nostalgie ist verbreitet – aber bildungspolitisch heikel

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BERLIN. «Früher war mehr Lametta!», erinnert sich der Opa in Loriots «Weihnachten bei Hoppenstedts». Doch stimmt das wirklich? Nostalgie ist ein verbreitetes Lebensgefühl. Heikel wird es, wenn eine subjektiv verzerrte Wahrnehmung der Vergangenheit zum Faktor in der Politik wird. Vor allem die Bildungsdebatte ist davon geprägt – womöglich schon immer.

Das Bild von der Vergangenheit ist nicht selten verzerrt. Illustration: Shutterstock

Das Jahresende ist auch die Zeit der Rückbesinnung. Man denkt zum Beispiel an die vielen schönen Erlebnisse des Jahres zurück, erinnert sich an die Weihnachtsfeste als die Großmutter noch lebte und wie aufregend Silvester als Kind war. Ein wenig wehmütig fühlt man sich dabei. Aber es ist auch ein wohliges Gefühl, in Nostalgie zu schwelgen. Früher schien vieles besser gewesen zu sein – und das Leben angesichts einer Welt in gefühltem Dauerkrisenmodus deutlich einfacher. Aber war das tatsächlich so? Und welche Gefahr birgt dieses Gefühl?

Um das zu beantworten, muss man zunächst klären, was Nostalgie eigentlich ist. «Nostalgie bedeutet, dass man sich nach etwas aus der Vergangenheit sehnt, das man vermisst», sagt der Historiker Tobias Becker von der Freien Universität in Berlin. Er beschäftigt sich schon länger mit der Geschichte der Nostalgie und hat gerade ein Buch dazu veröffentlicht. Nostalgie habe aber auch immer etwas Schmerzhaftes, sagt er. «Wir erinnern uns an etwas Schönes zurück, aber wir wissen, dass der Moment vorbei ist und wir ihn nicht wiederholen können.»

Kriege in der Ukraine und in Gaza, regelmäßig wiederkehrende Nachrichten über Naturkatastrophen, die Klimakrise – gerade in Zeiten von Umbrüchen schwelgten die Menschen in Nostalgie, sagt der Kölner Medienpsychologe Tim Wulf. Das könnten individuelle Veränderungen sein wie ein Job-Wechsel oder solche, die die gesamte Gesellschaft beträfen wie die Corona-Pandemie. «Nostalgie kann eine psychologische Ressource sein.» Wenn man zum Beispiel eine Prüfung bestehen müsse, dann könne man sich an Momente zurückerinnern, in denen man etwas Ähnliches bewältigt habe.

«Letztlich weiß man immer auch, wenn man nostalgisch ist, dass es nie so war, wie das, wonach man sich da gerade sehnt – dass das natürlich eine imaginierte Vergangenheit ist»

Objektiv betrachtet war in früheren Zeiten natürlich nicht alles besser. Da reicht schon ein Blick in die Geschichtsbücher. «Letztlich weiß man immer auch, wenn man nostalgisch ist, dass es nie so war, wie das, wonach man sich da gerade sehnt – dass das natürlich eine imaginierte Vergangenheit ist», sagt der Germanist Stephan Pabst von der Universität Halle, der in diesem Jahr eine Tagung organisiert hatte, bei der sich Forschende verschiedener Fachrichtungen kritisch mit Nostalgie auseinandergesetzt haben.

Trotzdem habe es etwas Anheimelndes und Stabiles, sich in vergangene Zeiten zurückträumen, sagt Becker. «In unserer eigenen Gegenwart wissen wir ja nie, wie es ausgeht. Wir haben immer das Gefühl, wir leben in einer Krisenzeit.» Die Vergangenheit sei dagegen abgeschlossen, der Ausgang bekannt.

Das erklärt vielleicht auch die große Beliebtheit von Serien wie «Mad Men», «Babylon Berlin» oder «Downton Abbey». Regelmäßig kommt es zu Retro-Wellen, die vergangene Jahrzehnte in Kunst, Kultur, Mode oder Design aufleben lässt. Der Nierentisch, eigentlich ein Klassiker der 1950er, hat längst wieder einen festen Platz in den Möbelhäusern. Schlaghose, bauchfrei, Plateauschuhe – was heute in Erinnerung an die 1990er Jahre wieder angesagt ist, war damals wiederum schon an die 1970er Jahre angelehnt.

