„Wollen nicht auf den nächsten PISA-Schock warten“ – Wie eine Schule MINT und KI erlebbar macht (und damit Erfolge feiert)

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DELMENHORST. Das Gymnasium an der Willmsstraße im niedersächsischen Delmenhorst – kurz das Willms-Gymnasium – zählt bundesweit zu den sichtbarsten Leuchttürmen für MINT-Bildung und Digitalisierung. Herausragend ist der Schwerpunkt auf Künstlicher Intelligenz: eigene Schülerprojekte, internationale Kooperationen, Auszeichnungen und wissenschaftlich gestützte Fortbildungen zeigen, wie konsequent die Schule Zukunftsthemen in den Schulalltag integriert. News4teachers hat mit dem stellvertretenden Schulleiter Klaas Wiggers darüber gesprochen, wie seine Schule KI lebendig macht – und wie man Jugendliche so begeistert, dass sie selbst Innovationen anstoßen.

Anwendungsbeispiel Container-Schifffahrt. Foto: Shutterstock

News4teachers: Herr Wiggers, was macht das Willms-Gymnasium im Bereich MINT so besonders?

Klaas Wiggers: Wir können durch unsere Größe sehr vielfältig arbeiten – und vor allem: Wir richten uns stark nach dem Interesse der Schülerinnen und Schüler. Die MINT-Profilklasse beginnt in Jahrgang 8 mit lebensnahen Themen wie Container-Schifffahrt, Antriebstechnik und ökologischen Fragen. Später folgen Batteriezellen und Wasserstoff, mathematische Beweisführung und schließlich ein Halbjahr zur Künstlichen Intelligenz. Am Ende von Jahrgang 10 haben die Jugendlichen schon erste Programmiererfahrungen gesammelt. Unser Ziel ist, Türen zu öffnen – manche kommen bereits mit Begeisterung zu uns, andere entdecken sie erst hier.

News4teachers: Wann wurde klar, dass KI ein Schwerpunkt werden muss?

Klaas Wiggers: Das war ein Prozess. Im Seminarfach „Digitalisierung“ haben wir ab etwa 2020 gemerkt: Die Themen der Facharbeiten verschoben sich fast vollständig in Richtung KI, damals noch fernab von Chatbots – Deep Learning in der Radiologie zum Beispiel. Wir haben darauf reagiert und das Fach zu „Künstlicher Intelligenz“ weiterentwickelt. Grundsätzlich beobachten wir genau, was Schülerinnen und Schüler interessiert. Wenn wir merken, dass da etwas entsteht, dann greifen wir es auf.

News4teachers: Sie haben mit dem Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS das Programm „AI4Schools“ initiiert. Wie ist das entstanden?

Klaas Wiggers: Eigentlich wollten wir eine einmalige Fortbildung beim Institut buchen, damit wir das Thema KI auch qualifiziert unterrichten können – daraus wurde ein bundesweites Projekt, das wir heute noch begleiten. Das Fraunhofer-Institut hat nämlich sehr schnell erkannt, dass viele Schulen Bedarf haben. Heute können Schulen zweitägige Projekttage für Schülerinnen und Schüler oder Fortbildungen für Lehrkräfte buchen. Rheinland-Pfalz hat vor einigen Wochen erst einen Vertrag abgeschlossen. Dort werden nun Lehrkräfte zu Multiplikatoren für das Projekt ausgebildet, um damit in ihrem Bundesland Lehrkräfte fit für das Thema zu machen – von Grundbegriffen, über ethische Blickwinkel bis hin zu Berufsorientierung.

Die Zukunft des Matheunterrichts

In Schweden hat Magma Mathe den Unterricht bereits an 85 % der Schulen revolutioniert. Nun unterstützen wir auch Schüler:innen in Deutschland: Sie arbeiten kollaborativ, visualisieren ihre Rechenwege und erhalten personalisiertes, formatives Feedback.

Kind schreibt mit der Hand auf iPad und nutz Magma MathDurch datengestützten Unterricht erkennen Lehrkräfte Wissenslücken frühzeitig – und können sie gezielt schließen. Magma macht unterschiedliche Lösungswege sichtbar. So rücken wir die Qualität mathematischer Strategien in den Mittelpunkt statt die bloße Anzahl gelöster Aufgaben. Lehrkräfte können die Lösungswege anonymisiert teilen – und schaffen damit lebendigen Austausch im Klassenzimmer: Schüler:innen diskutieren, lernen voneinander und gewinnen Vertrauen in ihr mathematisches Können.

