STUTTGART. Rückkehr zu G9, bessere Sprachförderung und eine verbindlichere Grundschulempfehlung: Wenige Tage vor Beginn der Sommerferien in Baden-Württemberg hat die grün-schwarze Landesregierung mehrere Schulreformen auf den Weg gebracht. Der Ministerrat habe das neue Schulgesetz freigegeben, teilte das Staatsministerium am Dienstag mit. Nun muss sich der Landtag mit dem Gesetzentwurf befassen. Streit gibt es vor allem um die Grundschulempfehlung – die einen bezeichnen sie als „Rückschritt“, die anderen als „Mogelpackung“.

Bereits im kommenden Schuljahr soll die Neuregelung der Grundschulempfehlung greifen. Diese soll nach dem Willen der grün-schwarzen Regierung künftig verbindlicher werden. Bislang bekommen die Schülerinnen und Schüler zwar eine Empfehlung, letztendlich entscheiden im Südwesten aber alleine die Eltern, auf welche weiterführende Schule ihr Kind gehen soll.
Auch künftig sollen Eltern ein Mitspracherecht haben, aber es soll ein Modell aus drei Komponenten geben: Lehrerempfehlung, Leistungstest und Elternwunsch. Stimmen zwei aus drei überein, soll das den Ausschlag geben. Wollen die Eltern ihr Kind dennoch aufs Gymnasium schicken, soll das Kind künftig einen weiteren Test absolvieren. Das Ergebnis dieses Potenzialtests müssen die Eltern dann akzeptieren. Verbindlich ist die Empfehlung allerdings nur für das Gymnasium.
Ziel: Zufluss zum Gymnasium regeln
Der Grund für die Wiedereinführung der strengeren Grundschulempfehlung sei das Comeback des neunjährigen Gymnasiums und die Sorge, dass G9 überlaufen werden könnte, schreibt der SWR. Internen Prognosen zufolge könnten nach der geplanten G9-Einführung, die ebenfalls zur Bildungsreform gehört, im Schuljahr 2025/26 etwa 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf ein Gymnasium wollen. Bisher seien es nur 45 Prozent, da viele vor dem achtjährigen „Turbo-Abi“ zurückgeschreckt seien. Mit einer verbindlicheren Grundschulempfehlung will die Koalition den Zugang zum Gymnasium besser steuern.
Schon im Mai gab es Kritik an den Plänen der Regierung. Die Schülervertretung Baden-Württemberg hatte sich deutlich gegen eine verbindlichere Grundschulempfehlung ausgesprochen. Der Vorsitzende des Landesschülerbeirats, Joshua Meisel, sprach von einem „Rückschritt“, durch den die Bildungsgerechtigkeit eher behindert als gefördert werde. In vielen Fällen beruhe die Empfehlung nicht auf dem tatsächlichen Potenzial der Kinder, sondern auf anderen Faktoren, etwa der Herkunft. Auch die Bildungsgewerkschaft GEW nannte die Grundschulempfehlung „Unsinn“.
Reform auf dem Rücken der Realschulen?
In eine andere Richtung argumentieren der Realschullehrer- und der Philologenverband, die die Reform ebenfalls gerne noch verschärft hätten. „In der geplanten Form ist die ‘Verbindlichkeit’ eine Mogelpackung, mit der allen Kindern, deren Eltern nicht das Gymnasium anstreben, ebenso wie dem differenzierten Schulsystem insgesamt weiterhin großer Schaden zugefügt wird“, schreiben Karin Broszat vom Realschullehrerverband und Ralf Scholl, Landeschef des Philologenverbands in Baden-Württemberg in einer Stellungnahme. Die Rede ist von einem Zwei-Säulen-System, mit dem Gymnasium auf der einen und einer weitgehend vereinheitlichten „Sekundarstufe“ für alle Kinder auf der anderen Seite.