Problematisch wird es allerdings, wenn mit der Sehnsucht nach der vermeintlich heilen Vergangenheit Politik gemacht wird. «Ich würde sagen, dass wir seit 20, 30 Jahren in einer Konjunktur der Nostalgie leben», sagt Pabst. Im Vergleich zu den späten 1990er und 2000er Jahren, in denen eine ästhetische Konsumartikel-Nostalgie im Vordergrund gestanden habe, sei die Nostalgie nun in die Politik gewandert. «Make America great again» – der Slogan von Donald Trumps Wahlkampf 2015/2016 wecke Assoziationen, dass irgendeine vergangene heile Welt wiedergeherstellt werde, sagt Pabst. «Etwas Vergangenes, das es nie gab und von dem niemand weiß, was das eigentlich gewesen sein soll.»

Wie die AfD Nostalgie in ihren politischen Botschaften einsetzt, hat Tim Wulf als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität zusammen mit einem Kollegen in einer Reihe von Studien untersucht. «Da konnten wir sehen, dass die populistische Kommunikation sehr viele nostalgische Elemente hat», erläutert Wulf.

In einer Studie haben die Forscher dann Befragten eine populistische Aussage einmal in Verbindung mit Nostalgie und einmal ohne vorgelegt. «Was sich gezeigt hat, ist, dass der reine Populismus ohne die Nostalgie bei den Befragten deutlich schlechter ankommt», sagt Wulf. «Die Nostalgie wirkt wie so ein kleiner Zuckerguss, der sich da drumlegt.»

«Sprachwissenschaftler stellen fest, dass Kinder heute mehr Rechtschreibfehler machen – allerdings mit einem sehr viel größeren Wortschatz»

In kaum einem anderen Politikfeld dürfte Nostalgie allerdings eine so große Rolle spielen wie in der Bildung – schon deshalb, weil die zentralen Akteure (Eltern und Lehrkräfte) die womöglich verzerrte Wahrnehmung der eigenen Schulzeit zum Maßstab nehmen, um das Lernen von heute zu beurteilen. So wird immer wieder auch in Leserbriefen auf News4teachers darüber geklagt, dass das Bildungsniveau seit Jahrzehnten sinke und das Abitur seinen Wert verloren habe. Als Beleg dafür wird die steigende Zahl von Abiturientinnen und Abiturienten und deren «Akademisierungswahn» (also ihr Streben an die Hochschulen) angeführt.

Stimmt das, war die Bildung früher durchweg besser? Ein Vater antwortet darauf: «Nein, war sie nicht – ich habe Kinder in Schule, Ausbildung und Studium und weiß, wovon ich spreche. Wenn ich mir zum Beispiel die Fremdsprachenkenntnisse heutiger Abiturientinnen und Abiturienten anschaue und die mit denen vor 30, 40 Jahren vergleiche – dazwischen liegen Welten. Meine älteren Kinder sprechen fließend Englisch und Französisch, passabel Spanisch und Niederländisch. Sie sind international ausgerichtet. Als ich mit Abitur aus der Schule kam, hatte ich Hemmungen, in London nach dem Weg zu fragen, weil der Unterricht sich weitgehend auf das Übersetzen von Shakespeare beschränkte. Das können Sie durchdeklinieren: Sprachwissenschaftler stellen fest, dass Kinder heute mehr Rechtschreibfehler machen – allerdings mit einem sehr viel größeren Wortschatz. Dazu kommt, dass heute viel mehr Kinder auch nicht-deutschsprachigen Elternhäusern kommen, was die Ausgangsbedingungen natürlich verändert».

Heißt: Auch die Rahmenbedingungen sind heute völlig andere, sodass sich schon deshalb ein Vergleich (eigentlich) verbietet.

Und was die vermeintliche Abitur-Inflation und den «Akademisierungswahn» betrifft: «Durch das Bildungssystem werden Lebenschancen verteilt – und die sind in unserer Gesellschaftsordnung materiell definiert. Solange Abitur und Hochschulstudium in aller Regel ein höheres Gehalt und ein höheres Sozialprestige garantieren als andere Bildungswege, darf sich niemand wundern, wenn alle sich um Abitur und Hochschulstudium reißen.» Und daran sei schließlich nichts Schlechtes, im Gegenteil. Wer das schrieb, das war der SPD-Politiker Peter Glotz – und zwar bereits 1976 in einem «Plädoyer gegen die Bildungsnostalgie».

