Der Anfang vom Ende für G8? Bürgerbeteiligung zum Gymnasium gestartet

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STUTTGART. Um die Frage, wie viele Schuljahre das Gymnasium in Baden-Württemberg dauern soll, gibt es seit Jahren Streit. Nun soll ein Bürgerforum die Lage entschärfen – und vor allem viele Fragen beantworten.

Läuft bald der Abspann? Illustration: Shutterstock

Wie lange soll das allgemeinbildende Gymnasium in Baden-Württemberg künftig dauern? Acht Jahre wie aktuell oder neun Jahre wie früher? Über diese Frage wird seit Jahren sehr emotional gestritten, seit vergangenem Jahr hat eine Elterninitiative mit einem Volksantrag zusätzlichen Druck in den Kessel gebracht. Nun setzt das Land auf eine Bürgerbeteiligung. Die ist am Montag in Stuttgart gestartet. Ein Überblick über die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie ist der Stand der Bürgerbeteiligung?

Noch ist das Verfahren ganz am Anfang. Bei einer Auftaktveranstaltung am Montag ging es zunächst um die Frage, welche Themen das spätere Bürgerforum aus zufällig ausgewählten Teilnehmern beraten soll und welche Experten ihnen Informationen geben sollen. Dazu waren am Montag gut 60 Verbände und Interessengruppen eingeladen, darunter Schüler, Eltern, Lehrer und Rektoren – aber auch Kirchen, Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Landtagsfraktionen.

Die Sitzung sei eine reine Vorbereitung für die Beratungen des Bürgerforums, das im Herbst tagen soll. «Wir werden keine Bewertungen vornehmen, sondern sammeln relevante Argumente», sagte Ulrich Arndt von der Servicestelle Bürgerbeteiligung des Landes.

Wie geht es weiter?

40 bis 60 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollen im Herbst in dem Bürgerforum über die Zukunft der Gymnasien im Land debattieren. Teilnehmen sollen nicht nur Bürgerinnen und Bürger mit Abitur, sondern auch solche mit anderen Schulabschlüssen. Sie sollen in einer Anhörung zunächst mit Experten, Verbänden und Betroffenen sprechen und dann eine Empfehlung abgeben. Geplant sind rund sechs Treffen, die vornehmlich digital stattfinden sollen.

Welche Fragen werden debattiert?

Da gehen die Meinungen der vielen Verbände und Interessengruppen doch sehr weit auseinander. So ist aus Sicht der Elterninitiative «G9 jetzt!» vor allem wichtig, die Folgen des achtjährigen Gymnasiums für die mentale Gesundheit der Kinder zu berücksichtigen, sowie die Frage, wie die Familien mit dem aus Sicht der Initiative gestiegenen Druck umgehen. Der Landesschülerbeirat hält ebenfalls die Frage, wie es den Schülern mit G8 geht, für zentral. «Es gibt durch G8 wenig Möglichkeiten, dass sich Schülerinnen und Schüler einmal ausruhen dürfen», sagte dessen Vorsitzender Berat Gürbüz.

Die Schulträger, also die Städte und Gemeinden, plädierten bei der Auftaktsitzung dafür, besonders darauf zu achten, welche Investitionen eine Rückkehr zu G9 auslösen würde. Dann müssten etwa zusätzliche Klassenzimmer geschaffen werden – und das Geld dafür fehle anderswo, merkte eine Vertreterin des Gemeindetags an.

Der Philologenverband, der viele Gymnasiallehrer vertritt, hält es für wichtig, mit G9 zusätzliche Zeiträume für etwa politische Bildung der Schüler zu schaffen. Der Berufschullehrerverband plädiert derweil dafür, im Blick zu behalten, dass es nicht unbegrenzt Lehrerinnen und Lehrer gebe, die eingestellt werden könnten und bei einer Rückkehr zu G9 möglicherweise an anderer Stelle fehlen könnten.

Auf einer sogenannten Themenlandkarte sind 14 Themenfelder mit Duzenden Unterpunkten gesammelt, die die Zufallsbürger abarbeiten sollen. Zudem können diese weitere Themen auf ihre Agenda nehmen, sollte ihnen etwas fehlen.

Warum überhaupt die Bürgerbeteiligung?

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte bei der Vorstellung der Pläne für das Bürgerforum gesagt, er erhoffe sich davon eine «breite und fundierte Debatte, die ganzheitlicher geführt wird, als das bisher der Fall ist». Aus Sicht des Kommunikationswissenschaftlers Frank Brettschneider kann die Bürgerbeteiligung auch dabei helfen, die Debatte zu befrieden – auch falls die Politik am Ende nicht den Empfehlungen der Bürger folgen sollte. «Wir sehen in unseren Forschungen, dass den meisten Menschen ein qualitativ hochwertiges Verfahren wichtiger ist als das Ergebnis», sagte der Professor der Universität Hohenheim bei der Auftaktveranstaltung am Montag.

