Haben wir’s geschafft? Ja, aber… (das Bildungssystem hinkt immer noch hinterher)

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BERLIN. Zehn Jahre nach der „Flüchtlingskrise“ von 2015 zieht Deutschland Bilanz – mit einem ambivalenten Befund: Während Geflüchtete heute in großer Zahl im Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben, bleibt das Bildungssystem auf die Integration schlecht vorbereitet. Fehlende Kita-Plätze bremsen die Erwerbstätigkeit von Frauen, an den Schulen zeigt sich ein dramatischer Qualitätsverlust – und Lehrkräfte mussten die Versäumnisse der Politik ausbaden. Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek. 

“Wir schaffen das.” Dieser Satz von Angela Merkel, hier ein Foto von 2015, schrieb – so banal er war – Geschichte. Foto: Shutterstock / 360b

Haben wir’s geschafft (wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 vorhergesagt hat)? Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zieht eine erfreuliche Zwischenbilanz: Viele Geflüchtete, die damals nach Deutschland kamen, sind inzwischen im deutschen Arbeitsmarkt angekommen. Im aktuellen Kurzbericht heißt es: „Bei den 2015 zugezogenen Schutzsuchenden ist die Beschäftigungsquote neun Jahre nach dem Zuzug auf 64 Prozent gestiegen – im Vergleich zu 70 Prozent in der Gesamtbevölkerung im vierten Quartal 2024“.

Auch die Einkommen hätten sich stabilisiert. „Der Medianmonatsverdienst vollzeitbeschäftigter Geflüchteter stieg von 1.398 Euro im ersten Jahr auf 2.675 Euro im Jahr 2023. Das entspricht 70 Prozent des Medians der Bruttomonatsverdienste aller in Vollzeit abhängig Beschäftigten in Deutschland“, so die Forscher. Von den abhängig Beschäftigten könnten „84 Prozent ihren Lebensunterhalt ohne ergänzende Leistungen bestreiten“.

Einordnung liefert das IAB-Forum: „Zehn Jahre nach dem massiven Anstieg der Fluchtmigration im Jahr 2015 zeigt sich: Vielen Geflüchteten ist der Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt gelungen – wenn auch nicht allen im gleichen Maße.“ Die Integration sei vor allem dort erfolgreich, wo „zügige Asylverfahren, sichere Bleibeperspektiven, Sprachkurse und arbeitsmarktorientierte Förderung“ gegeben waren. Die Erfahrungen zeigen damit auch: Integration ist möglich – wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen.

Besonders bemerkenswert ist der Blick auf syrische Männer, die die größte Gruppe unter den Geflüchteten stellen. Laut IAB haben sie mittlerweile eine Erwerbsquote erreicht, die über der der übrigen Männer in Deutschland liegt. Auffällig ist zudem, dass viele von ihnen in Bereichen arbeiten, die für das Funktionieren der Gesellschaft besonders wichtig sind – etwa in der Pflege, im Gesundheitswesen, in der Logistik oder in handwerklichen Berufen. Gerade diese Tätigkeiten gelten als systemrelevant, wie die Pandemie eindrücklich gezeigt hat. Damit tragen Geflüchtete nicht nur zur Beschäftigungsquote, sondern auch spürbar zur Stabilisierung des Arbeitsmarkts in Engpassberufen bei.

Doch das Bild ist geschlechtsspezifisch scharf gespalten. Während neun Jahre nach Ankunft etwa 76 Prozent der Männer beschäftigt waren, lag die Beschäftigungsquote der Frauen nur bei 35 Prozent. Das IAB betont: „Besonders negativ fällt der Zusammenhang zwischen der Erwerbstätigkeit und dem Zusammenleben mit Kindern unter sechs Jahren aus – sowohl für Frauen, als auch, wenngleich schwächer, für Männer“.