Die gleiche Debatte wie heute wurde also auch schon in der vermeintlich guten alten Zeit geführt. Also vermutlich schon immer. News4teachers / mit Material der dpa

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25 Kommentare
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Bücherleser
4 Monate zuvor

Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1866) bestimmte die Weisheit des Alters als Einsicht, die alle Lebenserfahrungen zur Summe vereinigt. Im Alter verfüge man über Menschenkenntnis, Selbsterkenntnis und Lebenskenntnis. In der Betrachtung der zurückliegenden Ereignisse werden die wahren Charaktere von Personen sowie die wirklichen Ziele und Zwecke erkannt, die man im Leben verfolgt hat. Zudem gewinnt man ein Verständnis des Lebens überhaupt, vor allem der Endlichkeit und Begrenztheit des Daseins. Die von Schopenhauer beschriebenen Einsichten setzen die Fähigkeit zur Kontemplation voraus: das Anschauen, Betrachten und Nachsinnen. Genau diese Fähigkeit bestimmte der Dichter Hermann Hesse (1877-1962) als Weisheit des Alters. Wenn die Aktivität und Betriebsamkeit des beruflichen Alltags schwinden und das Leben ruhiger geworden ist, bricht die Zeit der Betrachtung an, so seine Beobachtung. Die Kontemplation bezieht sich nach Hesse zum einen auf das eigene Leben, zum anderen aber auf das Anschauen ud Betrachten von Natur und Mitmenschen.“
Dr. habil. Bettina Fröhlich in „hauptstadt magazin des dbb berlin“ Dezember 2023

Hysterican / Andre Hog
4 Monate zuvor

«Nostalgie bedeutet, dass man sich nach etwas aus der Vergangenheit sehnt, das man vermisst»

Tja…und da kommt für mich als Historiker die Frage auf, ob das, was die „Zukunft“ gebracht hat, immer für uns Menschen, menschliche Gemeinschaften, politische Systeme, das Miteinander in den Familien usw. immer so „segensreich“ gewesen ist, wie es gerne von den „voranstürmenden Erneuerern“ propagiert wird.

„Nur Neues ist gut!“

Altes gehört weggeräumt und abgeschafft…scheiße, ich werde bald sechzig!

Dil Uhlenspiegel
4 Monate zuvor

60, volle cool, aber ich verrat’s nicht weiter 😉

Müllerin
4 Monate zuvor

Der Artikel meidet jeden Kommentar zum Benehmen der SuS in der Schule. Ich rede von der Zeit nach der Prügelstrafe. Solche Massenschlägereien wie kürzlich berichtet wären undenkbar gewesen. Und arme Leute gab’s früher eher mehr als heute, ich glaube nicht, dass das ein „rein soziales “ Problem ist.

Marion, Erzieherin
4 Monate zuvor

Aber das mit dem Lametta stimmt.
In einer privat von mir initiierten Weihnachtsbaumstudie konnte ich zweifelsfrei nachweisen, daß der moderne Christbaum in den allermeisten Fällen völlig ohne Lametta auskommt, während er noch bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein,
kaum zu sehen war – also der Baum. Er wurde damals nämlich in der Regel unter ein bis zwölf Tonnen Lametta begraben.
Der Spruch „Früher war mehr Lametta“ hat also in jedem Fall seine Berechtigung.
Ich wollt’s nur mal gesagt haben.
Frohe Weihnachten an alle.

Teacher Andi
4 Monate zuvor

Lametta ist wieder „in“, schon bemerkt?

Marion, Erzieherin
4 Monate zuvor
Antwortet  Teacher Andi

Was, tatsächlich?! Da muß ich mir ja gleich ’ne Fuhre bestellen.

Teacher Andi
4 Monate zuvor

Knittert auch nicht mehr so wie früher, man kann es mehrere Jahre verwenden, ganz im Sinne der Nachhaltigkeit. Also ich schmücke meinen Baum seit 10 Jahren mit Lametta, da ich gerne Glitzer habe (war lange verpönt). Hat sicher auch mit positiven Kindheitserinnerungen zu tun. Nostalgie ist was Schönes, ich verstehe nicht, dass man an allem Ecken und Kanten finden muss. Jede Zeit hat ihre guten und schlechten Aspekte, ich möchte jedenfalls die Vergangenheit nicht missen.

Lera
4 Monate zuvor

Wer sagt, dass das Bildungssystem früher besser war, ist ein nostalgischer Populist!