Um mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden zu sein, müsse man sich nicht zwingend mit seiner Meinung durchsetzen. «Es ist extrem wichtig, dass man den Eindruck hat, dass das Verfahren fair war. Dann sind sogar einige bereit, zu sagen: Ich akzeptiere ein Ergebnis, das mir nicht gefällt», sagte Brettschneider.

Wer entscheidet am Ende?

Das Bürgerforum soll am Ende eine Empfehlung an die Politik abgeben, entscheiden soll die Frage nach G8 oder G9 dann der Landtag. «Es geht darum, die Politik zu beraten und Sichtweisen aus der Bevölkerung einzubeziehen», sagte Kommunikationswissenschaftler Brettschneider. Er empfehle den Abgeordneten aber, die Empfehlungen ernst zu nehmen und transparent zu machen, welche sie übernehmen wollen – und welche aus bestimmten Gründen nicht angenommen werden könnten.

Worum geht es in der Debatte?

Derzeit ist in Baden-Württemberg das achtjährige Gymnasium Standard. G9 gibt es nur noch als Modellprojekt an 44 staatlichen Schulen und an einigen Privatschulen. Eine Elterninitiative hatte im November mit der Sammlung von Unterschriften für einen Volksantrag begonnen, mit dem die Eltern die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium erreichen wollen. Die Landesregierung hatte sich Mitte Juni erstmals offen für eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium in Baden-Württemberg gezeigt. Man habe sich innerhalb der Koalition darauf geeinigt, diese Frage in einem Bürgerforum beraten zu lassen – mit offenem Ergebnis, hatte Ministerpräsident Kretschmann damals mitgeteilt. Von David Nau, dpa

Allein gegen alle: Kretschmann kämpft weiter für G8 – zunehmend aussichtslos

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Kim P
2 Jahre zuvor

Wie zufällig wird wohl die zufällige Auswahl der 40 bis 60 Bürger und Bürger*innen verlaufen?

Lehrerin
2 Jahre zuvor
Antwortet  Kim P

Ganz einfach: Am Ende muss es passen – für die Landesregierung !
39000 Unterschriften zählen nicht so viel wie Kretschmanns Meinung, obwohl die Grünen ja früher für die Beteiligung der Basis waren – aber nur, wenn es ihnen nützlich ist. Pech, wenn dieses Instrument auf einmal gegen die Meinung der Regierung verwendet wird.

Ragnar Danneskjoeld
2 Jahre zuvor

Es benötigt keine “Befriedigung” des Sachverhaltes – diese Form des Bürgerforums ist eine perfide Form der Verschleierung der unabdingbaren Tatsache, dass G8 in weiten Teilen der Elternschaft nicht gewünscht ist. Eine Rückkehr zu G9 ist für die grün-roten Gemeinschaftsschulen aber Sand ins Getriebe…Also spielt man auf Zeit.

SB HS
2 Jahre zuvor

Es gab mal eine Volksabstimmung zum Nationalpark in BaWü – das Ergebnis wurde politisch auch ignoriert.

potschemutschka
2 Jahre zuvor
Antwortet  SB HS

Der Volksentscheid in Berlin war gegen eine Bebauung des Tempelhofer Feldes.
Jetzt wird schon wieder im Senat diskutiert, ob man nicht doch einen Teil bebauen könnte, obwohl diese Freifläche enorm wichtig für die “Kühlung” der Stadt im Sommer ist.

Besorgter Bürger
2 Jahre zuvor

Erst schafft die grüne Landesregierung das Mittel des Volksantrags – um die Demokratie zu stärken.

Dann nutzen engagierte und motivierte Eltern dieses Mittel, um eine Befassung des Landtags mit diesem Thema zu erreichen.

Jetzt wird so ein komisches ausgelostes neues Gremium aus dem Hut gezaubert. Klar, dass es nur darum geht, dem Volksantrag das Wasser abzugraben. Peinlich. Was für ein peinliches Demokratieverständnis. “Wenn es läuft wie wir wollen – dann gern. Wenn dabei etwas rauskommt, was uns nicht passt – dann lieber nicht.”

Die Grünen in BW sind einfach nur peinlich. Angefangen beim Ministerpräsidenten!

