Studie: Alternative Schulformen erhöhen die Chancen benachteiligter Schüler aufs Abitur nur wenig

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KÖLN. Soziale und ethnische Faktoren bestimmen den Bildungsverlauf spätestens mit dem Verlassen der Grundschule. Um diesen offenbar in Stein gemeißelten Missstand zu überwinden, haben die bildungspolitisch Verantwortlichen in fast allen Bundesländern Schulformen geschaffen, um das System durchlässiger zu machen. Wissenschaftler aus Göttingen und Berlin haben die „nachträglichen Korrekturmöglichkeiten“ untersucht.

Nach dem Besuch der Grundschule scheint der Bildungsweg junger Menschen in Deutschland bereits weitgehend festgelegt. Wer welchen Weg einschlägt, ist dabei stark von sozialen und ethnischen Faktoren vorbestimmt. Seit Längerem sind daher in allen Bundesländern die Möglichkeiten gestärkt worden, die Hochschulreife auf anderen Wegen als dem klassischen Gymnasiumsbesuch zu erwerben und auch nach Beginn der Sek I noch umzusteuern. Wissenschaftler aus Göttingen und Berlin haben nun untersucht, ob benachteiligte Gruppen von diesen Veränderungen profitiert haben.

Der Bildungsweg eines Schülers in Deutschland hängt immer noch stark von der sozialen Herkunft ab. Foto: Kurt Michel / pixelio.de

Ihre Studie zeigt: Nachteile von Schülern mit niedriger Bildungsherkunft bleiben auch im Bildungsverlauf bestehen. Jugendliche mit Migrationshintergrund hingegen holen im Laufe der Sekundarstufe, insbesondere bei gleicher Bildungsherkunft und Ressourcenausstattung, gegenüber einheimischen Schülern auf.

Weichenstellung: Der Übergang von der Grundschule zur Weiterführenden Schule

In Deutschland stellt der Übergang von der Grund- zur Weiterführenden Schule eine der wichtigsten Weichen für den individuellen Bildungsweg von Schülern. Überdies, so zeigt sie Forschung, wirkt sich die soziale und ethnische Herkunft besonders stark auf diesen frühen Übergang aus. Andererseits ist seit einigen Jahren der Besuch von Fachoberschulen und Berufs- oder Fachgymnasien stark angestiegen, sind die Aufstiegsmöglichkeiten in der Sekundarstufe und die Möglichkeiten des Erwerbs der Hochschulreife außerhalb des traditionellen Gymnasiums stark ausgebaut worden.

Karin Kurz, Judith Lehmann und Julian Theunissen (Georg-August-Universität Göttingen & Teach First Deutschland gGmbH) stellten daher die Frage, inwieweit sich die sozial oder ethnisch bedingte Chancenungleichheit im Verlauf der Sekundarstufe verändert und inwiefern die benachteiligten Gruppen von nachträglichen Korrekturmöglichkeiten in Form von Alternativwegen zur allgemeinen oder fachgebundenen Hochschulreife profitieren können. Als Datengrundlage dienen ihnen Datensätze des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 2000 bis 2016 für die Geburtsjahrgänge 1983 bis 1995.

Der Vergleich der Wahrscheinlichkeiten, dass Jugendliche mit unterschiedlicher sozialer oder ethnischer Herkunft zu Beginn der Sekundarstufe I (Sek I, Unter-und Mittelstufe) das Gymnasium besuchen, und dass sie zum Ende der Sekundarstufe II (Sek II, Oberstufe) die (Fach-) Hochschulreife erreichen, zeigt demnach: Der relative Anteil an Schülern mit bestimmten sozialen Merkmalen in der gymnasialen Mittelstufe entspricht in etwa dem Anteil, der später auch die Allgemeine Hochschulreife erreicht. Dabei verbessern Jugendliche aus Familien mit hoher Bildungsherkunft ihre Position noch leicht von 60,4 auf 63,7 %. Die Gruppe mit niedriger Bildungsherkunft bleibt bei 24,5 bzw. 25 %. Herkunftseffekte in Bezug auf die elterliche Bildung schwächten sich also im Bildungsverlauf nicht ab, es deutet sich tendenziell eher eine leichte Verstärkung an.