Buuuh – ab in die Schamecke.

Ernsthafte Anmerkung 1:
Natürlich ist das Bild der Vergangenheit eine Konstruktion – das gilt aber auch für die Gegenwart, deren Wahrnehmung gleichfalls nicht objektiv ist.

2:
Die Schulbücher von früher lassen sich glücklicherweise nicht wegdiskutieren und die sprechen eine ganz, ganz überdeutliche Sprache in Bezug auf das Niveau – es war früher schlicht höher, was natürlich nicht ins Bild passt und daher dringend immer wieder angezweifelt, relativiert und geframed werden muss.

3.
„Ein Vater (quasi Experte) sagt…“

Also, ich bin ja ebenfalls Vater und daher Experte. Ich sage: Das Niveau ist heute in der Fläche und auf allen Ebenen (GS bis Hochschule) zum Davonlaufen und da hilft es wenig, sich mit den üblichen Taschenspielertricks aus der Affäre ziehen zu wollen (Englisch ist heute besser als in den 70ern – wow, da hat die Schule eindeutig großen Anteil dran – nicht; der Wortschatz ist ja sooo viel größer, Digga – davon merkt man zwar beim Aufsatzschreiben absolut nichts, aber Aufsätze sind ja auch total antiquiert und rundweg abzulehnen, nehme ich mal an.)

Bücherleser
4 Monate zuvor

Wenn ich an das jetzige Bildungssystem und -niveau denke (Lese- und Rechenfähigkeiten zu vieler Schüler), fällt mir folgendes Zitat ein:

  • „Nostalgie ist, die Vergangenheit so zu sehen, wie wir die Zukunft gern hätten.“ (Erhard Blanck)
Spirale
4 Monate zuvor

Ich schaue auf Berlin. Wird mir die Frage gestellt, ob das Berliner Bildungssystem früher (90er bis 00er) besser im Vergleich zu heute war, dann muss diese Frage mit ja beantwortet werden. Wer anderes behauptet lügt oder hat keine Ahnung.

Den Verfall der Schulen mache ich ansonsten an klassischen Werten wie Leistungsbereitschaft fest. Damals bedeutete Bildung noch Aufstieg, ein Versprechen, was heute nicht mehr immer eingelöst wird. Dass es deshalb eine Rückkopplung zur Leistungsbereitschaft gibt, ist für mich in meiner Welt ziemlich offensichtlich. Ob das nun andere auch so sehen, kein Plan.

Indra Rupp
4 Monate zuvor
Antwortet  Spirale

In den 90ern wurde uns auch schon gesagt, dass die Schüler früher ( 60er/70er) besser waren.

potschemutschka
4 Monate zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Damals konnten 9-Klässler immerhin noch lesen, schreiben und rechnen. Bis in die 90er hinein sogar noch fast alle meine Förderschüler (Lernen).

AvL
4 Monate zuvor
Antwortet  potschemutschka

Ihre Erfahrungen finden eine Bestätigung im
hiesigen beruflichen Umfeld unserer Logopädinnen,
die u.a. systematische Leseförderungen bei
kognitiv eingeschränkten Kindern durchführen,
wobei Silbenteppiche von diesen
Sprachförderschülern mit auditiven Wahrnehmungsstörungen
in dieser Weise wiederholt gelesen werden und schließlich,
nach zahlreichen Wiederholungen, ohne eine Anstrengung
sehr schnell Texte erlesen und deren Inhalte erfasst werden.

AvL
4 Monate zuvor
Antwortet  Indra Rupp

In den 70ern wurde uns gesagt, dass in der Zukunft alles besser wird.

Teacher Andi
4 Monate zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Eine fortschreitende Entwicklung eben. Man hätte damals schon gegensteuern müssen.

AvL
4 Monate zuvor
Antwortet  Teacher Andi

Zu welchem Zeitpunkt hätte wie gegengesteuert
werden müssen ?

Die Grundlagenforschung hat seit 1977 valide
Ergebnisse geliefert, wie das menschliche Gehirn
lernt, also etwa mit dem Langzeitspeicher
neurologisch verknüpfte Arbeitsprogramme
aufbaut und weiterentwickelt, also hochkomplexe
Arbeitsprogramme im Langzeitspeicher
automatisiert und der Langzeitspeicher in
Zusammenarbeit mit dem Kurzzeitspeicher,
zum Beispiel beim Lesen von Texten, uns deren Inhalte
erfassen lässt.
Schneider und Shiffrin konnten 1977 zeigen,
dass durch den Aufbau von Automatisierungen
Aufgaben des menschlichen Gehirn um 1000
bis 2000 % schneller ausgeführt werden können.