Unterrichtsstunden und Übungen lassen sich mit unserer Aufgabenbibliothek für die Jahrgänge 1–12 einfach gestalten. Schüler:innen erhalten kontinuierlich personalisiertes, formatives Feedback. Lehrkräfte bekommen wertvolle Einblicke in individuelleLernstandsverläufe – für zielgenaue Förderung und spürbare Zeitersparnis.

News4teachers: Sie leiten außerdem ein bundesweites KI-Cluster im Rahmen des MINT-EC Netzwerks von Gymnasien mit starkem MINT-Profil. Was war Ihnen dabei besonders wichtig?

Klaas Wiggers: Dass die Perspektive der Jugendlichen gleichberechtigt einfließt. Jede der 16 teilnehmenden Schulen musste eine Lehrkraft und eine Schülerin oder einen Schüler entsenden – das war verpflichtend. KI ist ein Thema, das man nicht für junge Menschen gestaltet, sondern mit ihnen gemeinsam. Das ist eine wunderbare Chance. Daraus entstand etwa die Berufsorientierungsinitiative #I_make_AI (imakeai.de): mit eigener Website, Podcast, internationalen Partnern und Auftritten wie bei den Vereinten Nationen in Genf, der Hannover Messe oder beim Bitkom Summit. Auf solchen Veranstaltungen sind wir als Schule in der Regel die Ausnahme. Inzwischen haben für #I_make_AI zwei Kooperationsschulen – eine in Sydney und eine in Madrid – , die jetzt auch Content produzieren.

News4teachers: Ihre Schülerinnen und Schüler sind sehr engagiert. Sie haben sogar einen Sprachroboter an die Schule geholt – und damit die Tagesthemen erreicht. Was ist da passiert?

Klaas Wiggers: Das war ein sehr schönes Beispiel für Eigeninitiative. Wir haben auf einer KI-Konferenz in Genf das internationale Startup Hidoba Research kennengelernt, das ihren KI-gesteuerten humanoiden Sprachroboter namens Captcha entwickelt. Die Schüler waren so begeistert, dass sie selbst organisiert haben, dass der Roboter zu uns an die Schule kommt. Er hat hier Diskussionen moderiert – im Grunde eine Lehrerrolle übernommen. Damit haben wir es in die Tagesthemen der ARD geschafft und wurden sogar in der 20 Uhr-Tagesschau angeteasert. Das zeigt, wie viel passiert, wenn man Jugendlichen echte Verantwortung gibt und ihnen zutraut, Kontakte aufzubauen.

News4teachers: Ein anderes Schülerprojekt hat den deutschlandweiten „Solve for Tomorrow“-Wettbewerb gewonnen. Worum ging es dabei?

Klaas Wiggers: Fünf Schülerinnen und Schüler wollten den Sportunterricht fairer, gerechter und motivierender machen – indem man nicht nach starren Tabellen bewertet, sondern individuelle Fortschritte sichtbar macht. Grundlage ist eine KI-gestützte Auswertung von Bewegungs- und Gesundheitsdaten. Sie waren das einzige Schülerteam im Wettbewerb, haben das Deutschlandfinale gewonnen, im europäischen Finale einen Platz unter den besten fünf belegt und präsentieren ihre Idee nun bei den Olympischen Winterspielen – und später sogar im Samsung-Hauptquartier in Südkorea. Diese Erfahrungen prägen enorm.

News4teachers: Sie testen derzeit eine Mathematik-Lernplattform aus Schweden. Was versprechen Sie sich davon?

Klaas Wiggers: Die App erkennt handschriftliche Lösungen, markiert Fehler direkt und schlägt passende Aufgaben vor. Anders als rein adaptive Systeme bleibt die Lehrkraft aber immer im Zentrum: Ich kann eigene Aufgaben verteilen, unterschiedliche Niveaus auswählen und live sehen, welche Lösungswege die Schülerinnen und Schüler gehen. Besonders spannend ist der Blick auf die ganze Schule: Wenn ein ganzer Jahrgang damit arbeitet, können Fachgruppen auswerten, wo Kompetenzen stark sind und wo Fortbildungsbedarf besteht. So wird datengestützte Schulentwicklung praktisch umsetzbar – anonymisiert und datenschutzkonform.

Für uns ist das eine große Chance: nicht zu warten, bis der nächste PISA-Schock kommt, sondern kontinuierlich zu sehen, wo wir stehen.

News4teachers: Sie betonen, dass KI nicht zu isoliertem Lernen führen darf. Was bedeutet das konkret?