In einer aktuellen Pressemitteilung des Realschullehrerverbands (RLV) heißt es erklärend: „Die Verbindlichkeit wird ausschließlich das Gymnasium betreffen, nicht aber die Realschulen. Über den Besuch einer Realschule soll nach wie vor – auch bei abweichender Grundschulempfehlung und abweichendem Testergebnis – ausschließlich der Elternwille entscheiden. Was das für die Realschulen, Haupt- und Werkrealschulen bedeutet, erleben wir seit 2012 täglich an den Schulen. Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung war ein Kardinalfehler der Bildungspolitik in Baden-Württemberg. Dass nun anlässlich der Wiedereinführung von G9 eine Verbindlichkeit von Grundschulempfehlung plus Test nur für den Übergang auf Gymnasien gelten soll, ist nicht nur für den RLV absolut unverständlich.“
In der Koalition heißt es, es gebe an der Realschule ja schon eine Orientierungsstufe, somit sei eine Grundschulempfehlung überflüssig. Nach der 6. Klasse werden die Schülerinnen und Schüler im G-Niveau oder M-Niveau unterrichtet. G-Niveau bedeutet “Grundlegendes Niveau” und führt zum Hauptschulabschluss, M-Niveau steht für “Mittleres Niveau” und führt zum Realschulabschluss.
Weitere Reformen: Sprachförderung, G9 und Medienbildung
Zur Bildungsreform der Koalition gehört außerdem ein millionenschweres Paket zur Sprachförderung an Kitas und Grundschulen ab dem kommenden Schuljahr. Kinder, die bei der Schuleinganguntersuchung noch sprachliche Probleme haben, sollen noch vor der Einschulung ein intensives Sprachtraining mit vier Stunden pro Woche bekommen. Sprechen die Kinder danach noch immer nicht ausreichend Deutsch, um eine Grundschule besuchen zu können, sollen sie ab dem Schuljahr 2026/2027 in sogenannten Juniorklassen gefördert werden. Bis zu Schuljahr 2028/2029 sollen landesweit 832 Standorte geschaffen werden. Dann wird die Sprachförderung laut Landesregierung auch verbindlich.
Mit den Maßnahmen reagiert die Regierung auf deutliche Leistungseinbrüche bei Grundschülern. Am Ende der Grundschulzeit müsse jeder die Basiskompetenzen beherrschen, sagte Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne). „Denn wer in den frühen Jahren zurückbleibt, wer nicht gut Deutsch sprechen kann oder wer beim Addieren und Subtrahieren unsicher ist, hat später kaum noch eine Chance, das wieder aufzuholen.“
Teil des Gesetzes ist auch die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Derzeit ist in Baden-Württemberg das achtjährige Gymnasium Standard. G9 gibt es nur als Modellprojekt an 44 staatlichen Schulen und an einigen Privatschulen. Ab dem Schuljahr 2025/2026 soll nach Willen der Landesregierung wieder das Abitur nach neun Schuljahren zum Standard werden, zunächst beginnend mit den Klassen fünf und sechs.
Das neunjährige Gymnasium soll zeitgemäß ausgestaltet werden. Das Konzept der Kultusministerin sieht etwa eine Stärkung der naturwissenschaftlichen Fächer vor. Kompetenzen im Bereich Informatik, Künstliche Intelligenz und Medienbildung sollen Schüler künftig in einem eigenen Schulfach erlernen. Zudem soll das neue neunjährige Gymnasium mehr berufliche Orientierung, mehr Demokratiebildung und auch einen stärkeren Fokus auf die Basiskompetenzen bekommen. Konkret sollen in der fünften und sechsten Klasse die Fächer Deutsch, Mathematik und die erste Fremdsprache mit einer zusätzlichen Stunde gestärkt werden. News4teachers mit Material der dpa
Bildungsabsteiger Baden-Württemberg: Wie bekommen Politiker die Schülerleistungen wieder nach oben?
Das Problem würde sich von selbst lösen, wenn BaWü zum letzten G9alt-Lehrplan zurückkehren würde.
Ach ja, der gute alte 1994er-Lehrplan. Statt outputorientiertem Kompetenzgeschwurbel konkrete Inhalte, didaktisch hervorragend aufbereitet und mit anderen Fächern vernetzt. Den empfehle ich bis heute meinen Referendaren zur Unterrichtsplanung.
