Wird das „Rügener Inklusionsmodell“ maßlos überschätzt? Ministerielle Euphorie durch Forschungsdaten nicht gedeckt

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ROSTOCK. Michael Felten war Lehrer, genauer: Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst, und er lehrt an der PH Heidelberg. Darüber hinaus ist er Kolumnist in der Wochenzeitung „Die Zeit“ und Buchautor – und er pointiert. Sein Buch „Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert“ ist eine schonungslose Abrechnung mit der Praxis des gemeinsamen Unterrichts. Dabei ist Felten gar kein Gegner schulischer Inklusion. Aber er wagt auszusprechen, was viele ahnen und nicht wenige Lehrkräfte bitter erleben: So, wie es läuft, läuft es falsch.

Im folgenden Gastbeitrag nimmt er sich einer unlängst erschienenen Studie zum „Rügener Inklusionmodell“ an, die Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Birgit Hesse (SPD) zu dem Fazit gebracht hatte: „Die Lernfortschritte der Rügener Schülerinnen und Schüler belegen, dass das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen gelingt.“ Diese Euphorie, so Felten, wird durch die Forschungsdaten aber nicht gedeckt.

Die Forscher haben Schüler an Inklusionsschulen sowie an Förderschulen getestet. Foto: pixabay
Wie kann die schulische Inklusion gelingen? Klar ist wohl: Nur mit mehr Personal als bisher. Foto: pixabay

Ein Gastbeitrag von Michael Felten

Bereits seit 2010 läuft auf der Ostseeinsel ein für die Inklusionsdebatte bedeutsames Forschungsprojekt, das »Rügener Inklu­sionsmodell« (RIM). Dabei  wurden zunächst vier Jahre lang alle Grundschulklassen auf der Ostseeinsel nach einem spezifischen Unterrichts- und Förderkonzept unterrichtet (RTI, response to intervention). Seit 2014 konnten dann diejenigen Grundschüler, bei denen sich besonderer Förderbedarf gezeigt hatte, weiterführende Regelschulen auf Rügen („Regionale Schulen“) besuchen, die wichtige Förderelemente des Grundschulkonzepts fortsetzten: individualisierte Lernförderung im Deutsch- und Mathematikunterricht, gezielter Förderunterricht durch Fachlehrkräfte, Lernfortschrittsdiagnostik und Förderplanung im Team sowie Intensivförderung durch Sonderpädagogen.

Dieses Projekt ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen handelt es sich um einen Flächenversuch, zum anderen existieren bislang kaum belastbare Daten über die Wirksamkeit inklusiver Beschulung in der Sekundarstufe. Leider kann die Begleitforschung durch die Uni Rostock dieses Defizit nicht wirklich beheben. Schon die Bewertung der Befunde nach der Grundschulphase geriet in Administration wie Presse arg euphemistisch. Nach zwei weiteren Jahren steht nun der optimistische Tenor der offiziellen Presseerklärung in besonders deutlichem Kontrast zum Forschungszwischenbericht nach Klasse 6. Ein genaueres Hinschauen lohnt sich.

Studie: Inklusion ist erfolgreich (wenn die Bedingungen stimmen) – im Großen und Ganzen. Einzelne Schüler tun sich allerdings schwer

Worum handelt es sich bei dem auf Rügen angewandten Kon­zept RTI? Die Lehrer arbeiten hierbei mit evidenzbasierten, also seitens der Forschung als besonders effektiv eingeschätzten Unterrichtsmethoden und Fördermateri­alien, sie führen regelmäßig Lernstandsmessungen durch und sind im Sinne einer Mehrebenenprävention tätig. Das heißt: Man wartet mit unterstützenden Maßnahmen nicht solange, bis Kinder gescheitert sind (»wait to fail«), sondern schaut mittels Tests ständig nach, wo stoffliche Lücken entstehen und welche besonderen Hilfen benötigt werden. Die Lern- und Verhaltensentwicklung der Kinder wird also regelmäßig kontrolliert, und sobald diese vom re­gulären Unterricht nicht mehr ausreichend profitieren, wird ihre Förderung schrittweise intensiviert – bis sich wieder Lernfortschritte einstellen.