„Es fehlen Personal und Klassenräume; und noch immer sind viele Lehrkräfte nicht auf den Umgang mit nicht-deutschsprachigen Kindern vorbereitet“

Hier zeigt sich eine zentrale Schwachstelle der Integrationspolitik: Fehlende Kita-Plätze verhindern nicht nur den Berufseinstieg von Frauen, sie bremsen damit die Integration ganzer Familien. Integration bleibt also nicht allein eine Frage von Arbeitsmarktprogrammen, sondern auch von verlässlichen familien- und bildungspolitischen Strukturen.

Das zeigt sich auch an den überforderten und strukturell unvorbereiteten Schulen. Als 2015/16 mehr als 250.000 minderjährige Geflüchtete nach Deutschland kamen, wuchs der Anteil geflüchteter Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen sprunghaft: von 34.000 im Jahr 2014 auf 230.000 im Jahr 2017, wie der Mediendienst Integration bilanziert. Mit der Ukraine-Fluchtbewegung 2022/23 kam erneut eine ähnlich hohe Zahl hinzu.

News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek

Viele Schulen richteten sogenannte Willkommens- oder Vorbereitungsklassen ein. Doch dieser Weg erwies sich als problematisch. „Der Unterricht erfolgte oft konzeptlos ohne Lehrplan und verhinderte die Integration der neu zugewanderten Kinder“, so der Mediendienst Integration. Eine Studie von 2022 zeigte: Kinder, die früh in Regelklassen unterrichtet wurden, schnitten besser in Mathematik und Deutsch ab – ein Befund, der unlängst erst durch eine weitere Untersuchung bestätigt wurde (News4teachers berichtete).

Manche Bundesländer haben daraufhin ihre Konzepte geändert, ukrainische Kinder wurden häufiger direkt in Regelklassen mit zusätzlicher Deutschförderung aufgenommen. Doch das änderte nichts am Grundproblem: „Es fehlen Personal und Klassenräume; und noch immer sind viele Lehrkräfte nicht auf den Umgang mit nicht-deutschsprachigen Kindern vorbereitet“, wie der Mediendienst Integration feststellt.

Dabei hängt auch die schulische Integration eng mit der frühen Betreuung zusammen. Fehlende Kita-Plätze verhindern nicht nur den Berufseinstieg von geflüchteten Frauen, sondern nehmen den Kindern auch die Chance auf frühe Sprachförderung. Der Mediendienst Integration verweist darauf, dass viele Kinder „im Durchschnitt während und nach der Flucht über ein Jahr keine Schule besucht“ haben – eine Lücke, die nur durch sehr frühe Förderung geschlossen werden könne. Das rächt sich bis heute im Schulsystem, wo Sprachdefizite den Bildungserfolg blockieren.

„Geflüchtete Schüler besuchen oft Klassen, die ihrem Alter nicht entsprechen“

Zur Frage der erreichten Abschlüsse von Flüchtlingskindern liegen nur wenige Daten vor – die Tendenz ist jedoch klar. „Geflüchtete Schüler besuchen oft Klassen, die ihrem Alter nicht entsprechen. Gerade bei älteren Schülern fällt die Integration schwer: sie besuchen länger die Grundschule, häufiger die Berufs- oder Förderschulen und verlassen die Schule öfter ohne Abschluss als andere Schüler“, fasst der Mediendienst Integration zusammen.

Ursachen seien nicht primär der sozioökonomische Hintergrund, wie bei anderen Migrantengruppen, sondern „Sprachbarrieren, der Bruch in der Bildungsbiografie und das schwierige Lernumfeld in Unterkünften“. Viele Jugendliche hätten während und nach der Flucht über ein Jahr lang keine Schule besucht – eine Lücke, die schwer zu schließen sei. Damit wird deutlich: Integration im Bildungsbereich gelingt nicht automatisch über die Zeit, sondern erfordert gezielte politische Steuerung und Ausstattung.

Eine Befragung von 2017 unter geflüchteten Kindern und Jugendlichen zeigte dennoch Erstaunliches: „Eine insgesamt hohe Lebenszufriedenheit, ähnlich wie bei deutschen Kindern. Drei Viertel verbrachten ihre Freizeit mit deutschen Kindern. 86 Prozent schätzten ihre Deutschkenntnisse als gut oder sehr gut ein“, wie der Mediendienst Integration berichtet.

