Wie lernen Kinder Werte? Was eine erfahrene Lehrerin, die sich seit langem damit beschäftigt, empfiehlt

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BERLIN. Ob in einer Dorfgrundschule in Sachsen-Anhalt oder – wie aktuell – in einer städtischen Grundschule in Berlin-Neukölln: Immer mehr Lehrer kapitulieren vor dem Verhalten von Schülern, die alle Regeln ignorieren und sich nicht bändigen lassen. Tatsächlich übernimmt die Grundschule eine wichtige Rolle, wenn es um die Vermittlung von Werten geht. Grundschullehrerin und Autorin Julia Schlimok, die lange Jahre an einer bayerischen Grundschule als Beauftragte für die Werteerziehung zuständig war, ist überzeugt, dass Werteerziehung nur gemeinsam mit den Eltern gelingen kann. Ein Gespräch über Verhaltensnormen und Vorbilder. Der Beitrag ist zunächst in der Ausgabe 10/2017 der Zeitschrift „Grundschule“ erschienen.

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Kinder können sooo nett sein… Foto: Shutterstock

Werteerziehung

„In öffentlichen Diskussionen geht es immer wieder um einen drohenden Werteverfall der Jugend und wie man diesem entgegenwirken kann“, diese Beobachtung hat Julia Schlimok gemacht, die seit zehn Jahren als Grundschullehrerin an der Grundschule Mertingen tätig ist. Gleichzeitig wachse die Nachfrage an eine Werteerziehung, die sich an gesellschaftlichen Normen orientiert – denn eine solche Werteerziehung ist notwendig, wenn das Zusammenleben in einer Gesellschaft funktionieren soll.

Für Julia Schlimok ist klar: Neben dem Elternhaus spielen vor allem Lehrkräfte eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Schülerinnen und Schülern an Werte und ihre Bedeutsamkeit im täglichen Leben heranzuführen. Deshalb stellt sich die Grundschullehrerin aus Bayern immer wieder die Frage, wie Wertevermittlung in der Grundschule in enger Zusammenarbeit mit den Vätern und Müttern gelingen kann.

Die Zeitschrift 'Grundschule'

Dieser Beitrag und weitere zum Thema Wertevermittlung in der Grundschule sind in der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel “Das Gute fördern” erschienen. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Wie können Lehrerinnen und Lehrer Werte vermitteln? Und welche sollten sie überhaupt vermitteln? Diesen Fragen widmet sich die vorliegende Ausgabe der „Grundschule“. Dabei fokussieren die Autorinnen und Autoren nicht nur auf die theoretischen Grundlagen, sondern bieten auch Anregungen für die Praxis, beispielsweise wie Schulen als Gemeinschaft Werte entwickeln können, wie sie reagieren können, wenn Eltern die im Schulalltag geltenden Werte nicht teilen oder wie der Religionsunterricht eine werteorientierte Pädagogik stärken kann.

Laut Julia Schlimok gehe es als Schule zunächst darum, eine gemeinsame Linie mit den Eltern zu finden. „Ziehen Sie mit den Eltern an einem Strang“, so ihr Tipp für eine auf lange Sicht angelegte Werteerziehung. Es müssten gemeinsame Werte miteinander vereinbart werden. „Das kann anhand einer Umfrage unter den Beteiligten oder im Rahmen eines Elternabends erfolgen“, schildert die Grundschullehrerin ihre eigenen Erfahrungen.

Werte festlegen

In einem weiteren Schritt sollten dann die Schülerinnen und Schüler mit in den Prozess einbezogen werden. Besonders wünschenswert wäre es, wenn Werte für die gesamte Schule entwickelt würden, die von allen Kindern, Lehrerinnen und Lehrern als verbindlich angesehen werden. Welche dabei ausgewählt werden, muss jede Schule für sich selbst entscheiden – ist die Entscheidung doch auch abhängig von schulspezifischen Besonderheiten (wie Einzugsgebiet oder Anteil ausländischer Schülerinnen und Schüler), klassenspezifischen Besonderheiten (auffällige Schülerinnen und Schüler, Klassenklima und so weiter) sowie individuellen Wünschen der Beteiligten.

