STUTTGART. Droht der «Untergang des Abendlandes», wenn weitere Gemeinschaftsschulen genehmigt werden? Nach Meinung der Opposition im baden-württembergischen Landtag aus CDU und FDP offenbar schon. Sie heizen den Meinungskrieg um die «Schule für alle» an – ein Wahlkampfthema im Ländle, das eine bundesdeutsche Debatte aus den 70-er Jahren wiederbelebt.
Ein Bericht über Probleme an einer Tübinger Gemeinschaftsschule hat für Zündstoff im baden-württembergischen Landtag gesorgt. Die zuerst von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) aufgegriffene Evaluation von zwei Klassen dieser Schule zeigt aus Sicht der Opposition gravierende Mängel der gesamten Schulart. Sie mahnte bei Kultusminister Andreas Stoch (SPD), der die FAZ mittlerweile verklagt hat, sofortige Korrekturen an, anstatt eine vollständige Expertise abzuwarten. Der CDU-Abgeordnete Volker Schebesta sagte am Mittwoch im Plenum in Stuttgart: «Wenn Sie warten bis nach der Wahl, dann machen Sie Politik auf dem Rücken der Kinder – wir fordern Veränderungen sofort.»
Die grün-rote Koalition hält es hingegen für unseriös, aus einer Einzelbetrachtung generelle Schlüsse zu ziehen. Sie will abwarten, bis der Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung an zehn Gemeinschaftsschulen Mitte 2016 veröffentlicht ist. Die Opposition schlachte das Thema für den Wahlkampf aus. Stoch sprach von «Zerrbildern», die die Opposition zu verbreiten versuche. Die Gemeinschaftsschule sei das einzig Richtige, um auch im ländlichen Raum Schüler optimal fördern zu können.
Die Grünen-Bildungsexpertin Sandra Boser sagte in Richtung der Opposition: «Sie nehmen jeden Strohhalm in die Hand gegen die Gemeinschaftsschule.» Zahlreiche Lehrer, Schüler und Eltern seien von der «Schule für alle» überzeugt. Trotzdem sei zu befürchten, dass CDU und FDP im Fall eines Regierungswechsels die von Grün-Rot eingeführte Schulart abschaffen wollten. CDU-Politiker Schebesta hob hingegen hervor: «Nur weil am 13. März eine Wahl stattfindet, werden wir nicht davon absehen, was Kinder nutzt und was nicht.» Bildungspolitik werde eine große Rolle im Wahlkampf spielen.
Derzeit gibt es 271 Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg. Der Herausforderer von Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Guido Wolf, hat die Weiterexistenz der Schulform infrage gestellt. Die Tübinger Gemeinschaftsschule gehört zu den Vorreitern. Der 37-seitige Bericht über die Arbeit von zwei Klassen an dieser Schule war durch die FAZ im August publik geworden – im Blatt war behauptet worden, das Kultusministerium halte den Bericht zurück. Das Kultusministerium hatte nach eigenen Angaben diese Teil-Evaluation aber nicht vorliegen und hat deshalb nun die FAZ verklagt.
Unabhängig davon: In der Evaluation wird insbesondere die Effizienz des zentralen Konzeptes des individuellen Lernens infrage gestellt. Die Lerntagebücher, in denen die Schüler ihre Lernerfolge eintragen sollen, würden offenbar nur als Taschenkalender genutzt, wie der FDP-Abgeordnete Timm Kern kritisierte. Gerade die weniger Leistungsstarken seien die Opfer einer «waghalsigen grünen Bildungsutopie» und einer Pädagogik, die ganz auf selbstständiges Arbeiten setze.
CDU-Mann Schebesta sieht seine Forderung nach Leistungsstufen in der Gemeinschaftsschule durch den «erschreckenden» Bericht bestätigt. Die engen Vorgaben für Gemeinschaftsschulen, etwa neben dem durchgängig gemeinsamen Lernen der Verzicht auf Noten, müssten gelockert werden. «Etwas Selbstkritik würde Ihnen gut anstehen», schrieb er Stoch ins Stammbuch. Auch der Liberale Kern forderte, rasch «erhebliche Qualitätsmängel» an der Schulart zu beseitigen.
Nach Worten Stochs sind die vorläufigen Erkenntnisse in der Tübinger Schule bereits beachtet worden. Insgesamt stünden den Lehrern Fortbildungen, Fachberatung und Hilfe durch die Schulverwaltung zur Verfügung. «Das ist auch in diesem Fall passiert.» Allerdings räumte er auch ein: «Eine neue Schulart einzuführen, geht nicht auf Kopfdruck.» Die nicht-autorisierte Veröffentlichung des 37-Berichts aus der Tübinger Schule trage dazu bei, dass wichtige wissenschaftliche Begleitforschung unmöglich gemacht werde.
Übrigens: Die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel hat kürzlich eine Gesamtschule mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.
news4teachers / mit Material der dpa
Ja, bei gleichen Bildungschancen hört die christliche Nächstenliebe ebne auf, man muss da auch einmal Prioritäten setzen dürfen.
Es gibt viele verlogene Begriffe in der Bildungspolitik. Zu den Spitzenreitern gehört die Mär von den „gleichen Bildungschancen“ bzw. der „Chancengleichheit“.