Eine Langzeitbefragung von 2018 kam zu einem differenzierten Bild: Zwar fühlten sich die meisten sprachlich integriert, doch bei vertieften Sprachkenntnissen – etwa dem Verstehen einer Fernsehsendung oder dem Lesen eines Buches – zeigten sich Defizite. Das Fazit der Studienautorinnen und -autoren: „Die Sprachförderung muss deshalb deutlich ausgebaut werden.“

„Die Lage an Deutschlands Schulen bleibt schlecht. Sie hat sich gegenüber 2024 weiter leicht verschlechtert“

Prof. Mona Massumi von der FH Münster, die zu diesem Thema forscht, erklärt: „Geflüchtete Schülerinnen und Schüler gehen zu oft im Schulsystem unter. (…) Grundsätzliche Probleme, wie fehlendes Personal oder fehlende Schulplätze, werden in Debatten häufig auf Neuzugewanderte bezogen. Gleichzeitig wird nicht auf ihre individuellen Bedarfe – fachlich, sprachlich oder persönlich – eingegangen.“

Auch der aktuelle Bildungsmonitor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) bestätigt die Krisensymptome. „Die Lage an Deutschlands Schulen bleibt schlecht. Sie hat sich gegenüber 2024 weiter leicht verschlechtert“, bilanziert Axel Plünnecke, der die (erst in Teilen veröffentlichte) Studie verantwortet, wie News4teachers berichtete.

Besonders gravierend sei die Lage bei Kindern aus Flüchtlingsfamilien. „2015 war die Wasserscheide. Bis dahin verbesserten sich die Ergebnisse, danach verschlechterten sie sich“, so Plünnecke. Das Schulsystem sei auf die Herausforderungen „nicht vorbereitet“ gewesen. „Heute haben die Kinder in 30 bis 40 Prozent unserer Schulen große Defizite. Viele erreichen etwa beim Lesen die Mindeststandards nicht“. Damit wird deutlich: Nicht allein die Pandemie oder die Digitalisierungskrise haben das Schulsystem ins Wanken gebracht – die unzureichende politische Reaktion auf die Fluchtmigration von 2015 wirkt bis heute nach.

VBE: Politik hat sich auf die Schulen verlassen

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) wehrt sich deshalb zu Recht gegen den Vorwurf, die Schulen hätten versagt. Bundesvorsitzender Gerhard Brand betont: „Wir brauchten schnelle Lösungen für komplexe Herausforderungen. (…) Auf die Bewältigung einer Aufgabe dieser Größenordnung in so kurzer Zeit war das Bildungssystem nicht vorbereitet. Es ist einzig dem großen Engagement der Lehrkräfte und Schulleitungen, der Schulsozialarbeit und den Erzieherinnen und Erziehern zu verdanken, dass es den miserablen Rahmenbedingungen zum Trotz funktionierte.“

Politik habe sich darauf verlassen, dass Schule es schon hinbekommt. „Wir haben damals wie heute stets darauf hingewiesen, wie die Situation vor Ort ist, wie es anders laufen müsste, welche Unterstützung für Lehrkräfte notwendig wäre“, sagt Brand und betont: „Im Nachhinein mit dem Finger auf Schule zu zeigen, und die enorme Leistung schlechtzureden, ist nicht der richtige Weg. Mit den Rahmenbedingungen, die wir hatten, haben wir die ankommenden Kinder insbesondere 2015 und auch 2022 bestmöglich integriert.“

Die Flüchtlingsmigration, das lässt sich festhalten, hat das Kernproblem des deutschen Bildungssystems nochmal verschärft: Der Bildungserfolg eines Kindes hängt im Wesentlichen von den Startchancen ab, die ihm seine Familie mitgeben kann. Brand: „Es ist nicht das Merkmal ‚Migrationshintergrund‘, das eine direkte Korrelation zu schlechteren Bildungsergebnissen aufweist, sondern der ökonomische Status des Elternhauses und die Möglichkeit, dort Deutsch zu sprechen. Das sind Faktoren, bei denen wir ansetzen müssen.“

Traurig, dass das nach zehn Jahren noch gesagt werden muss. News4teachers

Zehn Jahre nach „Wir schaffen das“: Wie die Schulen Integration stemmen – und warum es trotzdem nicht reicht

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RainerZufall
1 Monat zuvor

Wow!