Klaas Wiggers: Viele adaptive Systeme arbeiten sehr individuell – das ist gut, aber es besteht die Gefahr, dass gemeinsames Lernen zu kurz kommt. Die schwedische Plattform bietet hier viel Potenzial: Sie zeigt Lösungen live an, ermöglicht Vergleiche, Kommentare, Präsentationen. Ich wünsche mir als nächsten Schritt Funktionen für echtes kollaboratives Arbeiten: Aufgaben gegenseitig zuspielen, Lösungswege gemeinsam entwickeln, Teamphasen wie „Ich – Du – Wir“ digital abzubilden. Das wäre ohne großen Aufwand machbar und würde der Didaktik enorm helfen.

News4teachers: Warum ist Ihre Schule so offen für Innovationen, während manch andere sich damit eher schwertun?

Klaas Wiggers: Wir haben eine klare Kultur: Wenn uns jemand eine Idee bringt – egal ob Schülerin, Schüler, Lehrkraft oder eine Initiative von außen – dann hören wir zu und prüfen, ob es passt. Außerdem haben wir viele Kolleginnen und Kollegen, die bereit sind, Neues zu testen. In der Regel melden sich etwa 20 Prozent des Kollegiums auf einen Aufruf, obwohl ihnen klar ist, dass das neben dem Unterricht läuft.

Wir wollen gerne den Zugang von außen in Schule erleichtern. Viele Schulen verlieren innovative Angebote im Posteingang, weil niemand sich zuständig fühlt. Wir haben als Lehrer ja auch nie Innovations- und Changemanagement vermittelt bekommen. An vielen Schulen ist der Arbeitsalltag für Schulleitung, Sekretariat und Kollegium darüber hinaus so herausfordernd und ausfüllend, dass man gar keine Zeit hat dafür. Aber es gibt an jeder Schule Lehrkräfte, die offen gegenüber Innovationen sind, begeisterungsfähig sind und es auch als Wertschätzung empfinden, sich über Impulse von außen austauschen zu können – zum Beispiel von Stiftungen, Start-ups oder aus der Forschung.

Wir wollen deshalb jetzt versuchen, ein Netzwerk für „Innovationskräfte“, also Ansprechpersonen unter den Lehrkräften, die für neue Ideen offen sind, zu schaffen und diese mit externen Angeboten – auch ganz abseits von MINT – in Kontakt zu bringen.

News4teachers: Noch einmal zurück zu den Schülerinnen und Schülern: Wie gelingt es Ihnen, Kinder und Jugendliche für MINT und KI zu begeistern – auch solche, denen dieser Bereich eher fremd ist?

Porträt von Klaas Wiggers, stellv. Schulleiter Willms-Gymnasium, Delmenhorst
Voller Einsatz für moderne MINT-Bildung: Klaas Wiggers ist stellvertretender Schulleiter am Willms-Gymnasium in Delmenhorst, Niedersachsen. Foto: Privat.

Klaas Wiggers: Begeisterung entsteht durch Erleben. Wir haben Tiere in der Schule, eine Open-Lab-AG von Jahrgang 6 bis 13, Robotik, einen entstehenden KI-Unterrichtsraum. Ältere Schülerinnen und Schüler bringen den Jüngeren KI bei. Viele entdecken ihr Interesse erst durch genau solche Begegnungen.

Natürlich sind nicht alle MINT-affin – wir sind ja ein allgemeinbildendes Gymnasium. Aber wer Interesse entwickelt, findet bei uns unglaublich viele Angebote und Vorbilder. Und Mädchen werden sehr bewusst ermutigt, sich einzubringen.

News4teachers: Noch eine letzte Frage: Was möchten Sie Ihren Schülerinnen und Schülern mitgeben, wenn sie die Schule verlassen?

Klaas Wiggers: Sie sollen mit vielen Bildungsimpulsen in die Welt starten – angestupst in verschiedene Richtungen, selbstbewusst und neugierig. Lernen soll positiv in Erinnerung bleiben. Außerunterrichtliche Erfahrungen prägen besonders. Wer Pitch-Wettbewerbe meistert, internationale Bühnen erlebt oder KI-Projekte entwickelt, traut sich später viel zu. Und wir freuen uns, wenn ehemalige Schülerinnen und Schüler als Expertinnen und Experten zurückkehren – und die nächste Generation wieder begeistern. News4teachers / Sonja Mankowsky führte das Interview.

Hier geht es zu allen Beiträgen des News4teachers-Themenmonats “Mission MINT”.  

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1 Kommentar
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Hans Malz
28 Minuten zuvor

“…zählt bundesweit zu den sichtbarsten Leuchttürmen für MINT-Bildung und Digitalisierung.”

Nirgendwo ist es so dunkel, wie am Fuße des Leuchtturms.

Trotzdem weiterhin viel Erfolg bei der Begabtenförderung. Vielleicht besteht ja wenigstens noch für einige Kinder etwas Hoffnung.