BERLIN. Der Bund lässt sexualisierte Gewalt an Schulen wissenschaftlich erfassen: Eine neue Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat 133 bestürzende Berichte von Betroffenen gesammelt und ausgewertet – die Dokumentation zeigt, wie unzureichend Schulen über Jahrzehnte hinweg auf Hinweise reagiert haben.

Die Mädchen waren wütend. Und verzweifelt. Mitten in den 1990er-Jahren suchten mehrere Sechstklässlerinnen ihren Beratungslehrer Björn auf. Ein beliebter Sportlehrer kam immer wieder in ihre Umkleide – genau dann, wenn sie sich umzogen. Zuerst einmal im Monat, später beinahe jede Woche. Die Mädchen hatten ihn angesprochen: „Wir möchten nicht, dass Sie zu uns in die Umkleide kommen.“ Der Lehrer lachte nur. Und betrat die Kabinen weiterhin.
Die Mädchen wandten sich an ihre Klassenlehrerinnen – die winkten ab. „Das passiert halt mal aus Versehen.“ Die Eltern glaubten ihnen nicht. Der Kollege galt als angenehm, sportlich, freundlich, unauffällig. Und genau deshalb wäre die Geschichte vielleicht niemals aufgeklärt worden. Doch Björn glaubte ihnen. Er war Beratungslehrer – und er spürte ihre Not.
Er wollte Klarheit. Also versteckte er sich in einem Geräteraum gegenüber den Umkleiden. Was er sah, bestätigte jede Schilderung: Der Sportlehrer betrat ohne anzuklopfen die Mädchenkabine, entschuldigte sich halbherzig – und tat dasselbe in der nächsten Kabine. Es war gezielt. Es war geplant. Und es war eindeutig ein Machtmissbrauch gegenüber Schutzbefohlenen.
Björn suchte das Gespräch, nicht allein, sondern mit einer Kollegin. Der Sportlehrer reagierte cholerisch. Er warf Björn vor, zu „spinnen“, relativierte die Situation mit den Worten, die Mädchen liefen ja „oben ohne im Freibad herum“. Björn hielt dagegen – vergeblich. Die Schulleitung stellte sich hinter den Kollegen. Sie glaubte Björn nicht. Er sei „übersensibilisiert“. Und dann folgte jener Satz, der so oft in Missbrauchsfällen fällt: „Du machst den Ruf unserer Schule kaputt.“
Die anschließende Konferenz wurde für Björn zur Erniedrigung. Über die Übergriffe wurde nicht gesprochen. Stattdessen warf man ihm „Formfehler“ vor. Er musste sich bei dem übergriffigen Sportlehrer entschuldigen. Kolleginnen mieden ihn. Der Personalrat sagte zu ihm: „Ob Ihnen bewusst ist, dass Sie sein Leben hätten zerstören können?“ Björn antwortete: „Es ist durchaus kollegial, Fehlverhalten von Kollegen anzusprechen. Unkollegial ist es, solche Vorgänge zu ignorieren und unter den Teppich zu kehren.“
„Wenn wir die Strukturen verstehen, die Missbrauch begünstigen, dann können wir Kinder und Jugendliche zukünftig besser schützen“
Offenbar kein Einzelfall. Die Schilderung von Björn ist Teil der Studie „Sexualisierte Gewalt und Schule“, die die Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs nun vorgelegt hat. Dafür wurden 133 Berichte von Menschen ausgewertet, die zwischen 1949 und 2010 sexualisierte Gewalt in Schulen erlebt haben oder nicht durch das Lehrpersonal vor Missbrauch geschützt wurden.
Die Studie – die ausdrücklich keine Aussagen über die Verbreitung solcher Fälle trifft – zeigt, wie problematisch der Umgang mit sexualisierter Gewalt in Schulen war und ist. Die zentralen Ergebnisse weisen darauf hin, dass knapp 80 Prozent der Betroffenen weiblich waren und dass die große Mehrheit der Täter männliche Lehrkräfte oder Schüler. In nahezu der Hälfte aller Fälle zogen sich die Übergriffe über ein Jahr oder länger hin. Besonders gravierend ist der Befund, dass in vielen Situationen niemand eingriff, obwohl – im Fall übergriffiger Lehrkräfte – Kolleginnen und Kollegen durchaus Bescheid wussten.
