DÜSSELDORF. Schulzeitverkürzung und Turbo-Abitur sind in NRW mit der Brechstange eingeführt worden. Daraus hat Schulministerin Löhrmann Lehren gezogen. Jetzt schwebt ihr ein softer Wandel vor: mit viel mehr Wegen zum Abitur – allerdings nicht als Wunschkonzert für jeden Schüler.
Das umstrittene Turbo-Abitur in acht Gymnasialjahren soll in Nordrhein-Westfalen mindestens bis 2018 nicht über Bord geworfen werden. Weder im laufenden noch im nächsten Schuljahr werde es an den Gymnasien strukturelle Veränderungen geben, stellte Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) am Mittwoch in Düsseldorf klar. «Die Schulen können im beschlossenen Rahmen weiterarbeiten.»
Die Ministerin konkretisierte aber ihre Vorstellungen, mittelfristig zu flexibleren Lernzeiten für Kinder an allen Schulformen zu kommen. Denkbar seien mehrere Modelle – von täglichen individuellen Lernzeiten über zwei unterschiedlich lange Gymnasialzüge in die Oberstufe bis zu einer sogenannten Brückenklasse 10.
Vor der Landtagswahl im Mai sollen aber keine entsprechenden Veränderungen mehr umgesetzt werden. Löhrmann spricht sich dafür aus, keine grundsätzliche Abkehr vom achtjährigen Gymnasium (G 8) und der dreijährigen Oberstufe «von oben» vorzuschreiben. Stattdessen möchte sie den Schulen Zeit geben, sich für eines der Modelle zu entscheiden.
«Das knüpft an den Grundgedanken an, dass jedes Kind anders ist. Der Jugendliche steht im Mittelpunkt und nicht die Strukturen», betonte Löhrmann. Klar sei aber auch: «Es macht nicht jedes Kind, was es will und sucht sich alles aus.»
Flexible Schulzeiten seien schon jetzt Praxis – allerdings überwiegend durch die ungeliebte Möglichkeit, sitzenzubleiben. Bislang dürfen Kinder in der Sekundarstufe I bis zu zweimal sitzenbleiben und einmal in der Oberstufe. Außerdem könnten Schulanfänger die ersten beiden Grundschuljahre in ein bis drei Jahren durchlaufen – je nach Leistungsstand. Diesen Zeitpuffer will Löhrmann insgesamt auch nicht ausweiten. «Schüler können nicht entscheiden: “Ich möchte jetzt 15 Jahre zur Schule gehen”.»
Der SPD-Vorstoß, einen alten rot-grünen Vorschlag wiederzubeleben und generell die Schulzeit in der Oberstufe statt – wie jetzt – in der Sekundarstufe I zu verkürzen, ist aus Löhrmanns Sicht nicht mehr zeitgemäß und birgt Umsetzungsprobleme. «Ich glaube, dass die Schulen heute in einem anderen Entwicklungsprozess sind.»
An drei Jahren Oberstufe festzuhalten, entspreche der Linie der Kultusminister und sei kompatibel mit den meisten anderen Bundesländern sowie mit Gesamtschulen und Berufskollegs, erläuterte die Ministerin. Wie eine abweichende Neuregelung daran angepasst werden könnte, müsse die SPD erklären.
Eine Regelungslücke sieht Löhrmann aber in jedem Fall: an den Gymnasien müsse es künftig – mindestens für behinderte Kinder – einen regulären Schulabschluss nach Klasse 10 geben.
Vorreiter für flexibles Lernen
Die Ministerin hob besonders das Gymnasium Alsdorf in der Städteregion Aachen als Vorreiter für flexibles Lernen hervor. Hier erhalte jeder Schüler einen individuellen Lernplan und arbeite täglich im Wechsel zwischen Klassenunterricht und Selbstlernphasen. Das Gymnasium war mit dem Deutschen Schulpreis 2013 ausgezeichnet worden.
Anstelle dieses Lernmodells wäre es aus Löhrmanns Sicht aber auch möglich, an den Gymnasien zwei Züge in die Oberstufe zu bilden. Demnach könnte nach Klasse 6 oder 7 entschieden werden, wer schon nach Klasse 9 oder erst nach Klasse 10 in die Oberstufe wechseln sollte – je nach Leistungsstand der Kinder und Beratung mit den Eltern. Beim dritten Modell würde erst in Klasse 9 entschieden, ob ein Schüler eine «Brückenklasse» 10 braucht, um es bis zum Abitur zu schaffen oder ob er gleich in die 11 springen kann.
«Ich würde es nicht für richtig halten, den Schulen zwingend etwas vorzuschreiben», erklärte Löhrmann ihre Vorschläge. «Das ist bewusst ein Ansatz, um aus der alten Strukturfalle herauszukommen und eine sanftere Entwicklung hin zu guter Schule anzulegen.» dpa
Hier geht es zu einem Porträt des Gymnasiums Alsdorf auf der Seite des Deutschen Schulpreises.
Die ganzen vorgeschlagenen Modelle dürften in fünfzügigen Gymnasien in der Großstadt noch halbwegs umsetzbar sein. Auf dem Land, wo (mit Ach und Krach) dreizügig gefahren werden kann, ist das illusorisch. Am ehesten könnte dann noch eine Brückenklasse funktionieren, die allerdings zu Lasten der Wahlmöglichkeiten der leistungsstarken Hälfte geht. Insgesamt schiebt die Ministerin den Schulen den Schwarzen Peter zu.