Ein Problem, was keiner gerne erwähnt, ist dass obwohl das Schulsystem durchlässig ist, die Leistungsunterschiede später tatsächlich so groß sind, dass der Wechsel immer schwieriger wird. Früher ging ein guter Realschüler von Klasse 10 in Klasse 11 eines berufsbildenden Gymnasiums, verlor keine Zeit und machte dort Abitur. Heute wird auch von verschiedenen Bildungsvereinen geraten, die Kinder gleich nach der vierten Klasse aufs Gymnasium zu schicken, bevor sich die Bildungsschere zu weit geöffnet hat. Auch ein Vierer – Abitur ist ja Abitur, und wenn etwas ohne NC studiert wird, fragt nach dem Bachelor keiner mehr nach der Abiturnote .
Die meisten Eltern verhalten sich als ökonomisch denkende Subjekte, die genaue Investitions/ Ertragsrechnungen aufmachen. Sie sind gar nicht irrational, was immer durchschimmert bei solchen Diskussionen. Wenn man es anders haben will, müsste nicht nur der G9 Lehrplan der Gymnasien, sondern auch der für die Realschulen wieder her. Sogar für die Hauptschule ( mit unterrichtsbegleitenden zweijährigen DaZ – Intensivkurs für die Ausländer, Inklusion unter einem Dach, doch nur vollumfänglich im Klassenzimmer, wenn der Schüler mit Assistenz auch in der Lage ist, zumindest teilweise die Unterrichtsziele zu erreichen)
Das meinte ich natürlich genauso. Rückkehr zu den Lehrplänen, die bei G9alt unabhängig von der Schulform gültig waren. Man kann sie gerne inhaltlich auf den neuesten Stand bringen, aber ohne die fachliche Tiefe zu verwässern.
Ich prognostiziere, dass die Hauptschule dann wieder gefragt werden wird.
Heute geht ein Realschüler mit einem “gut” in Mathematik zu einem berufsbildenen Gymnasium und wundert sich, warum er mit seinem “gut” an die Wand läuft.
Punkt-vor-Strich, um nur ein Problem zu nennen. Rechenregeln in Anwendung? Keine. Von Beherrschung durch Üben weit entfernt. Aber kompetent auftreten, das können sie.
Früher war es aber auch nicht viel besser. Diese Schere war schon immer da.
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Es ist tatsächlich so – nach der Abiturnote wird man selten gefragt.
Abitur ist nicht gleich Abitur.
Die Anforderungen sind unterschiedlich. Bei den Beruflichen Gymnasien sind es die Profile, die manch’ einer unterschätzt. BWL kann jeder. Nicht ganz.
Mittlere Reife ist nicht gleich Mittlere Reife.
Was gerade in den Wirtschafsschulen (Berufsfachschule) abgeht, ist weit entfernt von “Bildung”. Die Hälfte ist der Schüler ist nicht beschulbar.
Kein Abschluss ohne Anschluss. Das war die Devise. Aber nicht ohne Sand im Getriebe. Wie Sie schreiben.
Die Orientierungsstufe nur noch in Klasse 5 zu verankern, bringt auch nix für kleine Schulen, bei denen die G-Kinder dann eh noch bis Klasse 8 im Klassenverband bleiben. Ebenso eine Mogelpackung!
Grün + X ist das Problem in Baden-Württemberg, mit X als Besetzung des Kultusministeriums.
Und jetzt auch noch grün + grün.
Eine wirkliche Reform wäre eine andere Landesregierung.
X war schon rot und hat nichts getaugt (Stoch). X war schon schwarz und hat auch nichts gebracht.
Im Land herrscht in Sachen Spitze des Kultusministeriums ein Fachkräftemangel.
„Grün + X ist das Problem in Baden-Württemberg, mit X als Besetzung des Kultusministeriums.“
Zur Klarstellung: G8 wurde seinerzeit in BaWü eingeführt von einer CDU – geführten Landesregierung und einer CDU – Kultusministerin, der späteren Bundesministerin und Ex – Doktorin Annette Schavan. An Grün in Regierungsverantwortung war damals im Ländle noch nicht zu denken.
Grün hat zumindest die Gemeinschaftsschule zu verantworten.