Prof. Julia Gebrande, Vorsitzende der Kommission, sagt: „Wenn wir die Strukturen verstehen, die Missbrauch begünstigen, dann können wir das System Schule weiterentwickeln und Kinder und Jugendliche zukünftig besser schützen.“
Der Fall der Schülerin „Maja“ zeigt exemplarisch, wie tief das institutionelle Versagen reicht: Ein Oberstufenkoordinator, dessen Nähe zu Jugendlichen auch der Schulleitung bekannt war, lud Maja kurz vor dem Abitur zu sich nach Hause ein – angeblich, um ihre Noten zu besprechen. In Wahrheit lockte er sie ins Schlafzimmer, drückte sich erregt an sie und versuchte, seine Hose zu öffnen. Maja floh. Fast noch schlimmer als die Tat war für sie das Gefühl der Ohnmacht: „Meine Eltern hätten mir nicht geglaubt. Ein Studienrat macht so was nicht“, sagt sie. Und: „Die Schulleitung wusste ja Bescheid über sein Verhalten und hat nie etwas unternommen.“
Die Studie zeigt: Was Maja erlebt hat, folgt einem Muster. Einer der zentralen Befunde lautet, dass sich in vielen Fällen Kollegien und Schulleitungen weigerten zu handeln. In einem Bericht heißt es, es sei „darum gegangen, einen Skandal zu vermeiden“. Eine Lehrerin beschreibt die Haltung ihrer Schulleitung mit den Worten: „Hauptsache, er geht nicht an die Presse. Das ist erst mal das Wichtigste.“ Immer wieder dokumentiert die Studie sogenannte geografische Lösungen: Lehrkräfte wurden versetzt oder erhielten Aufhebungsverträge, damit sie andernorts „als unbescholten neu anfangen“ konnten.
Insgesamt registrierte die Kommission 48 Fälle, in denen Lehrkräfte oder Schulleitungen trotz klaren Wissens keinerlei Hilfe leisteten, und 26 Fälle, in denen Lehrkräfte tatsächlich aktiv halfen. Das bedeutet allerdings: In fast doppelt so vielen Fällen wurde weggeschaut wie geholfen.
Überforderung im Kollegium – und die Angst vor Folgen
Viele Lehrkräfte wussten laut Studie nicht, wie sie reagieren sollten. Eine Kollegin im Fall Björn sagte schlicht: „Da bin ich überfordert.“ Eine Fachberaterin beschreibt die Situation so: „Sie unternehmen nichts, weil sie befürchten, dann mit einem halben Bein im Knast zu stehen.“ Manche Referendarinnen meldeten Fälle erst nach bestandener Prüfung – aus Sorge um Beurteilungen. In einem Fall schrieb die Schulleitung den Namen einer betroffenen Schülerin „nicht einmal auf“. Zwar gab es auch Lehrkräfte, die mutig handelten, nachfragten und Unterstützung organisierten – doch sie blieben die Ausnahme.
Die Bundesregierung hat auf frühere Missbrauchsskandale reagiert. So veröffentlichte die Kultusministerkonferenz bereits 2010 Handlungsempfehlungen, es folgte 2016 die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“, die in Kooperation mit allen 16 Bundesländern umgesetzt wurde. 2023 wurde der Leitfaden „Kinderschutz in der Schule“ vorgestellt, der Prävention, Intervention und klare Meldewege detailliert beschreibt. Zudem haben einige Bundesländer eigene Dienstanweisungen erlassen – etwa Nordrhein-Westfalen, wo Schulleitungen verpflichtet sind, bei jedem Verdachtsfall unverzüglich die Schulaufsicht zu informieren.
„Alle Akteure im Bereich Schule müssen anhand klarer Kriterien transparent intervenieren und die Vorfälle aufarbeiten, sobald sexuelle Übergriffe in der Schule bekannt werden“
Doch die aktuelle Studie zeigt auch: Papier allein schützt keine Kinder. In vielen Schulen fehlen gelebte Schutzkonzepte, unabhängige Beschwerdestellen sowie klare und verbindliche Abläufe für Verdachtsfälle. Vor allem aber mangelt es vielerorts an einer Schulkultur, in der Kinder und Jugendliche mit ihren Sorgen und Offenbarungen tatsächlich ernst genommen werden. Und es fehlt an Wissen um die Mechanismen von Missbrauch.
„Alle Akteure im Bereich Schule müssen anhand klarer Kriterien transparent intervenieren und die Vorfälle aufarbeiten, sobald sexuelle Übergriffe in der Schule bekannt werden – auch wenn sie schon länger zurückliegen. Dafür brauchen sie Kompetenzen, um Anzeichen von Missbrauch wahrzunehmen, einzuordnen und angemessen zu handeln. Deshalb muss Kinderschutz Teil der Aus- und Weiterbildung für Lehrkräfte werden“, fordert Mitautorin Prof. Edith Glaser.
Lehrer Björn zahlte für sein Handeln einen hohen Preis: Er galt im Kollegium fortan als Nestbeschmutzer. Doch immerhin: Die Übergriffe hörten auf. Die Mädchen hatten endlich Ruhe – dank eines Erwachsenen, der hinschaute. News4teachers
Hier lässt sich die vollständige Studie herunterladen.
Nach Missbrauchsfällen: Schulleiter (der vom Gericht hart kritisiert wurde) tritt zurück