Bei aller berechtigter Kritik und notwendiger Benennung von Baustellen, erschüttert mich, wie die gewaltigen Anstrengungen von Lehrkräften überflogen werden!

An den Stellen, wo das System nicht griff, warfen sehr viele Menschen Ihre Kraft und Herzblut ein!
Die Schwachmat*innen, welche heute über Flüchtlinge herziehen, können diese Leistung nicht untergraben, aber von dieser Seite hätte ich mir mehr Augenmaß erhofft! 🙁

ed840
1 Monat zuvor

Es ist zwar erfreulich, dass die Integration in den Arbeitsmarkt immer besser gelingt, auf Belege für die Behauptung “eine Erwerbsquote erreicht, „die sogar über der der deutschen Männer liegt“. wäre ich mal gespannt.

Die Quote für die IAB-Stichprobe wird ja z.B. für die Alterskohorte von 18 -64 Jahre berechnet, die Zahlen bei Bundesagentur und Statistischem Bundesamt für die Alterskohorte 15 -64 Jahre, bei denen der größte Teil die 15 -17-jährigen nicht erwerbstätig ist.

Die Erwerbsquote für “deutsche Männer” habe ich auch nicht gefunden, nur für männliche Einwohner inkl. nichtdeutscher Wohnbevölkerung.

Sie wird in diesen Quellen mit 83,8% angegeben.

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/188794/umfrage/erwerbsquote-in-den-eu-laendern/

https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/tabIV31.pdf

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Das betrifft aber nicht “deutsche Männer” , sondern die männliche Bevölkerung inkl. nichtdeutschen Einwohnern.

Außerdem wird beim IAB nicht die Erwerbsquote, sondern die Beschäftigungsquote genannt, also die Quote ohne Beamte und Soldaten. Dies Berufe kommen für Geflüchtete mangels Staatsangehörigkeit ja nicht in Frage.
Auch die Beschäftigungsquote wird bei der BA für die Alterskohorte von 15 -64 angegeben, nicht für 18 -64 wie beim IAB.

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Interessant auch, dass das IAB an anderer Stelle selber darauf verweist, dass DE in Q1 2024 eine Beschäftigungsquote von 77,4% insgesamt aufwies.

ab-forum.de/oecd-beschaeftigungsausblick-der-deutsche-arbeitsmarkt-im-vergleich-und-arbeitsmarktwirkungen-der-gruenen-transformation/

Realist
1 Monat zuvor

Politik habe sich darauf verlassen, dass Schule es schon hinbekommt.”

“Verlassen” ist nicht das richtige Wort. Man hat die Schulen einfach mit den Geflüchteten alleinegelassen. Wer erinnert sich nicht an die “Hilfestellung” einer gewissen Bildungsministerin in Bezug auf die aus der Ukraine geflüchteten Kinder:

“Einfach einen Stuhl dazustellen!”

Das war’s. Mehr kam da lange Zeit nicht.

War das jetzt Naivität, Dummheit, oder Zynismus?

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Realist

Scheint aber in den Bundesländern auch unterschiedlich gut/schlecht zu klappen.

Erst kürzlich wurde in einer Studie der MLU-Halle berichtet, dass geflüchtete Jugendliche mit gleichen individuellen Voraussetzungen je nach Bundesland signifikant höhere Sprachkompetenzen in Deutsch aufwiesen.

Die OECD bescheinigt Deutschland übrigens im Vergleich zu anderen Ländern relativ gute Erfolge bei der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt.