Die Gruppe der zu Beginn der Sek I ebenfalls benachteiligten Jugendlichen mit Migrationshintergrund hingegen konnte ihre Position verbessern. Ihr Abstand reduzierte sich im Laufe der Sekundarstufe von ca. 14 Prozentpunkten auf 11, Abitur und Fachhochschulreife miteinbezogen, sogar auf 9,5 Prozentpunkte. Berücksichtigten die Forscher weitere Kontrollvariablen wie den Bildungshintergrund der Eltern, bestätigte sich dieser positive Trend. Zu Beginn der Sek I besuchten Kinder mit Migrationshintergrund im Schnitt um 8,4 % seltener das Gymnasium als einheimische Kinder – bei Erreichen des Abiturs betrug der Unterschied nur noch 4,8 Prozentpunkte, unter Berücksichtigung von Abitur und Fachhochschulreife sogar nur 3 Prozentpunkte. Die Wissenschaftler betonen jedoch, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund überproportional aus Familien mit niedriger Bildungsherkunft stammen und somit insgesamt deutlich seltener in höheren Sekundarschulformen vertreten seien, sodass das grundsätzlich erfreuliche Ergebnis nicht überbewertet werden dürfe.

Das Fazit der Autoren fällt mit Blick auf alternative Schulformen ernüchternd aus

Man könne mithin nicht schlussfolgern, dass der zunehmende Ausbau von Fachoberschulen, Fach- oder Berufsgymnasien und anderen Alternativen zum Gymnasium zum Abbau der Bildungsungleichheiten und damit zur Bildungsgerechtigkeit beitragen. Im Zeitverlauf fanden die Forscher für die zwischen 1983 und 1995 geborenen Jugendlichen lediglich einen linearen Anstieg der Wahrscheinlichkeit für einen Besuch des Gymnasiums sowie den Erwerb der (Fach-)Hochschulreife, der in Bezug auf Bildungsherkunft oder Migrationshintergrund nicht variierte. Dieser Befund widerspricht deutlich ihrer ursprünglichen Hypothese, dass der Ausbau von alternativen Sekundarschulformen die Chancen für beim ersten Schulwechsel benachteiligte Schülergruppen verbessert haben könnte. Im Gegenteil: Die Studie liefert, so die Autoren keine Anzeichen dafür, dass der Ausbau alternativer Schulformen den Erwerb der Hochschulreife wahrscheinlicher mache – weder für alle Jugendlichen insgesamt, noch für die einzelnen betrachteten Gruppen. (zab, pm)

Die Studien ist im Informationsdienst Soziale Indikatoren, ISI 63 des GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften erschienen.

• Die Beiträge des ISI 63 stehen kostenfrei zum Download zur Verfügung

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Bildung wirkt! Der Nachteil der sozialen Herkunft verflüchtigt sich mit steigendem Bildungsgrad

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xxx
4 Jahre zuvor

Zitate:
„Nachteile von Schülern mit niedriger Bildungsherkunft bleiben auch im Bildungsverlauf bestehen. Jugendliche mit Migrationshintergrund hingegen holen im Laufe der Sekundarstufe, insbesondere bei gleicher Bildungsherkunft und Ressourcenausstattung, gegenüber einheimischen Schülern auf.“
„Die Wissenschaftler betonen jedoch, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund überproportional aus Familien mit niedriger Bildungsherkunft stammen und somit insgesamt deutlich seltener in höheren Sekundarschulformen vertreten seien, sodass das grundsätzlich erfreuliche Ergebnis nicht überbewertet werden dürfe.“

Meine Folgerungen daraus:
– Die Autoren hätten die unterschiedlichen Bildungsherkünfte und Migrationshintergründe mal rausrechnen sollen, um wirklich vergleichbare Daten zu bekommen.
– Der Text liest sich für mich so, als ob die Migrationshintergründler mit hoher Bildungsherkunft leistungsstärker sind als die Einheimischen mit vergleichbarer Bildungsherkunft. Die Japaner in Düsseldorf widersprechen diesem Eindruck zumindest nicht.
– Die Bildungsherkunft wurde aufgeschlüsselt, der Migrationshintergrund hingegen nicht. Warum eigentlich nicht? Ich hoffe nicht, dass dadurch eine gewisse nicht aussprechbare Tatsache verschleiert werden soll, obwohl sie im letzten Satz meines zweiten Zitates angedeutet wurde.

xxx
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Ergänzung: Bildung als Folge von sich auf den eigenen Hintern setzen hilft unabhängig von der sozialen Herkunft:

https://www.news4teachers.de/2019/09/berufsprestige-studie-der-nachteil-der-sozialen-herkunft-fuer-hochgebildete-nur-gering/#comments

Gerd Möller)
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

@ XXX :
„Die Autoren hätten die unterschiedlichen Bildungsherkünfte und Migrationshintergründe mal rausrechnen sollen, um wirklich vergleichbare Daten zu bekommen.“

Haben Sie doch. Siehe logistische Regressionsanalyen auf Seite 15 ff.