Grundschulphase

Nach Auswertung der Grundschulphase sah das Ministerium Schwerin im  Juni 2015 eine positive Wirksamkeit von gemeinsamem Unterricht als belegt: Bei Kindern mit hohem Förderbedarf seien „positive Effekte im Bereich Lernen, tendenziell positive Effekte im Bereich emotional-soziale Entwicklung und im Bereich Sprache gleichwertige Fördererfolge wie in bisherigen Beschulungsformen zu verzeichnen“. Besonders erfreulich sei, dass lernschwache Kinder auf Rügen bereits nach drei Schuljahren die Schulleistungen erreichten, die vergleichbare Kinder der Kontrollgruppe Stralsund erst nach vier Jahren erzielen. Das Rügener Beschulungskonzept beuge zudem sonderpädagogischem Förderbedarf regelrecht vor, denn in der Kontrollgruppe sei die Förderquote am Ende der Grundschulzeit dreimal so hoch wie in Rügen. Negative Effekte von Inklusion auf Schulleistungen und Entwicklungsstand der Regelschüler seien auszuschließen. Hingegen habe sich das Sozialverhalten insgesamt  gebessert, die Rügener Kinder seien dabei besonders selten „verhaltensauffällig“ und besonders häufig „prosozial“. Die Akzeptanz dieser Inklusion sei bei den beteiligten Lehrkräften hoch, allerdings in der Grundschule „etwas geringer“ ausgeprägt.

Nun wäre auch höchst verwunderlich, wenn der Einsatz spezifischer Unterrichtsmethoden und Fördermateri­alien sowie eine planvolle und intensivierte Individualförderung keinerlei positive Wirkung auf die Leistungs- und Sozialentwicklung von Kindern hätte. Insofern stellen die Befunde von RIM zunächst einmal ein wichtiges Plädoyer für die Sicherung und Steigerung unterrichtlicher Basisqualitäten dar. Jede weitergehende Euphorie steht allerdings auf wackligen Füßen. So wurde die ohnehin schmale Datenbasis des Projekts durch eine Vielzahl zwischenzeitlicher Zu- und Wegzüge, Zurückstufungen oder Umschulungen zusätzlich reduziert.  Sodann wurde einem möglichen Einfluss von Umfeldfaktoren wie „ländlich-insular“ vs. „städtisch“ nicht nachgegangen – dabei könnten sich traditioneller geprägte Herkunftsmilieus durchaus entwicklungsförderlich auswirken. Außerdem wurde auf Rügen auch keineswegs totale Inklusion praktiziert: Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen etwa gehörten gar nicht zum Versuch oder verließen ihn, und es gab jede Menge Klassenwiederholungen.

Aber die veröffentlichten Zahlen trügen auch erheblich. So erzielten – was offiziell unerwähnt blieb – die nicht behinderten Schüler der Stralsunder Kontrollgruppe (also aus Regelschu­len) in Mathematik bessere und in Rechtschreibung etwas bessere Leistungen – und das, obwohl das Vorwissen der Rügener Kinder höher gelegen hatte. Und der immens ungünstig erscheinende sonderpädagogische Förderbedarf in der nicht inklusiven Kontrollgruppe (3 : 1) relativiert sich doch arg, wenn man bedenkt, dass Klassenwiederholer sowie alle Schüler mit Teilleistungsstörungen bei dieser Angabe nicht berücksichtigt wurden – mit diesen aber fällt in Stralsund nur 1,6 mal so häufig Förderbedarf an wie auf Rügen. Eine Art Schönreden von Studienbefunden, das sich weder durch die Suche nach Sparpotentialen  im Bildungsbereich noch den Verweis auf menschenrechtliche Aspekte der Inklusionsidee legitimieren lässt! Im übrigen halten die Forscher die Förderbedarfe vieler beeinträchtigter Schüler für dramatischer als die von Amts wegen erteilten Diagnosen.

Wir brauchen jetzt eine breite Debatte über die Inklusion – sonst droht ihr das Schicksal von G8

Ebenfalls unter den medialen Tisch fiel: Das verhalten positive Ergebnis des Rüge­ner Projekts war nur unter ungeheu­rer zeitlicher Belastung der Lehrerschaft zu erreichen – sogar die gemeinhin inklusionsfreundliche GEW sah sich zum Protest genö­tigt. Und es waren auch nicht nur einige Lehrer, die dem Fördercharakter der Maßnahmen skeptisch gegenüberstanden – es war die Hälfte. Verblüffendes Detail am Rande: Radikale Inklusionisten zeigten sich keineswegs über die Befunde aus Rügen erfreut, sie kritisierten das Konzept als Wider­spruch zur Inklusionsidee  –  die Methodik RTI sei primär auf Defizite fo­kussiert, technokratisch, testwütig, letztlich erneut segregie­rend.