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/fluechtlinge-integration-oecd-100.html

dickebank
1 Monat zuvor
Antwortet  Realist

Ja eben, “verlassen” bzw. alleine gelassen.

realo
1 Monat zuvor

Haben wir´s geschafft? Ich würde sagen “nein” statt “ja”. Auch das Bildungssystem hinkt nicht nur hinterher, wie behauptet, sondern ist weitgehend zerrüttet. So sieht das Ergebnis von “Wir schaffen das” aus.
Schuld daran ist allerdings nicht nur die viel zu hohe Zahl an Migranten, sondern eine Bildungspolitik, die schon vor 2015 eine gleichmachende leistungsfeindliche Richtung einschlug.

dickebank
1 Monat zuvor
Antwortet  realo

Wie viele Mitglieder der KMK sind denn zugewandt?

Rüdiger Vehrenkamp
1 Monat zuvor
Antwortet  realo

Eben. Zusätzlich zu den Herausforderungen wie Migration und Inklusion, wird von Reformern gebetsmühlenartig gepredigt, dass jeder an der Schule Spaß haben und sich wohlfühlen soll. Dazu möchte man alles abschaffen, was irgendwie Druck erzeugen könnte: Hausaufgaben, unangekündigte Tests, Noten, Sitzenbleiben, die verschiedenen Schularten, Wettbewerb, ja überhaupt sowas wie Unterricht – jeder soll doch bitte im Lernatelier das bearbeiten, was er gerade will. Und wenn er nicht will? Who cares? Dann schreibt er seinen “Gelingensnachweis” einfach irgendwann und bekommt als Zeugnis eine mehrseitige Abhandlung darüber, dass er sehr eigenständig ist und seinen Willen durchsetzt.

Wie sind wir nur in den 90er/00er-Jahren durch diese Hölle von Schulzeit gekommen? Die Kinder und Jugendlichen kriegen ja heute mit, dass das eigene Bedürfnis und Befinden immer höherrangiger einzustufen ist, als irgendwelche Pflichten oder gar Anweisungen des Lehrers. Eine passende Diagnose wirds notfalls richten.

Warum hängen uns viele Industrienationen inzwischen ab? Weil wir uns zu sehr auf die Egos/Befindlichkeiten/Gefühlslagen von Einzelpersonen kümmern. Auf jeden und alles soll immer und jederzeit Rücksicht genommen werden. In einer Gesellschaft kann das auf Dauer nicht funktionieren. Da braucht es einfach einen Konsens: Natürlich soll sich jeder wohlfühlen, aber jeder soll auch geforderte Leistungen erbringen. Nicht jeder, der einfach nur gerne möchte, kann Pilot oder Arzt oder Kfz-Mechatroniker werden. Man kann/muss/darf auch gerne noch zeigen, was in einem steckt, man darf auch mal schlechte Erfahrungen sammeln, mal verlieren, mal schlechter sein als jemand anderer. Und in die Eigenverantwortung für schlechtes Abschneiden darf man auch gerne wieder rein. Durchforstet man soziale Medien, hat inzwischen fast jedes 2. Elternteil ein “neurodivergentes Kind”, auf dessen Befindlichkeiten natürlich Rücksicht genommen werden muss.

DerechteNorden
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Nicht wirklich, denn Demenz ist mit als Ursache angeführt. Und wenn man überlegt, wie viele Menschen davon betroffen sind, dann sind die Zahlen gleich ganz andere.
Diese Erkrankung hat ihre Ursache nicht in negativen Erfahrungen in der Vergangenheit, sondern eine organische (s. verlinkte Studie), weshalb Sie die Zahlen nicht einfach so heranziehen können.

Des Weiteren ist es erst seit einiger Zeit üblich, dass psychische Erkrankungen ein Thema sind, über das man spricht und deswegen in Behandlung geht.
Die Annahme, dass es zuvor ähnlich viele Erkrankungen gegeben hat, liegt also nahe. Man braucht sich nur einmal vor Augen zu führen, wie viele Menschen auch früher schon Alkoholiker*innen waren. Das wurde aber nicht als Krankheit betrachtet.