In diesem Zusammenhang irgendwem christliche Nächstenliebe abzusprechen, ist pure Polemik. Erneut empfehle ich diesen Artikel, der zumindest zeigt, dass die Dinge auch anders betrachtet werden können, als Sie sie mit den den viel zitierten, leider aber nur leeren Schlagworten darstellen möchten.
https://ef-magazin.de/2015/09/28/7583-gleichmacherei-im-namen-der-chancengleichheit
Rund 40 Prozent unseres späteren Einkommens, so eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, lässt sich statistisch mit unserer Herkunft (= Elternhaus) erklären. Beim Bildungserfolg beträgt der Zusammenhang sogar rund 50 Prozent. Intelligenz oder Leistung spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Fazit: In Deutschland „besteht kaum Chancengleichheit“. Man könnte auch sagen: Wir haben hier ein besseres Kastenwesen. Dieses wird durch ein gegliedertes Schulsystem, bei dem zu einem großen Teil nach Herkunft gesiebt wird, zementiert. Der bildungspolitische Mythos ist nicht die (anzustrebende) Chancengerechtigkeit, der Mythos lautet, dass es beim gegliederten Schulsystem allein um Leistung und Intelligenz geht. Tut es eben nicht.
Zur politschen Ausrichtung des DIW gibt es Hinweise und Dementis z.B. in
http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/oekonomie/nachrichten/diw-vize-weizsaecker-die-schmeissen-mit-dreck/6722172.html
Warum sollten Eltern daran gehindert werden, ihre Kinder zu fördern? Chancengleichheit wird es somit nie geben.
Es geht nicht um Chancengleichheit, sondern um Chancengerechtigkeit – und die kann man politisch anstreben, um zum Beispiel über schulische Förderung einen gewissen Ausgleich für fehlende familäre Förderung hinzubekommen. Oder eben nicht. Allerdings gibt es nicht nur sozialpolitische Gründe, warum ein Staat den sozialen Aufstieg durch entsprechende Rahmenbedingungen unterstützen sollte – es geht um das Leistungsprinzip. Wenn sich (Bildungs-)Leistung nicht lohnt, weil die Karriere sowieso vor allem durch die Herkunft bestimmt wird, dann muss sich auch keiner mehr anstrengen.
Humboldt war im Königsberger Schulplan der Vordenker der Gemeinschaftsschule — denn dem Tischler kann es auch nicht schaden, mal Latein oder Griechisch gehabt zu haben, so Humboldt anno 1806.
Daher kann es nur eine Schulform geben: Das Gymnasium, daneben keine weiteren Schulformen die durch zu frühe berufliche Bildung nur davon abhalten, einen vollständigen Bürger auszubilden.
So sagte Humboldt auch, die beruflichen Wünsche, Interessen und Begabungen eines Kindes sind doch lange unbestimmt, nicht das nachher Verbildungen geschehen, weil ein künftiger Handwerker zu lange in Gelehrtenschulen und ein künftiger Forscher zu lange in Berufsschulen verbringt.
Übrigens: Gesamtschule ist keine Gemeinschaftsschule. Beschämend, dass ein Artikel auf einer Lehrer-Plattform hier nicht unterscheiden kann.
Ja und? Gesamtschule ist ja nicht einmal Gesamtschule.
Eine IGS ist eine andere Schulform als eine KGS. In NRW ist die Sekundarschule eine GeS ohne GOSt und eine Gemeinschaftsschule eine KGS ohne GOSt. Die KGS ist in NRW ein Tabu, weil sie als KOOP-Schule durch die CDU politisch verbrant worden ist. Deshalb musste der von B. Sommer initierte von von S. Löhrmann zugelassenen Schuleversuch ja auch Gemeinschaftsschule heißen und durfte keine Oberstufe haben. Bildungspolitische Grabenkämpfe erzielen halt nur minimale Raumgewinne. – Also vorwärts Kameraden, wir gehen zurück:)
Liebe/r Stine,
nur weil wir eine Nachrichtenseite für Lehrer anbieten, sind wir nicht fehlerfrei. In der Hektik des Tagesgeschäfts gehen uns immer wieder Böcke durch, auf die uns freundlicherweise unsere Leser/Lehrer ja dann auch hinweisen. Allerdings: In diesem Beitrag vermögen wir keinen Fehler zu entdecken, schon gar keinen „beschämenden“. Wir haben die Bezeichnungen „Gemeinschaftsschulen“ und „Gesamtschulen“ u. E. völlig korrekt in ihren jeweiligen Bezügen wiedergegeben. Und: Die aktuell losgetretene Diskussion dreht sich ja nicht um Besonderheiten der Gemeinschaftsschule gegenüber der Gesamtschule, sondern es geht ums Prinzip, das hier angegriffen wird – nämlich der gemeinsame Unterricht von Schülern unterschiedlicher Leistungsniveaus. Das ist nunmal die gleiche Debatte, wie sie schon in den 70er Jahren in Deutschland geführt wurde, ob es sich nun um „Kooperative Schule“, „Gesamtschule“, „Gemeinschaftsschule“, „Sekundarschule“ oder welchen Namen auch immer handelt, den sich Politiker ausdenken.
Herzliche Grüße
Die Redaktion