Julia Schlimok selbst hat eine Umfrage unter Schülern und Eltern durchgeführt und erfragt, welche Werte sie als besonders wertvoll empfinden. Herausgekommen ist eine Liste von neun Werten, auf die sich alle Mitglieder der Schulfamilie einigen konnten – wobei die Reihenfolge nichts über deren Wertigkeit aussagt:

  • Ehrlichkeit,
  • Treue,
  • Zuverlässigkeit,
  • Verantwortungsbewusstsein,
  • Höflichkeit,
  • Respekt,
  • Hilfsbereitschaft,
  • Toleranz und
  • Ordnungssinn.

Jedoch sei diese Festlegung der Werte erst der erste Schritt, wie Julia Schlimok betont. Denn bei der Werteerziehung gehe es um mehr als nur darum, auf die Einhaltung der festgelegten Verhaltensnormen zu pochen. Die Schülerinnen und Schüler müssten vielmehr erleben, was ein werteorientierter Umgang für sie selbst und für ihre Mitmenschen bedeutet. „Nur wenn Schülerinnen und Schüler sich das Warum bewusstmachen, kann eine wertorientierte Persönlichkeitsbildung auf Dauer sinnvoll sein“, erklärt die Grundschullehrerin.

Vorbild sein

Das Ganze hört sich zunächst natürlich sehr theoretisch an, doch die Lehrerin hat auch ganz praktische Beispiele, wie dieses direkte Erleben funktionieren kann. „Gerade im täglichen Miteinander ergeben sich immer wieder Gelegenheiten, die Wertevermittlung im Alltag erlebbar machen.“ Schauen wir beispielsweise auf die Zuverlässigkeit: Die Lehrkraft sollte die Hausaufgaben der Schülerinnen und Schüler regelmäßig kontrollieren und deren Sauberkeit oder Vollständigkeit würdigen. „Kommentieren Sie die Schülerleistungen außerdem wenn möglich mit kurzen Bemerkungen. So fühlen sich Ihre Schützlinge in Ihrer Zuverlässigkeit wahrgenommen und wertgeschätzt“, empfiehlt Julia Schlimok.

Das wichtigste ist jedoch, dass sich Lehrerinnen und Lehrer ihrer Vorbildfunktion bewusst sind. „Gerade junge Schülerinnen und Schüler richten sich in ihrem Verhalten gern nach dem, was Sie von ihren Respektpersonen vorgelebt bekommen“, sagt Julia Schlimok. Das gelte zum Beispiel für den Ordnungssinn: „Lehrerinnen und Lehrer sollten auch täglich zeigen, dass sie Ordnung halten können, also keine Papierstapel auf dem Pult liegen lassen und den eigenen Arbeitsplatz regelmäßig aufräumen.“ Auch können Lehrer Hilfsbereitschaft vorleben, indem sie den Kindern mit Rat und Tat zur Seite stehen oder Höflichkeit vermitteln, indem sie höfliche Umgangsformen wie „Bitte“ und „Danke“ im täglichen Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern benutzen. Es sind Kleinigkeiten – die leider im stressigen Alltag manchmal vergessen werden.

Rituale einführen

Auch aus diesem Grund kann es wichtig sein, Rituale einzuführen. Darüber hinaus geben Rituale Sicherheit und bauen Ängste ab. Sie strukturieren das tägliche Miteinander in der Schule. „Jeder Lehrer weiß: Rituale einzuführen kostet Zeit, ebenso wie auch die konsequente Umsetzung viel Zeit und Energie erfordert“, so Julia Schlimok, „gleichzeitig bringen sie organisatorisch gesehen große Erleichterungen im Alltag, weil sie zum Beispiel Ruhe schaffen und damit wertvolle Unterrichtszeit sparen.“ Es gibt Rituale für fast jede Situation – einige davon sind sinnvoll, andere weniger. Julia Schlimok empfiehlt daher, sich genau zu überlegen, welche Rituale im einzelnen Fall umsetzbar sind und helfen, das gewünschte Ziel zu erreichen.