Es ist also auch hier die Interpretation von Daten, die die “Fakten” machen.
Sind es wirklich mehr als ein Drittel aller Erwachsenen, die eine psychische Erkrankung haben, weil ihre Schulzeit so schlimm war, wie es Ihr Post nahelegt?
Ich würde hier ganz klar Nein sagen.

dickebank
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

… und dann erst die Jahrgänge davor?

Opossum
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Es gibt aber kein Nachweis, dass die Schulzeit daran Schuld hat. Vielleicht sind das auch Arbeitsbedingungen und politische und soziale Lage im Land und in der Welt?

Rüdiger Vehrenkamp
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Sooo toll ist die Bilanz der neuen Entwicklungen aber nunmal auch nicht. Und jetzt?

Rüdiger Vehrenkamp
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Natürlich spiegele ich hier meine subjektiven Alltagserfahrungen als Vater und als Sozialpädagoge mit 15 Jahren Berufserfahrung wieder. Ich hab gar nicht die Zeit, mich durch Studien, Evaluationen und Thesenpapiere zu wühlen, da ich direkt an der Basis mit den Menschen arbeite. Vielleicht muss ich auch deswegen oft mit dem Kopf schütteln, wenn von den Bürohengsten mal wieder neue Handreichungen an die Basis ausgegeben werden.

Rüdiger Vehrenkamp
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Sie erlauben die Frage, ob wir eine glücklichere Gesellschaft hätten, wenn wir jegliche Anforderungen komplett nach unten schrauben?

“Geht es darin tatsächlich um Bildung, um ganzheitliches Lernen – oder darum, dass Kinder und Jugendliche unter Druck bestimmte Leistungsanforderungen zu erfüllen haben?”

Es geht um beides. Fordern und Fördern, Zuckerbrot und Peitsche, Ying und Yang, Licht und Schatten. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Unser Schulsystem wird immer schlechter gemacht, als es ist. Denn wie konnte sich Deutschland als Sozialstaat und Industrienation so lange zur Spitze zählen, wenn das Schulsystem nicht die Leute dazu ausgebildet hätte? In den 80er/90er-Jahren waren die Menschen durchaus glücklicher als heute – von inzwischen lauten Randgruppen abgesehen, hatte jeder seinen Platz, ein Eigenheim zu erwerben war auch für den normalen Arbeiter möglich. Es gab eine Art Grundkonsens, dass Schule nunmal auch Arbeit bedeutet und nicht immer Spaß machen muss.

Dreißig Jahre später soll auf jedes Bedürfnis und jede Befindlichkeit Rücksicht genommen werden. Bloß nichts mehr einfordern, jeder hat irgendeine Neurodivergenz, eine Diagnose, eine Therapie. Schule soll nicht mehr nur Bildung vermitteln und zu Abschlüssen führen, sondern eine Wohlfühloase für alle werden, wo multiprofessionelle Teams an den psychischen Auffälligkeiten der Kinder herumdoktorn und neben dem Unterricht am besten gleich die Therapien mit durchziehen. Man fordert immer weniger von den Schülern und immer weniger von den Eltern. Genau diese Entwicklungen führen zu den Ergebnissen, die wir heute haben und mit denen wir alle unzufrieden und unglücklich sind.

Rüdiger Vehrenkamp
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Da bin ich ebenfalls bei Ihnen. Ein asiatisches Schulsystem, das nur auf Druck und Drill setzt, ist genauso wenig erstrebenswert wie ein System, das jeglichen Druck und Drill herausnimmt. Was ist aus dem gesunden Mittelweg geworden?

Rüdiger Vehrenkamp
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Das muss er. Dazu gehört aber nicht das Abschaffen jeglicher Hindernisse auf dem Weg zum Erwachsensein. Entlang der ganzen Forderungen, vor allem an Schule und das dortige Personal, wäre ein Schwenk Richtung Eigenverantwortung und Eigeninitiative wünschenswert.

Wir müssen uns nämlich entscheiden, was Schule in Zukunft sein soll: Ein Bildungs- oder ein Therapiezentrum?

Ureinwohner Nordost
1 Monat zuvor

Da gehe ich mit Ihnen.

