
Ganz ruhig liegt Hündin Emmy neben der siebenjährigen Anna-Maria, die ein Buch in den Händen hält. Das rote Halstuch des Golden Retrievers verrät seine besondere Aufgabe: «Lesehund» steht dort. Das ehrenamtliche Projekt «Lesehund im Norden» will Kindern in Schleswig-Holstein und Hamburg helfen, die Hemmungen beim Vorlesen haben, weil ihnen dies nicht fehlerfrei gelingt.
Während Anna-Maria zu lesen beginnt, streichelt das Mädchen den Hund – und kommt recht flüssig voran. «Artist, Astronaut – du hast sogar die ganz schweren Wörter gut gelesen», lobt Kerstin Deters. Die 48-Jährige aus Wedel ist die Besitzerin von Emmy und eigenen Angaben zufolge derzeit in Schleswig-Holstein und Hamburg die einzige Ausbilderin für solche Lesehunde-Teams.
Früher hätten Mitschüler gelacht, wenn sie vorgelesen habe, erzählt Anna-Maria. Doch das Üben beim Lesehund habe ihr sehr geholfen. Sie fühle sich nun wohler, wenn sie vor der Klasse vorlese. Anna-Maria liest an diesem Tag bei Deters daheim, denn wegen der Corona-Pandemie läuft das Projekt in den teilnehmenden Schulen erst gerade wieder an. Auch die zehnjährige Lea ist gekommen. Sie übt mit dem zweiten Hund von Deters: dem acht Monate alten Goldendoodle Nala, der noch in der Ausbildung zum Lesehund ist. Das Mindestalter für diese Aufgabe ist nämlich ein Jahr.
«Leider haben wir die Tendenz, dass das Lesen bei Kindern und Jugendlichen nicht mehr so attraktiv ist wie noch vor 20 Jahren»
Das Mädchen wählt sich aus dem speziell zum Projekt gehörenden Material ein Buch für ihr Level aus. Inzwischen liest sie klar und flüssig – gerät nur ganz selten kurz ins Stocken. Plötzlich patscht Nala ihre Pfote auf die Buchseiten. Lea muss schmunzeln. «Die Kinder sollen Spaß am Lesen haben und der Spaß kommt allein schon mit dem Hund», sagt Deters.
Der Pisa-Test 2018, in dem es schwerpunktmäßig um die Lesekompetenz ging, hatte gezeigt: Jeder fünfte 15-Jährige in der Bundesrepublik erreicht beim Lesen nur ein sehr geringes Leistungsniveau. Das heißt, er oder sie kann mit ganz einfachen Leseanforderungen nicht umgehen. Die Pisa-Studie ist die größte internationale Schulleistungs-Vergleichsstudie.
«Leider haben wir die Tendenz, dass das Lesen bei Kindern und Jugendlichen nicht mehr so attraktiv ist wie noch vor 20 Jahren», sagt Jugendforscher Klaus Hurrelmann auf Anfrage. Bewegtbilder würden sie oft viel mehr ansprechen. «Erschwerend kommt hinzu, dass auch immer weniger von Eltern vorgelesen wird.» Bei Lese-Problemen einem Tier vorzulesen, bezeichnet der Professor als schöne Idee. Der Hund bewerte nicht, erklärt Hurrelmann. «Es zählt die Aufmerksamkeit des Hundes.»
Das erste Lesehund-Projekt in Deutschland wurde nach Angaben der Verantwortlichen 2008 gegründet. Deters las einen Artikel darüber und machte 2017 mit Emmy in München die Ausbildung. 2019 wurde sie dann selbst Ausbilderin. Doch die Corona-Pandemie bremste ihre Bemühungen, das Programm im Norden auszubauen, erst einmal aus. «Wir sind noch in der Aufbau-Phase, mehrere Teams sind dabei zu starten», sagt die Mutter von drei Kindern.