“ Die Bildungsherkunft wurde aufgeschlüsselt, der Migrationshintergrund hingegen nicht. Warum eigentlich nicht? Ich hoffe nicht, dass dadurch eine gewisse nicht aussprechbare Tatsache verschleiert werden soll, obwohl sie im letzten Satz meines zweiten Zitates angedeutet wurde.“

Wieder das häufig von Ihnen gebrauchte „Warum eigentlich?“ Hier deuten Sie wieder mal – im Sinne von Verschwörungstheorien – an, dass der Wissenschaft nicht zu vertrauen ist, weil sie ja nicht gewünschte Tatsachen verschleiern würde. Schämen Sie sich eigentlich nicht, so zu argumentieren?

Der Grund, warum der Migrationsstatus nicht weiter aufgeschlüsselt wird, ist trivial: Die Größe der Stichprobe im SOEP ist hierfür zu gering. Die Autoren verschleiern aber dies nicht, sondern stellen in der Originalarbeit fest:
“ Eine Schwachstelle unserer Analysen ist auch die grobe Differenzierung zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund, da es erhebliche Unterschiede im sozioökonomischen
Hintergrund zwischen ethnischen Gruppen gibt. Angesichts relativ kleiner Fallzahlen für die verschiedenen ethnischen Gruppen lässt sich dieses Problem in zukünftigen Analysen mit SOEP-Daten wohl nicht beheben.“

Mit Behauptungen sind Sie schnell bei der Hand, aber mal selber die Fakten zu recherchieren dazu sind Sie zu faul oder was noch schlimmer ist, die blenden Sie bewusst aus, weil ja sonst Ihre Verdächtigungen nicht funktionieren.
Antwort

Gümnasiallehrer a.D.
4 Jahre zuvor

Eine weitere Studie, die beweist, dass Versäumnisse im Elternhaus (!!) nicht durch die Schulen ausgeglichen werden können.

Da wir ja kein Geld haben (kleiner Witz am Rande) können wir auch keine verpflichtenden Vorschul- bzw. Kindergartenbesuche einführen. Die Zementierung der Bildungswege läuft also schon viel früher – rumgedocktert wird aber an funktionierenden Systemen (Dreigliedrigkeit), in der Hoffnung, hier alles kitten zu können und damit Bildungsfuntamentalisten (Einheitsschule) ihre Befriedigung bekommen.

xxx
4 Jahre zuvor

Plätze für U3 gibt es ja, allerdings nicht, weil das sinnvoll ist, sondern weil die Wirtschaft die billigen Arbeitnehmerinnen (Mütter) wieder möglichst schnell zurück haben möchte. Dabei ist die letzten beiden Kindergartenjahre viel wichtiger. Erstens ist die Bindung zu den Eltern bzw. zur Mutter bei längerer Elternzeit enger, zweitens lernen die Kinder in den letzten beiden Kinergartenjahren auch das Funktionieren in einer Gruppe.