Grün wählen wegen Klimaschutz – und dabei als Lehrer die verkorkste Bildungspolitik als Kröte schlucken. Das war einmal. Mittlerweile ist klar: Klimaschutz kommt gar nicht. Auto-Ministerpräsident Kretschmann hat rekordverdächtig wenig Windräder in BW bauen lassen. Dafür aber einen Kahlschlag im Bildungswesen zu verantworten.

Gelbe Tulpe
2 Jahre zuvor

Wenn man den Unterrricht auf 30 Unterrichtsstunden pro Woche und 6 pro Tag beschränken will, und mehr ist aus didaktischer Sicht nicht zielführend, dann kommt man um G9 nicht herum.

Lisa
2 Jahre zuvor

Geht es jetzt nur darum, dass G8 bequemer und billiger für die Politik ist oder was wirklich besser für die Schüler wäre! Das habe ich aus dem Artikel nicht so ganz herauslesen können.

Georg
2 Jahre zuvor

Man darf G8 gerne abschaffen, wenn das Anspruchsniveau von G9alt wieder hergestellt wird. Nach den Erfahrungen aus den anderen Bundesländern soll das Niveau bloß nicht wieder hochgesetzt werden, sondern nur G8 auf neun Jahre ausgewalzt werden. Ich warte auch noch immer auf glaubhafte und nicht ideologisch eingefärbte Schüleräußerungen, nach denen G8 wirklich zu anspruchsvoll ist. Die Ganztagsschule mit den langen Schultagen finden sie viel unangenehmer.

Mo3
2 Jahre zuvor
Antwortet  Georg

Und die Ganztagsschule wird bleiben, vielleicht mit einigen Abstrichen wegen des Lehrermangels – so ist es zumindest in NRW …

Gelbe Tulpe
2 Jahre zuvor
Antwortet  Mo3

Die armen Schüler.

Mo3
2 Jahre zuvor
Antwortet  Gelbe Tulpe

Es gab in G8 aber auch immer schon Halbtags-Gymnasien -zumindest wenn es in einer Stadt mehr als ein Gymnasium gibt.

Maja
2 Jahre zuvor

Sachsen liegt auf Platz 1 im Bildungsmonitor 2022. Dort gibt es das G8…
Vielleicht sollten sich manche betroffene Eltern mal die Frage, ob ihr Kind überhaupt auf ein Gymnasium gehört.

Egvina
2 Jahre zuvor
Antwortet  Maja

War in Ostdeutschland nicht schon immer G8 oder habe ich das falsch im Kopf? Und wenn ich das richtig im Kopf habe, was wird da anders gemacht als in den anderen BL? Warum ist es in den einen BL ein Problem und in den anderen nicht?

OttoderKleine
2 Jahre zuvor
Antwortet  Egvina

Man hatte früher in Ostdeutschland eben auch keine so hohe Abiturquote, sondern die Zahl war ganz bewusst gedeckelt. Mit den besten 10-20 % ist G8 kein Problem. Siehe auch unten, was Melissentee schreibt.

Lisa
2 Jahre zuvor
Antwortet  Maja

Der frühere Osten hat traditionell G8. Da sind die Lehrpläne auch dementsprechend. Aber in Baden- Württemberg möchte jeder Bienenzüchterverein seine Inhalte unterbringen.

OttoderKleine
2 Jahre zuvor

Ist doch gut, wenn die Zivilgesellschaft sich um sowas kümmert. Die Entscheidung für G8 in BaWü war ja wohl einigermaßen undurchsichtig verlaufen. Wer war eigentlich dafür?

Melissentee
2 Jahre zuvor

G8 wurde als Modellversuch für besonders leistungsstarke SuS eingeführt. Die Initiatoren selbst sagten, dass die Verkürzung nur für ca. 20% eines Jahres gut machbar wäre. Diese Kinder haben sogar davon profitiert. G8 neben G9 als akzelerierende Maßnahmen macht Sinn.
Wenn man aber bedenkt, dass immer mehr Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium schicken, ohne dass sie die Voraussetzungen haben, dann ist klar, dass sie überfordert sind. Diese Eltern machen sich dann lauthals für Erleichterungen stark, die schwachen Kinder bremsen das zügige voranschreiten, das konzeptionell eigentlich vorgesehen war, und das Niveau sinkt.

Georg
2 Jahre zuvor
Antwortet  Melissentee

Solange die Abiturquote hoch genug und die Durchschnittsnoten gut genug sind, ist alles in Ordnung.

dickebank
2 Jahre zuvor
Antwortet  Melissentee

Deshalb gibt es in NRW ja auch den FOR-QQ als SekI-Abschluss, der das Überspringen der Einführungsphase (Jhg. 11) ermöglicht.