«Ich weiß als Mutter, wie schwierig es ist, das Kind zum Lesen zu bewegen»
Die gelernte Arzthelferin weiß, wie Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Lesen haben, sich fühlen. «Ich mochte als Kind auch nicht gerne lesen», erinnert sie sich. Die Freude daran sei erst gekommen, als sie ihrer Tochter als Kleinkind vorgelesen habe. Einer ihrer Söhne hatte zudem eine Lese-Rechtschreibschwäche. «Ich weiß als Mutter, wie schwierig es ist, das Kind zum Lesen zu bewegen.»
Wird ein Kind für das Lesehund-Projekt vorgeschlagen, fängt Deters erst einmal mit Texten etwas unter dem eigentlich zu erwartenden Niveau an. «Die Kinder sollen ganz schnell Erfolge haben», erklärt sie. Der Vorteil für die Jungen und Mädchen: «Die Kinder brauchen keine Angst haben, wenn sie sich verlesen», erklärt sie. Deters selbst bleibt eher im Hintergrund, greift nur selten korrigierend ein. «Wir wollen den Lesefluss der Kinder nicht unterbrechen.» Das Ehrenamt macht ihr großen Spaß: «Man bekommt so viel zurück.»
Wer mit seinem Vierbeiner ein Lesehund-Team werden möchte, muss einige Stationen durchlaufen. Ein Casting, ein Tagesworkshop und ein spezieller Hundeführerschein mit dem Namen «D.O.Q.-Test 2.0» sind Voraussetzungen. Die Lesehund-Teams sollen sich dann selbst Einrichtungen in ihrer Umgebung suchen, an denen sie tätig werden wollen. Gefördert werden laut Deters Kinder ab der zweiten Klasse. Einsatzorte müssten aber nicht unbedingt Schulen sein. Auch Büchereien oder heilpädagogische Einrichtungen seien beispielsweise möglich. Von Stephanie Lettgen, dpa
Wenn leseschwache Schüler Katzen vorlesen, haben beide Seiten etwas davon
Wie wäre es mit Eltern, die ihren Kindern regelmäßig vorlesen oder sich von den Kindern regelmäßig etwas laut vorlesen lassen? Dafür braucht es keinen Hund.
Natürlich wäre es toll, wenn Eltern für so etwas die Zeit und Geduld aufbringen würden.
Ist aber offensichtlich nicht gegeben.
Liegt es an den fehlenden Deutschkenntnissen, an der Zeit, dieses neben dem Beruf auch noch zu wuppen, am Desinteresse, an der Haltung, dass für alles, was das eigene Kind betrifft,
die Schule zuständig ist?
Immerhin sind Hunde als Eltern-/Lehrerersatz eine Alternative!
Es soll ja schon einmal eine RTL-Sendung gegeben haben, in der Kinder wie Hunde konditioniert werden sollten!
Der Unterschied zwischen Mensch und Hund ist, der Mensch bewertet das Leseverhalten des Kindes, der Hund nicht. Vor einem Hund schämt man sich nicht, wenn man etwas falsch vorliest, zu langsam, zu schnell, zu leise, falsch betont etc. Deshalb hilft es Kindern einem Tier vorzulesen und nicht einem Menschen.
Und dort, wo es Hunde in der Familie gibt, kommen Kinder dennoch eher auf die Idee der Oma oder dem Opa vorzulesen. Die sagen den Kindern dann, welche Fehler ihre Eltern früher gemacht haben und dass sie trotzdem Lesen gelernt haben, auch wenn es am Anfang nicht leicht war.
Nicht alle Großeltern können ihren Enkeln helfen, aber bestimmt recht viele. Wünschen Kinder sich nicht eher einen eigenen Hund, der Stöckchen holt und mit ihnen tobt? Da wir als Kinder nie auf die Idee gekommen wären, unseren Hunden etwas vorzulesen, unterstelle ich jetzt mal, dass die Idee nicht sonderlich kindgemäß ist. – Auch wenn sie Kinder gefällt und ich mich als Kind auch über den Kontakt zu einem “Lesehund” (sogar beschriftet wurde das Lese-Animationstier) gefreut hätte.
Für viele Kinder wäre der vertraute Kontakt zu Haustieren ein Segen – aber warum lässt man Kinder so vieles nicht mehr außerhalb von Institutionen erleben?
Hierfür vergeben wir das Hundesverdienstkreuz am Halsbande.