Eine Automatisierung wird aber nur aufgebaut,
wenn eine hohe Anzahl von Wiederholungen
ausgeführt wird und dabei auf einen Reiz
immer die gleiche zuzuordnende Antwort erfolgt.

Diese beiden Bedingungen müssen gleichzeitig erfüllt sein,
denn sonst erfolgt kein Aufbau einer Automatisierung.

Harald
4 Monate zuvor

Schlagzeile des Artikels daneben: „Schülerin sticht im Klassenraum auf Mitschülerin ein – Lehrerin geht dazwischen„Ich habe gegen Ende meiner Schullaufbahn und während des Studiums viel Zeitung gelesen und kann mich an keinen einzigen ähnlichen Vorfall erinnern. Da könnte man schon nostalgisch werden.Den größeren Wortschatz kann ich aus meinen Erfahrungen nicht bestätigen. Zudem widersprechen sich die Aussagen, dass die Kinder einerseits einen größeren Wortschatz hätten und andererseits viel mehr Kinder eine andere Sprache als Deutsch als Muttersprache hätten. Oder wurden da einfach alle Wörter aller Sprachen, die die SuS kennen, zusammen gezählt.

Lisa
4 Monate zuvor

Früher. Was war besser?
1. Die Zukunft
2. Ich war jung

Dil Uhlenspiegel
4 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

Aber es bleibt das Paradoxon: War früher die Vergangenheit auch schon besser? Und falls ja, wann war der Kipppunkt, ab dem die jüngere Vergangenheit nicht mehr besser war als die ältere Vergangenheit davor aber immer noch besser als das je aktuelle Jetzt? 🙂

Martina
4 Monate zuvor

Zitat: „Die gleiche Debatte wie heute wurde also auch schon in der vermeintlich guten alten Zeit geführt. Also vermutlich schon immer.“

Das wird zwar immer wieder gesagt, ist meiner Erinnerung nach aber weitgehend falsch. Aus meinen jungen Lehrerjahren kenne ich so exzessiv viele Überlegungen zu einer „Schule der Zukunft“ nicht. Es gab nicht so inflationär viele Schul“experten“, die alle ihre schön geschmückte neue Sau durchs Dorf trieben und sich einander Konkurrenz machten mit ihren fixen Ideen.
Man hielt lange an Bewährtem fest und warf es nicht voreilig und leichtfertig über Bord, weil man sich auf dem Bildungsmarkt einen Namen machen wollte.
Wenn Nostalgie politisch heikel sein soll, dann ist es der heutige Fortschrittsglaube mit seinem Hang zum modischen und kurzlebigen Firlefanz allemal.

AvL
4 Monate zuvor

Früher, also vor den Grundlagenforschungsergebnissen der medizinischen Psychologie des menschlichen Lernen in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, war das Wissen über das menschliche Lernen sehr viel geringer.
Das Arbeiten mit den Schülern stütze sich bis dato auf rein empirisch gewonnene Erfahrungswerte, ohne dass diese wissenschaftlich gestützt in ihrer unterschiedlichen Wirksamkeit und Effektivität bestätigt wurden.

Heute wissen wir aber, dass eben durch die wissenschaftlichen Arbeitsergebnisse der medizinischen Psychologie, wie etwa die von Rott und Zielinski 1985,
( Kurzzeitspeicher = langsamer Arbeitsspeicher im Thalamus mit 1100 ms Verarbeitungszeit mit exponentieller Zunahme der Buchstaben-Lauterfassungszeit bis über 1900 ms)/ Langzeitspeicher mit schneller Reaktionszeit mit konstant 700 ms ),
wie Lesen effektiv vermittelt werden kann,
und warum langsame Leser in den ersten beiden Schulklassen im Gegensatz zu schnellen Lesern auch in den nachfolgenden Schuljahren ihre Lesefähigkeit, ihr Sprachverständnis, ihre Spracherfassung und ihren Wortschatz nicht in der Weise weiter verbessern,
wie dies schnellen Lesern bereits in den ersten beiden Schuljahren gelang.