Sekundarphase

Mittlerweile liegen neue Befunde nach Absolvieren der fünften und sechsten Klassen vor. Für das Bildungsministerium in Schwerin wieder ein Grund zu deutlichem Optimismus: „Sowohl die Lese- als auch die Mathematikleistungen der förderbedürftigen Kinder nähern sich dem normalen Leistungsstand von Fünft- und Sechstklässlern an. Die Leistungsfortschritte förderbedürftiger Kinder entsprechen in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Mathematik üblichen Leistungssteigerungen innerhalb eines Schuljahres.“ Nur eine kleine Gruppe von Kindern profitiere „in einzelnen Förderbereichen noch nicht ausreichend von dem inklusiven Fördersystem“. Das klingt nahezu wundersam. Bei genauerem Hinsehen drängt sich allerdings der Eindruck eines Regierungsfakes auf.

Denn: Fragestellung und Rahmenbedingungen des Projekts in der Sekundarstufe wurden gegenüber der Grundschulphase völlig verändert: Keine Spur mehr von einer separativen Kontrollgruppe (Förderschule), mit der die Entwicklung der inklusiv beschulten Kinder hätte verglichen werden können. Und ab Klasse 5 wurden auch keine Befunde mehr dazu erhoben, wie sich RIM auf die übrigen, nun älteren Regelschüler auf Rügen ausgewirkt hatte. Zudem war die untersuchte Schülergruppe derart klein, dass laut Uni-Bericht die Befunde „aufgrund des geringen Normstichprobenumfangs verzerrt sein“ könnten.

Und selbst das, was untersucht wurde, erscheint unklar bis wenig erfreulich. Unter den Fünftklässlern etwa (also den Wiederholern eines Grundschuljahres) kam es bei einem Drittel (Mathematik) bzw. der Hälfte (Deutsch) trotz eines Wiederholungsjahrs in der Grundschule zu Leistungsabnahme bzw. -stagnation – im Durchschnitt nennen die Forscher das gleichwohl noch „vertretbare Lernfortschritte“. Auch die Sechstklässler erzielten nur im Mittel „sichtbare“ Lernfortschritte in allen Bereichen, und auch das nur auf dem Niveau fünfter Klassen – aber im Lesen zeigten 40% und in Mathematik die Hälfte der Kinder stagnierende oder gar rückläufige Leistungstrends.

Eine drastischere Differenz zum eingangs genannten Amtssprech ist nur schwer vorstellbar. Die Befunde des Projekts „Rügener Inklusionsmodell“ rechtfertigen keineswegs „eine Schule für alle“, sondern zeigen lediglich, dass ein gut ausgestattetes, längeres gemeinsames Lernen Vorteile für viele (in der Grundschule) bzw. für manche (in der Sekundarstufe) bringt.

Anscheinend ist jede Polarisierung „Inklusionsschule vs. Förderschule“ unangebracht. Wir müssen vielmehr lernen, in einem dynamischen Sinne „dual-inklusiv“ zu denken (Otto Speck): Kindern mit besonderen Entwicklungsstörungen brauchen phasenweise, bisweilen auch durchgängig ganz besondere sonderpädagogische Expertise. Die Übergänge zwischen Förder- und Regelschulen gilt es deshalb erheblich zu flexibilisieren.

Hier geht es zu der Berichterstattung von News4teachers zur Studie.

Gastbeitrag zur Inklusion: “Nicht eine Schule für alle, sondern für jedes Kind die beste!”

 

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1 Kommentar
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xxx
6 Jahre zuvor

Da in solchen Beiträgen in der Regel nicht die volle Wahrheit geschrieben wird, sind die Ergebnisse von Herrn Felten nichts anderes als eine schallende Ohrfeige für alle, die in der Inklusion das Allheilmittel gesehen haben.

Bei den weiterführenden Schulen wurden die Ergebnisse durch geeignete Vorauswahl der Testbedingungen — man könnte sogar schon von Manipulation schreiben — sogar noch extrem geschönt. Unter Beteiligung der Gymnasien, Einbeziehung von geistigen Behinderungen und einem finanzierbaren Betreuungsschlüssel sähe das Ganze sicherlich noch viel dramatischer aus. Warum man Landkinder mit Inklusion mit Stadtkindern ohne Inklusion vergleicht, möge man mir auch mal erklären, besonders im Hinblick dass die Stadtkinder die Landkinder überholen konnten.