Abbildung 1: Rituale für die Schule (Quelle: Julia Schlimock)

Projekte planen – ein Beispiel

Idealerweise sollte Werteerziehung darüber hinaus gemeinsam mit Schülern, Eltern, Kollegium und Schulleitung im Rahmen von Projekten vertieft werden. „Machen Sie den Inhalt eines solchen Projekts abhängig von den individuellen Bedürfnissen der Schüler beziehungsweise der Eltern – suchen Sie sich einen Wert heraus und arbeiten Sie verstärkt daran“, rät Julia Schlimok.

Sie selbst kann beispielsweise empfehlen, an der Einführung von Wohlfühlmottos beziehungsweise an der Umsetzung eines sozialen Themas zu arbeiten, das sein Augenmerk auf verschiedene Bereiche der Werteerziehung legt und die Persönlichkeitsbildung unterstützt. Einbezogen werden sollten bei der Auswahl der Mottos oder der Themen verschiedene Gruppen, wie Schülergremien (beispielsweise im Rahmen einer Werte-AG), der Elternbeirat, der Werteerziehungsbeauftrage der Schule und das Lehrerkollegium. Gemeinsam können alle Beteiligten überlegen, wie lange an einem Motto gearbeitet wird. „Man kann sich zum Beispiel vornehmen ein Wohlfühlmotto eine Woche oder einen Monat in den Fokus zu nehmen und dann daran zu arbeiten“, sagt Julia Schlimok. Die Grundschullehrerin nennt verschiedene Möglichkeiten, wie ein Motto formuliert werden könnte: „Achtsamkeit und Höflichkeit gewinnen immer! Wenn du einen Raum durch eine Tür betrittst, halte sie deinem Hintermann oder deiner Hinterfrau stets auf.“ Oder: Höflichkeit ist das A und O –

wir grüßen einander und schauen uns dabei in die Augen! Oder: Manches bleibt auch im neuen Schuljahr wie gehabt, denn bei uns macht der Ton die Musik! Wir sprechen höflich miteinander und verwenden stets die Wörter DANKE und BITTE!

Wichtig sei, so Julia Schlimok, mit dem ausgewählten sozialen Thema aktiv zu arbeiten: „Hängt das Motto einfach kommentarlos irgendwo im Schulgebäude oder im Klassenzimmer setzen sich die Schüler damit nicht auseinander.“ Während des Geltungszeitraumes sollte zum Beispiel immer wieder reflektiert werden, wie gut die Einhaltung innerhalb und außerhalb der Klassengemeinschaft funktioniert. Werden die Worte „Bitte“ und „Danke“ sinnvoll eingesetzt – auch in der Pause? Räumt jeder seinen Müll am Ende eines Schultages weg? Bieten die Schülerinnen und Schüler sich gegenseitig Hilfe an?

Fazit

Die Relevanz von Werteerziehung sieht Julia Schlimok auch im gesellschaftlichen Wandel begründet: Nach ihren Beobachtungen führen beispielsweise neue Familienstrukturen dazu, dass der Sozialverband „Familie“ als Vermittlungsinstanz von Grundwerten nicht mehr vorausgesetzt werden kann; gleichzeitig wächst der Anspruch an Schulen, Werte zu vermitteln. Hinzu käme, dass im Zuge der Globalisierung von den Menschen mehr Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Lebensweisen gefordert würde, was interkulturelles Lernen in besonderem Maße notwendig mache.