Ihre abschließende Frage betreffend: Therapiezentrum kann eine Schule NICHT sein.
Dazu fehlen im Personalbestand Psycho-, Sozial- u.a. Therapeuten, die diese Arbeiten in Vollzeit verrichten können. Genug Arbeit gäbe es ja. Außerdem fehlt es an Therapieräumen.
Was bleibt dann für Schulen übrig? – genau, Bildungszentrum sein.

DerechteNorden
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Ein Merkmal von Bildung, das nahezu allen modernen Bildungstheorien entnehmbar ist, lässt sich umschreiben als das reflektierte Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt.”

Derzeit kommen allerdings lauter Kinder in Schule, denen Eltern ständig aufzeigen, dass sie nicht einmal ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst haben müssen.
Das kommt zustande, wenn sich zuhause entweder niemand kümmert oder sich zu viel gekümmert wird.
Da arbeitet dann das Elternhaus – einfach formuliert – gegen Schule. Und dagegen ist bei vielen dann kein Ankommen. Denn es ist ja nicht so, dass der Einfluss des Elternhauses bei Schuleintritt plötzlich aufhört.
Wenn man dann noch den Schulen die Möglichkeiten nimmt, gegenanzusteuern, dann kommt das heraus, was wir derzeit erleben.

Diejenigen, bei denen es zuhause läuft, kommen gut durch und nehmen viel mit, die anderen werden – überspitzt formuliert – später KI nutzen müssen, um etwas gebacken zu kriegen. Die Konsequenzen sind jetzt schon abzusehen.

Ureinwohner Nordost
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Da sprechen Sie jetzt aber jetzt allseits verpönte Sachen an: Wettbewerbsgewinne, Preise…
Erzeugt es nicht traumatischen Druck auf die Schüler, zu den Besten zu gehören zu “müssen”? 😉

Rüdiger Vehrenkamp
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Ich mache meinen Job in der sozialen Arbeit nun seit 15 Jahren. In all der Zeit konnte ich Folgendes beobachten: Während die Anforderungen und der Druck an den Schulen nachgelassen haben, bekamen im Gegensatz dazu immer mehr Kinder Diagnosen, Therapien und wurden auffälliger. Um dem entgegenzuhalten, will man noch mehr Druck rausnehmen und sieht in allen Anforderungen eine Belastung, ja gar seelische Grausamkeit für das Kind. Kann es aber sein, dass das eben nicht die Lösung der Probleme ist?

Was sich zusätzlich jährlich steigert, sind die Bildschirmzeiten der Jugendlichen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der überbordenden Nutzung der Smartphones und der sozialen Medien und dem Verhalten der Kinder: Immer weniger Aufmerksamkeit, immer weniger Lesekompetenz, immer mehr Kinder mit Förderbedarf.

Ergo: Wir könnten Schulen im Elfenbeinturm haben, ganz ohne Klassenarbeiten, Noten, Sitzenbleiben, dafür mit Lernateliers, bunt gemalten Wänden und Mary Poppins als Lehrerin persönlich. Meine These: Keinem einzigen Kind würde es besser gehen. Vielleicht bliebe das Abschaffen der Schulpflicht als letzte Option. Denn es kann ja nicht sein, dass man das arme Kind an einen Ort schickt, wo es gar nicht sein will.

Rüdiger Vehrenkamp
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Mit Verlaub, die Überforderung der Lehrkräfte entsteht doch genau dadurch, dass Schüler heute wesentlich mehr Zuwendung erfahren und einfordern, als noch zu meiner Schulzeit. Wie viele Schulen hatten denn in den 90er Jahren einen Sozialarbeiter? Wo wurde in den 90er Jahren nach “multiprofessionellen Teams” geschrien? Schulen stellen sich immer professioneller und zugewandter auf, kriegen die Probleme aber (oh Wunder) dennoch nicht gelöst.

