Inklusion: Eine Schule für alle

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Von KATJA GARTZ

BERLIN. Seit 1975 lernen in der Fläming-Grundschule behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam. Von Anfang an gehörte zum Konzept, den Bedürfnissen aller Schüler gerecht zu werden. Damit ging die Schule schon von Beginn an über Integration hinaus und setzte auf Inklusion.

Wenn es im Unterricht um Kühe, Schweine und Schafe geht, überlegen sich einige Schüler, wie groß ein Stall sein muss, andere berechnen die Futtermenge. Manche ertasten mit ihren Fingern verschiedene Felle, fühlen, welches hart und welches weich ist, und entdecken mit ihrer Nase, wie Heu riecht.

Unter den Kindern haben einige Verhaltensstörungen, Lernschwierigkeiten, genetische Syndrome, andere sind geistig behindert oder hochbegabt. Manche sitzen im Rollstuhl, sind blind, können nicht sprechen oder leiden an seltenen Stoffwechselerkrankungen oder der Glasknochenkrankheit. Von rund 580 Schülern der Berliner Fläming-Grundschule haben knapp 14 Prozent einen sonderpädagogischen Förderbedarf. In dieser Schule lernen sie gemeinsam.

Enge Zusammenarbeit von Lehrern und Erziehern

In der Fläming-Schule gibt es pro Jahrgangsstufe eine Klasse, in der behinderte und nichtbehinderte Kinder nach dem Fläming-Modell integriert werden. Das heißt, in Klassen mit maximal 20 Kindern lernen bis zu fünf behinderte Schüler. Je nach Behinderung wird der Lehrer von ein oder zwei Erziehern unterstützt. „Während ich mit einer Gruppe Aufgaben durchgehe, sind die Erzieherinnen für Schüler da, die stärker gefördert werden“, sagt Lehrerin Gudrun Haase. Für die Sonder- und Theaterpädagogin ist die Zusammenarbeit mit Erziehern der beste Weg, um behinderte Kinder zu integrieren: „Einige sind unruhig, wollen besonders intensiv betreut werden, andere müssen gefüttert oder gewickelt werden. Allein könnte ich mich nicht um alle kümmern.“

Gemeinsamer Unterricht ist in Deutschland immer noch die Ausnahme. Foto: Albrecht E. Arnold / Pixelio
Gemeinsamer Unterricht ist in Deutschland immer noch die Ausnahme. Foto: Albrecht E. Arnold / Pixelio

Erzieher schlichten Konflikte, trösten die Kinder und sorgen dafür, dass sie sich wohl fühlen. Sie ergänzen den Unterricht mit Psychomotorik-, mit Musik-, Kunst- und Spielkursen. Sie richten sich dabei nach den Defiziten der Kinder. Beispielsweise können ein schiefer Gang mit gezielten Übungen oder Sprachstörungen durch Singen verbessert werden. Haus- und Klassenarbeiten korrigieren alle drei Betreuerinnen gemeinsam. Rund 100 Pädagogen gehören zum Kollegium der Ganztagsgrundschule, darunter sind 36 Lehrer, acht Sonderpädagogen und 37 Erzieher. Aufzüge machen das Gebäude barrierefrei, es gibt extra Räume für Einzelunterricht und die breiten Flure nutzen Schüler in kleinen Gruppen, um gemeinsam Aufgaben zu erarbeiten. In der frisch sanierten Turnhalle ist nun endlich wieder genug Platz für Bewegung, Tanz- und Theaterprojekte, die an dieser Schule zum Konzept gehören.

Projektorientierter Unterricht

Teil des Fläming-Modells ist auch die enge Zusammenarbeit der Lehrer. Die Sonderpädagogen beraten und unterstützen andere Lehrer, außerdem nehmen alle regelmäßigen Fortbildungen teil. Zudem helfen Ambulanzlehrer Sehbehinderten und Blinden. „Ohne ein engagiertes und erfahrenes Team, ausreichend Personal und Ressourcen könnten wir keine Lernumgebung schaffen, die allen Kindern gerecht wird“, sagt Schulleiterin Rita Schaffrinna. Der Unterricht ist projektorientiert, so differenziert, dass sowohl die Bedürfnisse der lernschwachen als auch die der lernstarken Schüler berücksichtigt werden. Nach der Schulleiterin nutze dieses Schulkonzept allen. Behinderte werden nicht aussortiert, Nichtbehinderte lernen, mit ihnen umzugehen.

Die ehemalige Schulleiterin Elke Hübner kämpfte viele Jahre gemeinsam mit Eltern, Erziehern und Lehrern für die Integration. Das Fläming-Modell wurde von ihr mitentwickelt und durchgesetzt. „Wir wollen die Schule für die Kinder passend machen, nicht umgekehrt“, sagt sie. Als erste Schule der Bundesrepublik richtete die Fläming-Schule 1975 Integrationsklassen ein. Das „Flaggschiff“ unter den Integrationsschulen wurde 1997 von der OECD ausgezeichnet.

Von Beginn an ging das Schulkonzept „Eine Schule für alle“ über integrative Pädagogik hinaus und setzte stattdessen auf Inklusion. Die inklusive Pädagogik hat sich zwar aus der integrativen entwickelt, weist aber entscheidende Unterschiede auf. Während bei der Integration deutlich zwischen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und jenen ohne unterschieden wird, beruft sich die Inklusion auf die Menschenrechte und fordert, dass die Schule den Bedürfnissen aller Schüler gewachsen sein soll. Der österreichische Inklusionswissenschaftler Walter Krög weist ebenfalls darauf hin: „Während im Begriff Integration noch ein gesellschaftlicher Ausschluss mitschwingt, bedeutet Inklusion Mitbestimmung und Mitgestaltung für alle Menschen ohne Ausnahme.“ Nach der 2009 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention hat jedes behinderte Kind das Recht auf gemeinsamen Unterricht mit Nichtbehinderten.

„Von der inklusiven Schule profitieren alle“

Dennoch prägt eher die Selektion das deutsche Bildungssystem. Schüler werden nach der Grundschule beurteilt und dann auf Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien verteilt. Wer den Anforderungen dieser Schulzweige nicht entspricht, wird auf eine Sonderschule verwiesen. Im Vergleich mit anderen Bundesländern werden in Berlin immerhin mehr als 40 Prozent aller behinderten Kinder zusammen mit nichtbehinderten unterrichtet, deutschlandweit sind es 20 Prozent.

Um aus der inklusiven Schule mehr als eine Utopie und mehr als eine Insellösung zu machen, brauche es nach dem Pädagogikprofessor Ulf Preuss-Lausitz von der Technischen Universität Berlin eine Revolution des Bildungssystems. Nicht nur die Lehreraus- und -fortbildung müsse sich ändern, auch Lehrer aller Schultypen sowie Eltern müssten erkennen, dass sie mit der inklusiven Schule nichts verlieren, sondern gewinnen. Er geht davon aus, dass ein inklusives Schulsystem langfristig nicht mehr koste als die Aufteilung in die verschiedenen Schultypen. Die Schulleiterin der Fläming-Grundschule ist von dem Konzept der Inklusion überzeugt. „Wir probieren, die Welt von der Basis aus zu ändern“, sagt Rita Schaffrinna. Sie bedaure, dass es in Berlin keine weiterführenden Inklusionsschulen gibt.

Aus: Klett Themendienst 08/2011

 

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