Insgesamt sei es die Aufgabe von Schulen und Lehrkräften im Schulalltag Wege zu finden, die helfen, werteorientierte Persönlichkeiten heranzuziehen. Julia Schlimok: Das geht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen, sondern verlangt viel Geduld und Fingerspitzengefühl auf Seiten aller Beteiligten. Aber: „Werteerziehung lohnt sich immer!“

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Wie Sie eine wertorientierte Klassenkultur aufbauen

Als Lehrerin oder Lehrer gilt es, gemeinsame Grundwerte zu vereinbaren, die sich durch bestimmte Anforderungen an jeden Einzelnen auszeichnen. Dabei sollten vor allem drei Lernbereiche berücksichtigt werden:

1. Bauen Sie eine Umgangskultur auf, durch:

  • gemeinsame Regeln und Rituale,
  • Vertrauen,
  • Wertschätzung,
  • Toleranz,
  • Streitkultur,
  • Gewaltlosigkeit,
  • demokratische Strukturen
  • und Kompromissfähigkeit.

2.    Legen Sie den Grundstein für eine Arbeitskultur. Dazu gehören u. a.:

  • Zuverlässigkeit,
  • Pünktlichkeit,
  • Sorgfalt und Genauigkeit der Arbeit,
  • Sauberkeit und Ordnung,
  • realistische Selbsteinschätzung,
  • Kritikfähigkeit,
  • Teamfähigkeit und
  • Leistungsbereitschaft

3.    Setzen Sie sich für eine Verantwortungskultur ein. Diese zeichnet sich unter anderem aus durch:

  • einen verantwortungsbewussten Umgang mit Freiräumen,
  • das Übernehmen von Verantwortung für sich und den anderen,
  • die Fähigkeit für bzw. gegen etwas eintreten zu können und
  • die Eigenschaft vertrauenswürdig zu sein.

Grundschule schreibt Brandbrief (schon wieder!): Fast nur noch lernbehinderte oder verhaltensaufällige Kinder – und immer weniger gesunde Lehrer

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3 Kommentare
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sofawolf
5 Jahre zuvor

Guter Artikel mal wieder. Danke.

Die Vorbildrolle sehe ich auch als sehr wichtig an. Nur, wie sollen wir Kinder zu Ehrlichkeit erziehen, wenn doch überall ständig gelogen wird – bis hin zu höchsten Regierungsorganen im In- und Ausland. Wie sollen wir zu Pünktlichkeit erziehen, wenn die Lehrer selbst reihenweise erst nach dem Klingelzeichen in den Unterrichtsraum kommen.

Sicherlich ist Perfektion nicht möglich und nicht sinnvoll, aber viele von uns müssten erst einmal vor ihrer eigenen Tür kehren, bevor sie anderen beibringen wollen, wie man sich benimmt, oder?

Cavalieri
5 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

„„Ziehen Sie mit den Eltern an einem Strang“, so ihr Tipp für eine auf lange Sicht angelegte Werteerziehung. Es müssten gemeinsame Werte miteinander vereinbart werden.“
So steht es oben im Artikel. Aber in dem darunter gezeigten Link zum Brandbrief heißt es:
„Die Eltern fielen als Partner praktisch aus. Oftmals gebe es im Hinblick auf Sprache und Sozialverhalten in einer ganzen Klasse nur noch ein einziges positives Vorbild für die Kinder – nämlich den Lehrer oder den Erzieher.“
Das ist dann wohl der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

Lena
5 Jahre zuvor

@Cavalieri
Mal von Elternseite:

„Ziehen Sie mit den Eltern an einem Strang“ verseht die Schule: „Machen Sie, was die Schule sagt“.

Die Lehrer sind nicht bereit zur einer Diskussion mit Eltern. Zwei Elterngespräche im Jahr, jeweils nur 10 min vorgesehen. Wie soll diese Zusammenarbeit funktionieren?