Auftakt zur „didacta“ – Debatte steht im Zeichen der Flüchtlingskinder

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KÖLN. Auftakt zur „didacta“, der größten Bildungsmesse der Welt. Auch in Köln prägt das Flüchtlingsthema die Debatte. Hunderttausende Flüchtlingskinder kommen in Schulen und Kitas. Die große Frage: Schafft das deutsche Bildungssystem das? Es wird sich verändern, sagen Experten – sehen darin aber auch eine Chance.

100.000 Besucher werden zur "didacta" in Köln erwartet - hier kommen die ersten. Foto: Koelnmesse
100.000 Besucher werden zur „didacta“ in Köln erwartet – hier kommen die ersten. Foto: Koelnmesse

Ali ist nahezu Analphabet, Tom hochbegabt, Lena entwicklungsverzögert, und Ahmad spricht kein Deutsch. Alle sollen unter einem Schuldach gefördert werden. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagt zur Flüchtlingsfrage: «Wir schaffen das.» Aber schafft auch das deutsche Bildungssystem das? Mit den anstehenden Herausforderungen befasst sich die „didacta“ in Köln. Didacta-Präsident Wassilios Fthenakis sieht enorme Aufgaben, vor allem aber Bereicherung und Nutzen: Die Zugewanderten seien «wie Hefe im Teig. Sie bewegen das System nach oben.»

Ähnlich äußert sich Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) in ihrer Rede zur Eröffnung der weltgrößten Bildungsmesse. Die Integration von Flüchtlingen in das deutsche Bildungssystem bedeutet eine enorme Herausforderung, aber auch viele Chancen. Die Anforderungen an die Schulen, an Pädagogen und Sonderpädagogen werden sich verändern, betonte die Ministerin. «Die sozialpolitische und integrationspolitische Dimension von Bildung wird immer größer.» Nötig sei ein «großes Zusammenspiel»: «Es braucht eine Verantwortungsgemeinschaft von Bund, Ländern und Kommunen.»

Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung an der Uni Köln, sagt: «Unser Bildungssystem wird sich verändern. Der Unterricht und die Schulen werden sich verändern.» Nach groben Schätzungen sind allein 2015 rund 100 000 Jungen und Mädchen im Vorschulalter und rund 550 000 Sechs- bis 25-Jährige gekommen, wie er erläutert. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft geht von etwa 300 000 bis 400 000 Flüchtlingen im schulpflichtigen Alter aus. Genau weiß es niemand – auch nicht, wie viele 2016 hinzu kommen werden.

«Die absolute Zahl ist nicht das Problem. Sondern die ungleiche Verteilung der neu Zugewanderten – mit einem Schwerpunkt auf den Ballungsräumen – und die Schnelligkeit, mit der sie an die Schulen kommen», analysiert Becker-Mrotzek. Länderübergreifende, einheitliche Standards seien nötig: «Wie groß sollen die Klassen sein, in denen auch die Geflüchteten unterrichtet werden? Wie lange sollen sie in den parallel geführten Vorbereitungsklassen bleiben? Wie lange soll die sprachliche Förderung in den Regelklassen dauern?» Ein großes Problem sei auch, dass es noch zu wenig geeignetes Lernmaterial gebe.

«Wir müssen dauerhafte Strukturen aufbauen, denn wir werden immer Zuwanderung im Schulsystem haben», fordert Becker-Mrotzek. «Wir brauchen mehr Lehrer, Aus- und Fortbildung, Sprachcoaches in den Schulen. Dort werden immer stärker multiprofessionelle Teams mit Psychologen und Sozialarbeitern tätig sein.» Die Inklusion – gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung in Regelschulen – habe einen Umbau angeschoben, der werde forciert.

«Wir haben mehr Heterogenität. Vielfalt wird der Normalfall.»
Lehrer fehlen überall. Die meisten Länder seien bereit, Geld für deutlich mehr Pädagogen in die Hand zu nehmen, sagt GEW-Bundeschefin Marlis Tepe. «Aber es ist teilweise extrem schwierig, Lehrer zu bekommen.» Seiteneinsteiger und Pensionäre seien im Einsatz. Tepe rät, die Kompetenzen der Flüchtlinge früh nutzen: «Unter den Geflüchteten sollten wir die Qualifizierten ansprechen, sie zum Beispiel Mathematik in ihrer Herkunftssprache noch in den Erstaufnahme-Einrichtungen unterrichten lassen.» Mit dem wachsenden Anteil an Migrantenkindern müsse man auch die Unterrichtsmethoden und manchen Fächern die Lehrpläne überprüfen.

Die Schulen würden bisher weitgehend alleine gelassen, kritisiert Sanne Kleff, Bundeskoordinatorin des Netzwerks Schule ohne Rassismus. Praktisch ohne zusätzliche Ressourcen, Schulungen, Strukturen oder Konzepte werde die große gesellschaftliche Aufgabe den Schulen übertragen. «Wir können stolz sein auf unsere Schulen und Lehrer, dass sie diese Herausforderung annehmen und meistern, rein mit Intuition und menschlicher Zuwendung. Aber es muss Unterstützung geben.»

Sie sehe viele Defizite, sagt Kleff. Deutsch als Zweitsprache solle für jeden Erzieher und Lehrer fester Bestandteil der Ausbildung werden. Die Sprachvermittlung funktioniere nicht gut genug. Bei der psychosozialen Betreuung kriegstraumatisierter Kinder liege noch viel im Argen – ohne diese sei der Zugang zu den Jungen und Mädchen schwierig.

Auch die Kitas stehen vor einem Kraftakt, betont Jens Hoffsommer von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. «Es ist extrem wichtig, dass die Flüchtlingskinder in die Kitas kommen. Die Kita ist der erste Ort der Sicherheit, der Geborgenheit.» Die Bildungsinstitution bilde die Basis für das Ankommen in der Gesellschaft und für die schulische Laufbahn. Wachsende Heterogenität werde auch die Kitas verändern und verlange den Erzieherinnen einiges ab.

«Es ist eine große Herausforderung, sich auf die Kinder einzustellen, mit der Sprachbarriere, mit ihren Erfahrungen, die im traumatischen Bereich liegen können», weiß Hoffsommer. «Ihre Lebenssituation im Heim, einer Turnhalle, womöglich Trennung von Familienmitgliedern, das alles hat seine Wirkung.» Bei der individuellen Förderung der Kleinsten seien Erzieherinnen Profis und sehr engagiert. In Themen wie Traumata, Asyl, kulturelle Vielfalt oder Umgang mit Vorurteilen müssten sie aber geschult werden. Zugleich sagt er: «Ich warne vor Überproblematisierung. Wir werden vielfältiger agieren, tradierte Vorstellungen erneut infragestellen. Das alles birgt Chancen.» Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

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