Warum nicht die “NichtGymis” mit einem konkurrenzfähigen Profil versehen sondern über eine marktkonträre Maßnahme das ganze steuern? Ja, ersteres würde Geld kosten und keine Gleichmacherei bedeuten. Aber würde wahrscheinlich funktionieren. Und bitte nicht noch mehr zentrale Tests/Prüfungen. Das ist der echte Rückschritt und mit dem fehlenden Personal an den Grundschulen nicht zu vereinbaren.
Natürlich würde das funktionieren. Nur kommt dann das Argument der sozioökonomischen Abhängigkeit des Bildungserfolges zutage, was zumindest laut den Grünen abgebaut werden muss. Frei nach dem Motto, wenn Hans etwas nicht kann, darf Amelie das auch nicht beigebracht werden, selbst wenn sie darin begabt wäre.
Meine Tochter ist jetzt mit der Realschule durch und wir sind gespannt, wie sie sich auf dem Berufskolleg schlagen wird. Ihr Zeugnis war gut, doch auch wir hatten den Eindruck, dass die Realschule nicht mehr das ist, was sie vor zehn Jahren mal war. Zumindest in Mannheim ist sie zu einer Art Resteschule geworden. Leider. Dabei überzeugte diese Schulart als gute Alternative zum Gymnasium für die Klassen 5-10.
Wir haben uns dennoch an die Grundschulempfehlung damals gehalten und meine Tochter konnte relativ leichtgängig ihren Abschluss machen. Mein Sohn kommt jetzt in die 9. Klasse der Realschule und ich hoffe, dass die Landesregierung die Realschulen nicht weiter verwässert.
Ihrem Sohn wird das nicht mehr passieren, Ihren Enkeln vermutlich schon. Sobald aber G9neu wirklich startet, wird der Drang zum Gymnasium, genauer Gymnasien mit kirchlichem Träger, noch größer werden und die anderen Schulformen werden noch mehr zu Resteschulen. Die weitere demographische Entwicklung wird das noch verstärken.
Mit “Resten” meinen Sie Kinder? Herzliche Grüße Die Redaktion
Ich denke, Unfassbar spricht da weniger die eigene Überzeugung als die gesellschaftliche Funktion der anderen Schulen an
Restschule – ist doch klar. Das sind alle Schulen, die nicht Gymnasien sind. Und alle umfasst hier auch berufliche Gymnasien und sonstige Schulformen der SekI+II. Allgemeinbildende Schulen der SekI sind dann sozusagen der Bodensatz des Restes.
Es reicht doch wohl schon, dass mathematisch/naturwissenschaftliche und neusprachliche GY die Hochschulreife vergeben dürfen – o tempora, o mores.
Die Entwicklung scheint immer mehr in Richtung eines Zwei – Säulen – Modells zu gehen, die sich hauptsächlich in der Gestaltung der Sek1 unterscheiden. Neben dem Gymnasium mit spezifischer Ausrichtung der Sek1 (weil ja noch Sek2 folgt) gibt es mehrere Varianten der anderen Säule (Stadtteil-, Gemeinschafts-, (Werk) Realschule), die klassische Hauptschule ist zumindest hier in BaWü so gut wie nicht mehr vorhanden, vermutlich auch nicht mehr zurückzuholen. Tatsächlich gibt es hier Realschulen, die bewusst um Schüler geworben haben, die zwar ein Abitur anstreben, aber nicht im G8 – Modell. Die absolvieren ihre Oberstufe dann am beruflichen Gymnasium.
Wichtig wäre es, beide Säulen mit einem entsprechenden Profil auszustatten, wobei die nicht – gymnasiale Säule hier besonders in die Lage versetzt werden sollte, ein ansprechendes Bildungsangebot zu bieten, gerade für junge Menschen, die nicht studieren wollen. Ich fürchte, das ist die einzige Chance für diese Säule zu überleben. Das wird Geld kosten, aber dieses Geld ist gut investiert.
Wenn das Image der Restschule sich verfestigt, werden immer weniger sich für diesen Bildungsgang entscheiden.
Erste Säule klassisches GY (am besten humanistisch), zweite Säule Restschule.