Und Glaser und Glaser entwickelten1989 das Modell der zwei Sprachspeicher, die unabhängig voneinander arbeiten :
Den Sprachbedeutungsspeicher, der nur für Bedeutung der Gegenstände und Inhalte erfasst, sowie den reinen Sprachspeicher, der das Lesen ohne eine Bedeutung vermittelt.

Dehaene hat schließlich, 20 Jahre nach Glaser und Glaser auf deren Arbeiten aufbauend, eine Zusammenfassung und Übersicht über die einzelnen Verarbeitungsschritte , die das Gehirn eines erfahrenen Leser durchführt, geliefert.
Dehaene kommt wie Glaser und Glaser zu dem Schluss, dass Lesen zunächst ohne Bedeutung statt findet, bis die Wörter in einer Art orthographischem Lexikon wiedergefunden werden.
Die Aussprache, die Betonung und der Sprachrhythmus von Wörtern findet zunächst ohne Bedeutung statt. Man kann schließlich als guter Leser Wörter korrekt lesen, deren Bedeutung zunächst unbekannt ist.
Mit Hilfe des Arbeitsspeicher gelingt es, den Inhalt der mit dem Langzeitspeicher erfassten Textinhalte kognitiv zu erfassen.

Menschen mit einem erworbenen Schaden im Bereich des Arbeitsspeicher, können Texte unverändert korrekt erlesen, ohne dass sie den Inhalt erfassen.

Es gilt die Ergebnisse der Grundlagenforschung der Psychologie in den Unterricht einfließen zu lassen .

AvL
4 Monate zuvor

Bezogen auf das Erlernen des automatisierten Lesen ist noch die Langzeitstudie zur Lesekompetenz von Cunningham und Stanovich von 1997 zu nennen.
Keith Stanovich ist einer der führenden Leseforscher.
Die Autoren untersuchten die Lesekompetenz im ersten Schuljahr. Ca 50 % der Schüler konnten in der 11 Klasse noch einmal nachuntersucht werden.
Die wichtigsten Ergebnisse waren, dass ein hoher Zusammenhang zwischen der Lesefähigkeit in der 1.Klasse und der Lesemenge in der 11. Klasse besteht. Kinder , die früh lesen lernen, lesen auch in der 11. klasse mehr.
Dieser Zusammenhang besteht auch unabhängig von der Intelligenz !
Je mehr Kinder lesen, desto größer sind ihr Sprachverständnis, ihr Allgemeinwissen und ihr Wortschatz.
Daraus folgt, dass unstrukturierte, durch das Kind selbst organisierte Leselernmethoden den Aufbau und das Erlernen eines automatisierten Lesen behindern, beeinträchtigen, wenn nicht sogar diesen erheblich nachhaltig schaden.

Frohe Weihnachten und in eine bessere Zukunft im Hinblick auf die Umsetzung valider wissenschaftlicher Ergebnisse im Anfangsunterricht wünscht sich der an guten Unterricht interessierte Teil der Elternschaft.

AvL
4 Monate zuvor
Antwortet  AvL

Keith Stanovich : „Ein langsamer Leseerwerb hat kognitive, verhaltensbezogene und motivierende Konsequenzen, die die Entwicklung anderer kognitiver Fähigkeiten verlangsamen und die Leistung bei vielen akademischen Aufgaben beeinträchtigen.
 
Kurz gesagt, während sich das Lesen entwickelt, beeinflussen andere damit verbundene kognitive Prozesse das Niveau der Lesefähigkeit. Auch Wissensbestände, die in wechselseitiger Beziehung zum Lesen stehen, werden an der Weiterentwicklung gehindert. Je länger diese Entwicklungssequenz andauert, desto allgemeiner werden die Defizite und dringen in immer mehr Bereiche der Kognition und des Verhaltens ein. Oder um es einfacher und trauriger auszudrücken: „Lesen beeinflusst alles, was man tut.“ [1

AvL
4 Monate zuvor
Antwortet  AvL

Keith Stanovich: Dies liegt daran, dass Kinder, die im Lesen zurückbleiben, weniger lesen würden, was die Kluft zwischen ihnen und ihren Altersgenossen vergrößert. Später, wenn die Schüler „lesen müssen, um zu lernen“ (wo sie vorher lesen gelernt haben), führt ihre Leseschwierigkeit zu Schwierigkeiten in den meisten anderen Fächern. Auf diese Weise fallen sie in der Schule immer weiter zurück und brechen die Schulabgänge weitaus häufiger ab als ihre Altersgenossen.