Beim Personalmangel bin ich natürlich dennoch bei Ihnen.

potschemutschka
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

“Sozialarbeiter stehen auch nicht für Zuwendung – sondern für Krisenintervention.”???
Das ist ein Widerspruch in sich! Wie soll jemand, egal ob Sozialarbeiter, Lehrer oder sonstwer, einem anderen Menschen in einer Krisensituation helfen/intervenieren, ohne sich dem Betroffenen zuzuwenden? Gerade Sozialarbeiter leisten in solchen Situationen sehr viel Zuwendung – jedenfalls alle, die ich bisher erlebt habe!
Was aber außerhalb von Krisen die Zuwendung betrifft, gebe ich Herrn Vehrenkamp recht, da bekommen die Schüler in der Regel mehr als früher und fordern oft auch mehr ein.

dickebank
1 Monat zuvor
Antwortet  potschemutschka

Die Schüler*innen bekommen die gleiche Zuwendung wie früher. Der Unterschied ist nur der, die Zuwendung, die ihnen zuhause fehlt, versuchen sie in der Schule zu bekommen – und da haben sie halt mehr Kontakt zu Lehrkräften als zu SozPäds, vor allem da die Zahl der SozPäds sehr gering ist.

potschemutschka
1 Monat zuvor
Antwortet  dickebank

Könnte was dran sein! 🙂

RainerZufall
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Leider “stehen” sie wohlmöglich dafür, wobei ich am Ende wahnsinnig dankbar für unsere Schulsozialarbeiterin bin – besonders bezüglich ihrer Angebote zur Prävention im Rahmen des Sozialtrainings.

Nicht nur werden da Einblicke gewonnen und Krisen besprochen, bevor sie in Konflikte ausarten, die Klärung und die Reflexion des Fehlverhaltens lassen sich so schnell und transparent durchführen.

Aber ja, leider viel zu wenig Zeit/ Personal, daher sehr häufig in Krisengesprächen und Konfliktklärung 🙁

Brennpunktschule
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

@Redaktion

Ich glaube, unsere Sozialarbeiter würden stark wiedersprechen. Die arbeiten nämlich zum größten Teil präventiv, machen Beziehungsangebote für alle Schüler usw.
(das würde jetzt hier eine lange Liste…)
Sie arbeiten auch in der Krisenintervention, aber sinnvollerweise nicht zu allererst.

Brennpunktschule
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

@Redaktion
Sie haben die Frage gestellt, ob die Zuwendung an Schulen nachgelassen hat.

Nach meinen Beobachtungen: definitiv nicht. War “früher” (also zu meiner Schulzeit) die Devise “friss oder stirb” und es hat sich niemand darum gekümmert, wie sich der Schüler fühlt, sind die Möglichkeiten für unsere Schüler sehr stark ausgeweitet worden. Es werden viele Angebote gemacht, viele Lehrkräfte kümmern sich hingebungsvoll um die Belange der Schüler.

Die brauchen aber viel mehr von der Schule, da die Elternhäuser häufig nicht mehr die Sicherheit bieten, die sie benötigen.

Teacher Andi
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Und Sie sind also der Meinung, daran sei die grausame Erziehung und Bildung in den Schulen damals schuld? Davon steht nichts im Bericht. Da gibt es unzählige Ursachen. Ich kann jedenfalls von mir behaupten, dass mich die Schule gut vorbereitet und auch tough gemacht hat, man muss im Leben nicht in Watte gepackt werden, denn daraus lernt man nichts und hat eher psychische Probleme wenn man auf das Leben und die Arbeitswelt losgelassen wird. Es gibt im wahren Leben nicht für alles eine App oder KI, man muss schon auch an sich selbst arbeiten.

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Die Frage war wer darüber redet.
Zu 2. : Unter anderem ARD und ZDF, der Spiegel, die Zeit usw.

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Der Anteil Schüler*innen, die die Schule ohne mind. ESA verlassen, schwankt zwischen den 16 Bundesländern um über 100%.

Allerdings wird das Schulsystem des Bundeslandes mit den niedrigsten Quoten junger Menschen ohne Schulabschluss oder Berufsausbildung und der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit auch unter Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit hier gerne als besonders ungerecht bezeichnet.