BERLIN. Flüchtlingskindern wird das Recht auf eine hochwertige Bildung in vielen Ländern der Welt verweigert – in Deutschland nicht. Der Weltbildungsbericht mit dem Titel „Migration, Flucht und Bildung: Brücken bauen statt Mauern“ lobt die Bundesrepublik für vielfältige Maßnahmen bei der Integration von Geflüchteten und Migranten, sieht allerdings auch Verbesserungsbedarf bei der Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem. „Deutschland hat bei der Integration von Geflüchteten in das Bildungswesen bereits viel erreicht“, erklärt die Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, Maria Böhmer, „wir sind auf dem richtigen Weg”. Streit gibt es allerdings um die Frage, wie die Förderung am besten gelingt – in Sonderprogrammen oder in Regelklassen.
Deutschland hat sich zur Umsetzung der Globalen Nachhaltigkeitsagenda und damit zu hochwertiger und chancengerechter Bildung verpflichtet. Der UNESCO-Weltbildungsbericht evaluiert jährlich die Fortschritte bei der Umsetzung des Globalen Nachhaltigkeitsziels Nummer vier: „Bis 2030 für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen sicherstellen.“
Mit Blick auf Flüchtlingskinder kommt die Bundesrepublik dieser Verpflichtung laut Weltbildungsbericht im Großen und Ganzen auch nach. Allerdings: In Deutschland besuchten im vergangenen Jahr laut Bericht 30 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen unter 16 Jahren und fast 85 Prozent derer über 16 Jahren Sonderklassen. «Das gemeinsame Lernen aller muss die nächste Aufgabe sein, der sich das Land stellt», erklären die Autoren.
“Impulse durch ihre Mitschüler”
Darüber flammt nun ein alter Streit wieder auf. „Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland bei der Bildung und Integration von Geflüchteten gut ab. Dennoch gibt es Herausforderungen“, erklärt Prof. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln. „In Deutschland sind viele unterschiedliche Modelle im Einsatz, wie neu zugewanderte Kinder und Jugendliche in das deutsche Schulsystem aufgenommen werden, von der gemeinsamen Beschulung von Anfang an bis zu so genannten Willkommens- oder Vorbereitungsklassen. Wichtig ist, dass die Kinder von Beginn an und so lange wie nötig gezielt gefördert werden, unabhängig vom Modell. Wenn es Vorbereitungsklassen gibt, ist der Übergang in die Regelklasse entscheidend. Kinder sollten nicht lange ausschließlich in Extraklassen unterrichtet werden. Besser ist es, sie zumindest teilweise in den Regelunterricht zu integrieren. Dann bekommen sie Impulse durch ihre Mitschüler und den Unterricht in anderen Fächern.“
Das sieht der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, offenbar anders. Er würdigt das Lob im Weltbildungsbericht zunächst als „verdiente Anerkennung auch für das Engagement und die Anstrengungen von Lehrkräften bei der Integration von Flüchtlingskindern ins deutsche Schulsystem“. Dabei werde deutlich, dass gerade die berufliche Bildung eine besonders wichtige Funktion dabei erfülle, Flüchtlingskindern einen erfolgreichen Weg ins Erwerbsleben in Deutschland zu bahnen.
Gleichzeitig verteidigt Meidinger aber die Praxis, Flüchtlingskinder zunächst in eigenen Klassen und eigenen Kursen und Sonderprogrammen eine intensive Sprachförderung zu vermitteln, bevor sie in Regelklassen eingegliedert würden. Er betonte: „Eine sofortige Zuweisung in Regelklassen ist nach unseren Erfahrungen dabei nicht hilfreich, Kindern mit Migrationshintergrund zu einem sicheren Anschluss ins deutsche Schulsystem zu verhelfen. Ohne vorgeschaltete intensive Sprachförderung in Willkommensklassen oder auch an Berufsschulen fehlt die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Schullaufbahn!“
Sprachförderung im Zentrum
Einigkeit gibt es dagegen, dass der Sprachförderung eine besondere Rolle zukommt. So betont der Wissenschaftler Mrotzek: „Der Weltbildungsbericht hat auch festgestellt, dass Lehrkräfte auf die wachsende Heterogenität im Klassenzimmer vorbereitet werden müssen. Damit sind keine Einzelmaßnahmen gemeint, sondern systematische Konzepte von der Feststellung der Sprachkenntnisse über die Zuweisung zu Klassen bis hin zu spezifischen Lehrplänen. Ein zentrales Element ist der sprachsensible Unterricht, der zusätzliche Unterstützung auch für Kinder mit geringen Deutschkenntnissen vorsieht.“
Weiter sagt er: „Sprachliche Bildung findet nicht nur im Deutschunterricht statt, sondern in allen Fächern. Nur wer versteht, kann auch lernen. Sprachliche Bildung muss daher verpflichtender Bestandteil in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften werden. Zusätzlich ist es notwendig, den länderübergreifenden Austausch voranzutreiben. In vielen Bundesländern gibt es gut erprobte und evaluierte Konzepte, Maßnahmen und Instrumente für sprachliche Bildung. Jetzt braucht es zusätzliche Formate, in denen das Wissen und die Ansätze in die Praxis übertragen werden können.“
Der Bundesvorsitzende der Katholische Erziehergemeinschaft (KEG) Deutschlands, Bernd Uwe Althaus, Vize-Präsident des Deutschen Lehrerverbands, schlägt in die gleiche Kerbe: „Mit dem Abbau der ersten Sprachhürde muss ein weiteres Thema in den Fokus genommen werden – das Lernen von Fachworten der verschiedenen Fächerbereiche und die Verständigung über fachsprachliche Inhalte. Hier fehlt es noch sowohl an Aufmerksamkeit für diese Problematik als auch an adäquaten Antworten für die Schulen. Letztendlich wird aber nur durch diesen konsequenten zweiten Schritt der Sprachförderung über nachhaltig erfolgreiche Integration entschieden.“
Lehrerverbands-Präsident Meidinger fordert daher alle Bundesländer dazu auf, auch nach der Eingliederung in Regelklassen weiter den Schulen für die Sprachförderung von Flüchtlingskindern zusätzliche Stellen und Ressourcen zur Verfügung zu stellen. „Leider endet die zusätzliche Sprachförderung vielfach nach dem Übertritt in die Regelklasse, obwohl sie weiterhin dringend nötig wäre“, sagt er. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus
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