Gerd Möller)
4 Jahre zuvor

@ Gümnasiallehrer:
„Eine weitere Studie, die beweist, dass Versäumnisse im Elternhaus (!!) nicht durch die Schulen ausgeglichen werden können.“
Wie kommen Sie denn auf diese abstruse Schlussfolgerung. Da ich hiernach davon ausgehen muss, dass Sie nicht in der Lage sind, logistische Regressionsanalysen (in der Originalarbeit abgedruckt) richtig zu lesen, zitiere ich aus der Schlussfolgerung der Originalarbeit der Autoren:
„Im Hinblick auf diese zentrale Frage haben unsere Analysen (in unkonditionaler
Perspektive) gezeigt, dass sich die Nachteile von Schülerinnen und Schülern aus Familien mit niedriger Bildungsherkunft im Bildungsverlauf nicht abschwächen; in der Tendenz
(statistisch nicht gesichert) deutet sich sogar eine leichte Verstärkung an. Damit sind unsere Ergebnisse konsistent mit Raymond Boudons theoretischen Überlegungen, dass Jugendliche aus Familien mit günstiger Ressourcenausstattung an allen Bildungsübergängen höhere Wahrscheinlichkeiten für die Wahl einer statushöheren Schulform haben sollten,was unter bestimmten Bedingungen insgesamt zu einer Stabilität oder sogar Erhöhung von Bildungsungleichheiten im Bildungsverlauf führt.
Hingegen scheinen Jugendliche mit Migrationshintergrund sogar aufzuholen und – wenn sowohl die allgemeine als die auch fachgebundene Hochschulreife einbezogen wird – mit den einheimischen Schülerinnen und Schülern gleichzuziehen. Dies steht im Einklang mit
dem durchgängigen Befund besonders hoher Bildungsaspirationen in Familien mit Migrationshintergrund. Nochmals zu betonen ist jedoch, dass das beobachtete Aufholen in dieser Gruppe nur unter ceteris paribus Bedingungen gilt; sprich: vor allem bei gleicher Bildungsherkunft findet ein Aufholen statt. Das Ergebnis sollte jedoch nicht überbewertet werden, da Jugendliche mit Migrationshintergrund überproportional aus Familien mit niedriger Bildungsherkunft kommen und deshalb weniger stark als die einheimischen
Jugendlichen in höheren Sekundarschulformen vertreten sind.“
Dies zeigt, dass das von Ihnen hochgelobte 3-gliedrige Schulsystem mit seiner frühen Stratifizierung (Selektion) dazu beiträgt, dass die im Anschluss an die Grundschule gewählte Schulart den weiteren Bildungsweg größtenteils vorbestimmt und die benachteiligte Gruppen
– vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien oder mit Migrationshintergrund –
ihren Abstand zu begünstigten Gruppen im Bildungsverlauf kaum reduzieren können.
Das nennen Sie ein funktionierendes System?

xxx
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller)

Durch das Zitat haben Sie die „abstruse Schlussfolgerung“ selbst bestätigt.

Über die vierjährige Grundschule kann man in der Tat verhandeln, jedoch zeigt Berlin, dass die sechsjährige Grundschule auch kein Allheilmittel ist, zumal dort einige Gymnasien mit Klasse 5 starten. Bei einem außendifferenzierten Kurssystem ab Klasse 4 oder 5 wenigstens in Deutsch, Mathe, Englisch und entsprechend fähigen Lehrkräften könnte man über eine sechsjährige Grundschule verhandeln.

ysnp
4 Jahre zuvor

Im ersten abgebildeten Facebookkommentar kommt das Dilemma deutlich heraus. Allerdings würde ich da eine umgekehrte Konsequenz ziehen und nicht so fatalistisch denken:
Man muss ab Geburt bildungsfernen Eltern die Notwendigkeit von Bildung mit konkreten Handlungsanweisungen und deren Überprüfung durch die U- Untersuchungen nahebringen. Dazu gehört nicht nur ein sporadischer Hebammenbesuch in den ersten Geburtswochen. Diese Familien müssen bis zur Einschulung irgendwie betreut bzw. beraten werden. Personal muss dafür gewonnen werden.

OlleSchachtel
4 Jahre zuvor
Antwortet  ysnp

ysnp: Leider sind es gerade diese Familien die häufig keine Unterstützung annehmen. Und die verpassten Chancen in dem ersten drei Lebensjahren bleiben unaufholbar. Zu den U- Untersuchungen erscheinen diese Familien häufig nicht oder unregelmäßig. Nach dem es auch noch zu wenig Ärzte in den Ämtern gibt, die die Vorschuluntersuchung machen, fallen diese Kinder erst in der ersten Klasse auf. Und das dann leider viel zu spät. Dann folgt ein ständiges Gespräche führen und oft erst in Klasse drei die Erkenntnis, dass etwas getan werden muss (gestärktes Elternrecht ist eben nicht für jedes Kind ein Segen). Es ist traurig, wie viele Kinder etwas werden könnten, wenn sie nicht bereits mit einem halben Jahr vor der Glotze geparkt werden würden oder schon im Kindergarten gewaltverherrlichende Computerspiel mit Papi spielen würden. Motorisch und sozial schwer vernachlässigt können diese Kinder kaum noch eingefangen werden mit so langweiligen Dingen wie Buchstaben schreiben.

Pälzer
4 Jahre zuvor
Antwortet  ysnp

Das wäre ein Paradigmenwechsel: nicht mehr die Kinder aus dem Einfluss der Eltern herausnehmen, sondern die Eltern stärken und bilden. Wenn’s gelingt, hat man mindestens zwei, häufiger drei bis vier Menschen geholfen.